Allah ist mit den Wählern
Es ist eine Legende des Westens, dass der Islam sich nicht mit Demokratie verträgt. Aber freier Volkswille allein macht aus dem Irak noch keinen modernen Staat
Demokratie wird dem Irak und der gesamten nahöstlichen Region von der siegreichen "Koalition der Willigen" empfohlen. Deren Ziele und das von ihr bisher Erreichte werden unterschiedlich beurteilt. Was aber sollte an dieser Empfehlung zu beanstanden sein? Vielleicht noch einmal die evangelikale Unschuld, mit der das Wort Demokratie von den selbstbewussten Herren der neuen Ordnung im Mund geführt wird? Als hätte es auf die schwierigen Fragen, die es aufwirft, auch schon die Antwort bereit.
Es handelt sich um ein geduldiges Wort. Von Lenin bis zu Donald Rumsfeld hat es viele Auslegungen ertragen. Hatten sich zur Zeit des Kalten Kriegs die rivalisierenden Systeme in Ost und West noch beide in der Nachfolge der großen bürgerlichen Revolution gesehen und sich unter dem Titel "Demokratie" deren Erbe republikanischer Volkssouveränität streitig gemacht, so bezeichnet das Wort seit dem Fall der Mauer und Francis Fukuyamas Ende der Geschichte den kleinsten gemeinsamen Nenner einer politischen correctness, die nur noch einige hermetische Königreiche und andere Emirate ausspart, ansonsten aber ohne Ansehen weiterer Unterschiede von Kinshasa über Addis Abeba bis nach Peking und Pjöngjang für das alle einende Credo der Menschheit einsteht.
Gewählte Gewaltherrschaft In der angelsächsischen Diskussion zum Stichwort "Demokratie" wurde in den letzten Jahren allerdings doch ein gewisses Unbehagen spürbar. The Rise of Illiberal Democracy, lautete 1997 in der Zeitschrift Foreign Affairs der Titel eines Artikels von Fareed Zakaria, Chefredakteur von Newsweek International. Aus aktuellem Anlass, am Beispiel von Milocevics Rumpf-Jugoslawien, war etwas eigentlich recht gut Bekanntes erneut aufgefallen, dass nämlich selbst in Demokratien, wo Wahlen den Mehrheitswillen einigermaßen spiegeln, dieser Letztere weder automatisch liberal gesinnt noch dem Rechtsstaat verpflichtet ist, mithin also keine optimale Förderung des Gemeinwohls verspricht. Hatte nicht schon Aristoteles in seiner Typologie der Herrschaftsformen der Volksherrschaft einen ihr innewohnenden Hang nachgesagt, zur "vielköpfigen Gewaltherrschaft" zu verkommen?
Ostasien kennt vom Volk gewählte autoritäre Regierungen wie in Singapur und Malaysia, wo die Autokratie durch "asiatische Werte" legitimiert wird, und beinahe das ganze Afrika südlich der Sahara hält Wahlen ab (an allenthalben importierten Urnen), ohne dass deshalb die Macht der Regierungen einer wirksamen Kontrolle unterläge. Arabien aber und der Vordere Orient? Republiken, verfasste Volksherrschaften, wohin der Blick fällt - entlang der Mittelmeersüdküste von Oran bis nach Sues und genauso auf asiatischem Boden von Basra bis zum Bosporus. Dieses nachkoloniale Staatsmodell ist weder orientalischer noch mittelalterlicher Herkunft, sondern steht im Gegenteil für eine westliche Moderne, die darin gewiss nicht nur durch die arabischen Adaptationsversuche aufs Gründlichste versagt hat. Dass nicht eine Eigenkreation alle diese Länder in die Sackgasse geführt und einzig eine fundamentalistische Opposition übrig gelassen hat, darf in der nachkolonialen mittelöstlichen Geschichte nicht ganz ignoriert werden.
Wenn die arabischen Republiken - zusammen mit anderen Staaten im Mittleren Osten - in der Gegenwart dennoch einen Spezialfall bilden, dann in manchem Fall nur durch die eiserne Härte der Regime, im Unterschied etwa zu einem weniger ordentlichen Staatsversagen nach nigerianischem oder lateinamerikanischem Muster. Nicht überall in der islamischen, aber in der arabischen Welt ist ein Rückzug aus dem höchsten Staatsamt ohne Blutvergießen noch immer ein utopisches Projekt. Was im Weiteren diese Weltgegend angeblich so gestochen scharf herausheben und diesmal mitsamt der übrigen islamischen Welt dem Westen und dem Rest der Welt gegenüberstellen soll, ist eine durch nichts zu erschütternde Legende westlicher Urheberschaft: In der islamischen Welt, heißt es, soll der Demokratie kein irdisches Hindernis, dafür aber Allah selber im Wege stehen, dessen ureigenem Schwert dann also auch der panarabische Militarismus zur Last zu legen wäre. Politische Autorität komme, man wundert sich, entweder vom Volk oder von Gott, schreibt der amerikanische Politologe Adam Garfinkle, Chefredakteur der in konservativen Kreisen hoch angesehenen Zeitschrift The National Interest. Der "islamischen Zivilisation", so liest man da, "ist die Vorstellung von der Gesellschaft als politischem Souverän fremd." Und aus ebendiesem Grund: "Es wird keine arabische Demokratie geben, aber die Amerikaner werden trotzdem ungeahnte Empörung ernten, weil sie es versucht haben."
Zu behaupten, dass der Islam mit der Idee der Volkssouveränität nicht verträglich sei, ist grober Unfug. Das ist mit allem Nachdruck festzuhalten; und zwar nicht, weil diese Frage zum gegenwärtigen Zeitpunkt im Zentrum der irakischen Tagesordnung stünde. Aber aus dieser heillos verzerrten Wahrnehmung des Verhältnisses von Religion und Politik erwächst die Schreckensvision eines "Zusammenpralls der Zivilisationen" ? dieses böse Wetterleuchten über dem Horizont der jüngsten west-östlichen Konfliktrunde, in der davon, wie sie hüben und drüben wahrgenommen wird, ungemütlich viel abhängt und weiterhin abhängen wird.
Deshalb kann gar nicht deutlich genug gesagt werden: Nirgendwo in der arabischen Welt gibt es einen Staat mit politischer Gottessouveränität; ja, mehr noch: Es gab ihn nie! Die Autorität und Legitimation der Staatsmacht, die selbstverständlich weder je vom Volk noch je von Gott kam, war stets eine weltliche, nämlich traditionale, dynastische. In Familien wie den Mubaraks, Assads und Husseins aus Tikrit ist das in letzter Zeit wieder zum Quell der Inspiration geworden, obschon Wahlen auch in Ägypten, Syrien und im Irak nicht unbekannt sind. In den arabischen Staaten ohne Volkssouveränität kommt die Autorität der politischen Oberhäupter ebenso wenig von Gott, selbst wenn diese zugleich ein hohes oder gar das höchste religiöse Amt im Staate innehaben. Der saudi-arabische Monarch als "Beschützer der zwei heiligen Stätten" und Marokkos König, der zugleich "Beherrscher der Gläubigen" ist, bekleiden ihre beiden Ämter in Personalunion: Der Kaiser ist gewissermaßen gerne zugleich Papst, jedoch keinesfalls, um sich vom Papst in sein weltliches Amt einsetzen zu lassen (obschon der Papst ihn salben soll wie Pius VII. Napoleon, den neuen erblichen Herrscher der Franzosen).
So war schon das Kalifat ein weltliches und weltlich legitimiertes Staatswesen, und mit den Ulemas, den Geistesgelehrten, hielt der Kalif Rat, weil er sie besser nicht gegen sich hatte (und sie ihn noch weniger). Das blieb das Modell in der gesamten islamischen Welt bis zum Zusammenbruch des Osmanischen Reichs im Ersten Weltkrieg. Nur in der christlichen Welt war zeitweilig nicht ganz klar, wo die Macht lag und ob das höchste geistliche Amt sich auf das höchste weltliche stützte oder umgekehrt (Heinrichs IV. Gang nach Canossa ist noch im Lehrplan). In der islamischen Welt dagegen ist die Islamische Republik Iran, der persische Gottesstaat, bis heute ein Unikum, falls man Mullah Omar und das "Emirat Afghanistan" der Taliban einmal vergessen darf.
Gewiss ist es verdienstvoll, ein Wort wie "Demokratie" nicht ohne Einspruch seinen Feinden zu überlassen und es hochzuhalten. Bloß trägt es für sich allein wenig bei zur näheren Bezeichnung dessen, worum es heute geht, wenn dem Irak und anderen arabischen Staaten eine neue Herrschaftsform empfohlen wird. Das wäre nicht unbedingt an erster Stelle eine Volkswahl, sondern ein moderner Staat, der sich von dem Stalins, Hitlers und Maos unterscheidet. Für eine solche Einrichtung, die gewiss eine festgeschriebene repräsentative Beteiligung der Regierten, des Volkes, an der Regierung vorsieht, stehen wichtige Errungenschaften wie Gewaltentrennung, gewöhnlichenfalls eine Verfassung, die die bekannten Grundrechte und Bürgerfreiheiten garantiert, und eine unabhängige Justiz. Dieser moderne Staat kennt ein Gesetz, das die Exekutive weder selbst erlässt noch eigenhändig durchsetzt. Im Orient aber steht die Regierungsgewalt selbst noch im besten, fortschrittlichsten Fall über dem Gesetz, wie Louis XIV.
In Europas neuzeitlicher Geschichte geht der Rechtsstaat dem allgemeinen Wahlrecht um Jahrhunderte voraus. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts, im Rückblick auf die britische Glorious Revolution von 1688, nahm er Gestalt an bei Montesquieu, von dem übrigens, um vom Thema nur für einen Augenblick abzuweichen, bereits die bisher reifste Regel aufgeklärter Außenpolitik stammt: "Die verschiedenen Nationen sollen einander in Friedenszeiten so viel Gutes tun wie möglich, dagegen im Krieg so wenig Übles wie möglich, ohne ihren wahren Interessen zu schaden."
Auch der Islam hat einem beträchtlichen Teil der Erdbevölkerung eine Rechtsordnung gebracht und müsste mit dieser Leistung den größeren historischen Vergleich mit der christlichen Welt eigentlich nicht scheuen. In der arabischen Welt der Gegenwart ist allerdings die unabhängige gesetzgebende Gewalt namens Parlament in der Vorschule stecken geblieben, wo sie es nicht etwa in den Republiken am weitesten gebracht hat, sondern in Monarchien wie Jordanien und Marokko; dort ist von Demokratie in unserem westlichen Sinn des Wortes noch am meisten anzutreffen. Dabei ist wiederum nicht die Frage die vordringlichste, ob die Repräsentanten frei und fair gewählt sind, sondern ob sie frei von permanenter Gängelung ihres Amtes walten dürfen.
Im übrigen tritt ein Staat, ob demokratisch oder weniger, zunächst und zumeist als Verwaltung in Erscheinung und steht, wenn diese nichts verrichtet und vollbringt, dem Volk als Feind gegenüber, sodass dieses den Müll auf der Straße liegen lässt.
Nur mit einem, entgegen unserem unheilbaren Glauben im Westen, hat das alles herzlich wenig zu tun: mit Religion ? und noch weniger mit Gott. Wie alle Bewohner des Planeten erfahren müssen, ohne Ausnahme, wenn auch nicht überall gleichermaßen schmerzlich, hat Gott sich nie und nirgends zum Regieren hergegeben, und nur das erlaubt religiösen Fundamentalisten, zwar nach ihren eigenen Rezepten, aber doch in seinem Namen, sich der Wunden anzunehmen, die die staatliche Misswirtschaft in die Gesellschaft schlägt. Was der ihrerseits irdischen Herrschaft der Mullahs Schutz gewährt und Zulauf sichert, ist wiederum nur die Macht einer Tradition: nicht das heilige Buch und seine Offenbarung, sondern die mit Händen zu greifende, steingewordene Religion, die in Kuppeln und Minaretten zum Himmel ragt und dem Orient ein bärtiges Gesicht aufsetzt, das ihn wenigstens sichtbar von anderen Weltgegenden unterscheidet.
Religion und Staat sind getrennt Die Diagnose aber einer Unverträglichkeit von Islam und Demokratie im Sinne eines freiheitlichen Rechtsstaats ist ein Angriff auf den Islam von zwei Seiten her - und man kennt auch diese unheilige Allianz allmählich: Da ist auf der einen Seite der westliche Bescheid, dass nur Christen Menschenrechte achten und in einer menschenfreundlichen Staats- und Gesellschaftsordnung leben können - was einen kulturellen Superioritätskomplex verrät, wenn nicht glattweg Rassismus. Auf der anderen Seite, in Kreisen eines reaktionären muslimischen Establishments einschließlich seiner aus dem Ruder laufenden Extremisten, schärft in der Moschee der religiöse Hirte mit demselben Unvereinbarkeitsbefund der Herde ein, Freiheit, Menschenrecht und Demokratie seien des Teufels und großen Satans namens Westen und westliche Moderne. (Und deshalb, so kann man aus dem Verdikt, wo immer es herkommt, wohl nur schließen, können rechtgläubige Muslime weiterhin nur unter Despoten leben, die desto ungestrafter sündigen.)
Was der politischen Modernisierung im Mittleren Osten aber tatsächlich im Wege steht, ist die autoritäre Herrschaftstradition, die eine erzpatriarchalische Gesellschaftsordnung scheinbar organisch überwölbt. Im Irak muss zudem das Projekt Demokratie mit fünf Millionen Angehörigen einer Partei mit Namen Baath rechnen (was übrigens "Renaissance" heißt, und gegründet wurde die Partei von dem syrischen Christen Michel Aflaq, der in den dreißiger Jahren in Paris studierte, zwanzig Jahre vor Pol Pot). Mag sein, dass der moderne totalitäre Staatsapparat des Iraks der Entstehung einer politisch partizipierenden Zivilgesellschaft weniger Hindernisse in den Weg legt als etwa eine vom Ölreichtum verfettete Staatskirche saudischer Wahhabiten oder "Unitarier".
h3>Pluralismus ist das Problem Doch das Erbe einiger Jahrzehnte der Denunziationskultur, an der wenigstens die Hälfte der erwachsenen Bevölkerung Anteil hatte, steigt als Schreckensvision aus den geöffneten Folterkellern: der Anbruch einer Ära kapitaler Straflosigkeit, die Zehntausenden von politischen Schwerverbrechern einen nicht nur unbehelligten, sondern obendrein noch privilegierten Neubeginn verspricht und gewähren wird. Dagegen haben baldige Wahlen allein kein Rezept zu bieten, und ein Experte für Vergangenheitsbewältigung wie Timothy Garton Ash gibt mit gutem Grund der Frage Priorität, wie der Irak in näherer Zukunft die erdrückede Hypothek des beinahe von der gesamten Bevölkerung erlittenen mörderischen Unrechts angehen wird.
Fest steht im Weiteren, dass auch für die Länder des Mittleren Ostens der politische Schlüssel weiterhin nur Modernisierung heißen und diese nur mit der Öffnung zur Welt hin einsetzen kann, was im Falle des Iraks wiederum nicht so utopisch klingen muss wie bei den südlichen Nachbarn in der großen arabischen Wüste. Die parlamentarische Demokratie westlichen Zuschnitts setzt eine Pluralität politischer Kräfte voraus, die, wenn sie konstruktiv rivalisieren sollen, nicht rein ethnisch, regional oder konfessionell definiert sein dürfen. Was für Kräfte können das im Irak sein, und welche Rolle spielt die unentbehrliche Opposition? In Entwicklungsländern muss es nämlich sämtlichen Parteien in allererster Linie um einen greifbaren Anteil an der Macht gehen, und Wahlverlierer laufen deshalb regelmäßig möglichst rasch zum Sieger über, wenn sie nicht in der Bedeutungslosigkeit versinken wollen.
Die Konditionen, woran Geberländer ihre Finanzhilfe und Entwicklungszusammenarbeit knüpfen und die in Washington eben democracy und good governance heißen, fordern nebst einer Buchführung, die den IWF zufriedenstellen soll, gewöhnlich nicht mehr als einen halbwegs passablen Urnengang. Was die Empfehlung "Demokratie" angeht, so wäre das Augenmerk endlich auf die Verfassung zu richten, und zwar nicht nur auf die Unabhängigkeit von Gesetzgebung und Rechtspflege, sondern vordringlich auf Prinzipien von Dezentralisierung, Föderalismus und Subsidiarität. Sonst steht zu befürchten, dass wieder einmal ein großes Wort die Probleme zuzuschütten hat, die jenen, die es ständig im Mund führen, zu unbequem, zu aufreibend und zu kostspielig sind.