Wer sind die Perser?

Es war einmal Persien. Ein Imperium von sagenhafter Größe, in dem die Zukunft aller Menschen zu Hause war. Heute sind die Iraner bedauernswert mit sich allein und verstehen sich umso entschiedener als die Hüter einer überragenden Kultur. Vom Weltreich zum Politbüro der Mullahs.

Von Georg Brunold, Die Weltwoch, 09.03.2006

Wenn Dareios der Große und sein Sohn Xerxes in den Perserkriegen gegen die Griechen nicht zweimal in Folge vernichtende Niederlagen erlitten hätten, so sagen einige, dann hätten wir nicht nur einige unentbehrliche persische Wörter wie «Paradies» und «Kiosk» in unserem deutschen Wortschatz. Hätte das Schlachtenglück nur einmal, 490 bei Marathon oder 480 bei Salamis, die weltgeschichtlichen Weichen anders gestellt, dann wären wir heute alle Perser, und Europa existierte nicht einmal dem Namen nach. Die Perser – so überschrieben ist jedenfalls schon das allererste erhaltene Bühnenstück der europäischen Literatur, verfasst von Aischylos, uraufgeführt 472 v. Chr. in Athen und für Reclams Universalbibliothek (2.60 Euro) ins Deutsche übertragen vom Schweizer Germanisten Emil Staiger in Zürich: Wir sind mit dem Thema in guter Gesellschaft.

Viele Völker, nur ein Gott
«Die Perser sind es, die am meisten von allen fremde Bräuche bei sich dulden», so der erste schriftliche Augenzeugenbericht, den Herodot um die Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. aus dem Reich der Achämeniden-Könige zurückbringt. «Sie halten die medische Kleidung für schöner als ihre eigene und tragen sie deshalb. Im Kriege legen sie den ägyptischen Brustpanzer an. Alle Vergnügungen und Genüsse, die sie kennen lernen, führen sie bei sich ein.» Der griechische Stammvater der westlichen Historikerzunft ist nicht der einzige Gast am Hof der Perser, wo die Mitwirkung griechischer Architekten und Bildhauer hochwillkommen ist. Perser haben gerne das Beste von allem (bis hin zu den Waffen). Herodot, der sich sogleich der orientalischen Festtafel annimmt, fällt nebst der reichen Folge süßer Nachspeisen das Getränk ins Auge: «Wein lieben sie sehr.» Die Weintraube, die Persiens Dichter besingen werden, ist das edelste Kind der Sonne, in der die Perser Gottes Thron zu erblicken glauben. Heute lässt sich die Islamische Republik Iran ein nettes Scherflein Steuern entgehen, was gewissen Beamten sehr zustatten kommen muss: In jedem zweiten Teheraner Haushalt, der es sich leisten kann, werden regelmäßig alkoholische Getränke genossen.

Herodot beschreibt Sitten und Brauchtum eines Reichs, das soeben als die erste Weltmacht in die Menschheitsgeschichte eingegangen ist und bei den Griechen, für die er schreibt, nicht nur gefürchtet wird, sondern hohes Ansehen genießt. Bei Bisotun an der großen Transitstraße von Babylon nach Ekbatana (im heutigen westlichen Iran) hält es ein Felsen fest sichtbar rings im Erdenrund und in solch majestätischer Höhe, dass es von Herodot bis heute kein Mensch von bloßem Auge lesen kann: «Ich bin Dareios, der große König, König der Könige, König in Persien, König der Länder.» Die Länder, regiert von Satrapen, verteilen sich auf die drei Kontinente Asien, Afrika, Europa, und ihre Zahl beträgt 23. Ein Vielvölkerstaat wahrhaftig, der die Lektion des Turmbaus von Babel und der babylonischen Sprachverwirrung bereits glücklich verdaut haben muss. Noch für den heutigen Iran führt das Sprachenlexikon Ethnologue 75 lebende Sprachen auf (www.ethnologue.com). Das Reich, das unter Dareios (522486 v. Chr.) seine größte Ausdehnung erreicht, erstreckt sich vom Indus bis nach Libyen und über den Bosporus bis nach Saloniki, zu den Südausläufern der Karpaten und zur Donau-Mündung.

Für 23 Länder nur ein König und noch erstaunlicher zu dieser Zeit nur ein Gott. Genaueres über ihn, der Ahura Mazda heißt, erfahren wir bei Persepolis, der spirituellen Reichshauptstadt im achämenidischen Stammland Parsa, von den Griechen Persis genannt (heute die Provinz Fars mit Hauptstadt Schiras). Politische Hauptstadt des Reichs ist Susa (nahe der irakischen Grenze der heutigen Provinz Khusistan). Bei den Felsengräbern von Naksch-e Rostam nahe Persepolis lässt Dareios selber seine Grabinschrift in die hohen Klippen meißeln, wo neben ihm seine drei Nachfolger (Xerxes I., Artaxerxes I. und Dareios II.) ihre letzte Ruhe finden werden: «Der große Gott ist Ahura Mazda, der diese Erde geschaffen hat, der jenen Himmel geschaffen hat, der den Menschen geschaffen hat, der die Freude geschaffen hat für den Menschen, der Dareios zum König gemacht hat.»

In Persiens an Aufstieg und Niedergang reicher Geschichte kehrt ein Motiv in unterschiedlicher Form, aber um nichts weniger beharrlich wieder: das Gottesgnadentum, das die absolut herrschenden Landesväter von Dareios bis zu Chomeini für sich reklamieren. In achämenidischen Zeiten war der Anspruch Ausdruck eines aufklärerisch zukunftweisenden Impulses, gerichtet gegen Vielgötterei, und das heißt gegen den dunklen Aberglauben und Zauber eines parasitären Priestertums. Heute lässt sich dasselbe nicht mehr behaupten, und schon das Etikett des Gottesstaates oder der Theokratie, das unsere Medien dem Iran unwiderruflich aufgeklebt haben, ist eine Gefälligkeit an die Mullahs, die diese nicht verdienen. Die iranische Revolution hat zwar fraglos den ihr eigenen Staat und seine Institutionen hervorgebracht. Aber das moderne Verhältnis zwischen Staat und Religion, nämlich den politischen Vorrang der politischen Macht über die spirituelle Autorität, hätte sie kaum deutlicher zutage fördern können. 1979 verlässt Mohammed Reza Schah-in-Schah Pahlevi, bis auf weiteres letzter persischer König der Könige, ein Land, in dem es tatsächlich seit gut zweihundert Jahren ein hochorganisiertes Establishment religiöser Autoritäten gibt. Dass mit Ajatollah Chomeini die Führungsgarde des iranischen Gottesgelehrtentums die Macht im Staat übernommen haben soll, ist allerdings eine Legende der westlichen Medien, die zwar durch nichts zu korrigieren, aber um nichts weniger irrig ist.

Velayat-e faqih
Chomeini rekrutiert wohl einen Teil seines Personals aus dem Klerus, jedoch immer aus den mittleren Rängen, wie die Hodschatoleslams Chamenei und Rafsandschani, Ajatollahs niedrigeren Ranges wie Behesti, den Blutrichter Chalchali und andere. Männer seines eigenen Ranges dagegen wie die Großajatollahs Taleghani oder Montazeri und andere stellt er ohne Ausnahme kalt. Der revidierten Verfassung von 1989 zufolge hat der höchste politische Führer im Staat weder aus dem Kreis der höchsten religiösen Autoritäten zu stammen, noch von diesen ernannt zu sein. Sie brauchen bei seiner Auswahl nicht einmal konsultiert zu werden. Schon ein Jahr zuvor hat Chomeini in einem Brief an den damaligen Präsidenten Ali Chamenei die politische Führung in aller Ausdrücklichkeit über das islamische Gesetz der Scharia gestellt, das juristische Fundament eines islamischen Gottesstaates. Die Idee, die den Höchsten Führer von aller politischen Rechenschaftspflicht befreit, ist die sogenannte velayat-e faqih, die Aufsicht des Rechtsgelehrten. Sie entspricht dem westlichen juristischen Konzept der Vormundschaft, welcher im gegenwärtigen Iran die gesamte Nation unterstellt ist.

Wie bei allen Religionen hätte auch im Islam die politische Ermächtigung religiöser Autoritäten die Einschränkung der Macht des weltlichen Potentaten zu bedeuten. Für gegenwärtige Islamisten dagegen von Pakistan bis Algerien ist Islam interessanterweise ein Wort für das genaue Gegenteil: für die radikale Entmachtung der Tradition, welche die Substanz der Religion ausmacht und ihr bis anhin Geltung verliehen hat. Die Religion wird dadurch Manövriermasse der Willkür eines total ermächtigten Revolutionärs, der nunmehr alle politischen Gewalten auf sich vereint. So ist die beschworene Souveränität Gottes in Iran ein Hohn, und das Experiment der Islamischen Republik wird den Islam auf Generationen hinaus desto tiefer kompromittieren, je länger es sich hindehnt. In Iran herrscht keinerlei Islam, sondern Chomeinismus, und nur die Terminologie kaschiert den Umstand, dass dieser die Kopie eines früheren Moskauer Vorbilds ist: Der diktatorisch herrschende Wächterrat unter dem Höchsten Führer Chamenei entspricht dem kommunistischen Politbüro, und Rafsandschanis Versammlung der Experten als Mittlergremium zwischen dem Wächterrat und dem Parlament ist das Zentralkomitee, das dem Politbüro zudient. Präsident, Ministerrat und Parlament, die Exekutive und die Legislative, sind Vollzugsorgane ohne Macht. Dagegen hat alle Macht Allahs im gegenwärtigen Iran bisher leider keine Abhilfe gebracht.

Land der Arier
Der altpersische Hochgott des Dareios ist ein guter Gott. Zwar hat Ahura Mazda wie die Menschen gegen Widersacher zu kämpfen, gegen das Böse, das er selber in die Welt gebracht hat als Voraussetzung und Preis der menschlichen Wahlfreiheit. Aber das Gute wird mit ihm die Oberhand behalten, und ebenso hat er es unter den Menschen eingerichtet, sofern diese sich für das Gute entscheiden. An Dareios soll es nicht liegen: «Nach dem Willen Ahura Mazdas bin ich so geartet, dass ich das Recht liebe, das Unrecht hasse», zitiert ihn seine Grabinschrift. «Halte nicht das für vortrefflich, was der Mächtige tut; was der Schwache leistet, das beachte vielmehr!» Um 500 v. Chr. klingen solche Maximen des Dareios revolutionär, und ein halbes Jahrtausend vor der Ankunft des Erlösers muten sie doch schon christlich an. Tatsächlich sind einige Kernmotive der christlichen Verkündigung nicht alttestamentarischen und damit semitischen, sondern persischen Ursprungs, darunter der Erlösermythos: der Mythos eines vom Himmel gesandten Boten, der in die Welt herunterkommt, sich für die Menschen opfert, wieder zum Himmel aufsteigt und diesen zugleich seinen Anhängern öffnet. Persisch ist zudem die Lehre von der Auferstehung des Leibs, persisch sind auch allerhand mehr dekorative Elemente, Details etwa der christlichen Weihnachtsgeschichte. Woher aber kommt Ahura Mazda an die Felswand von Bisotun und nach Persepolis?

Die Frage trifft ins Innerste des persischen Nationalbewusstseins, vor allem seit Sprach- und Religionswissenschaftler alle Zweifel beseitigt haben: Natürlich kann Ahura Mazda nur dem Pantheon der berühmten Indoeuropäer entstammen! Jenem Götterhimmel des Deus (lateinisch) = Zeus (griechisch) = Dyaus (Sanskrit), der sich von den keltischen Druiden über die Goten, Etrusker, Griechen, Hethiter und Perser bis zum Karakorum-Gebirge wölbt. Und wie wir gehören die Perser zu jener zukunftsträchtigen patriarchalischen Völkerschaft von nebenbei auch Viehzucht treibenden Ackerbauern, die ungefähr ab 3500 aus ihren Stammgebieten nördlich des Schwarzen Meers sowohl in westlicher Richtung als auch nach Südosten über den Kaukasus vordringt. Verwandtschaftsverhältnisse im Wortschatz für Tiere und Bäume Wolf, Bär, Gans, Biene, Birke, Buche, Eiche, Weiche erlauben nach Jahrtausenden noch die Bestimmung der gemeinsamen Urheimat. Die indoiranischen Stämme der Indoeuropäer bezeichnen ihre Angehörigen als airya, «Edle». Herodot nennt sie arioi, und aus der altindischen Gelehrtensprache Sanskrit ist das gleichbedeutende arya bekannt; die davon abgeleiteten deutschen Vokabeln machen erst im 19. Jahrhundert Karriere: zunächst bei Sprachwissenschaftlern die arische Sprache, dann unter Rassenkundlern der Arier. Iran, offizieller Name des Landes seit 1935, kommt von Airya-an und heißt so viel wie «Land der Arier».

Vorchristlicher Mutterschutz
Ahura Mazda aber, verehrt schon Jahrhunderte vor den Achämeniden, wird unter der Herrschaft des Dareios zum einzigen Gott. Mit seinem Monotheismus folgt der König der Könige dem Propheten Zarathustra, der seine Botschaft vielleicht hundert Jahre zuvor unter die Leute gebracht hat.

Zoroastrismus, Parsismus oder auch Mazdaismus nennt man die Religion des legendären Zarathustra, ihre Anhänger Parsen oder Zoroastrier. Im 9. Jahrhundert wird der persische Historiker al-Tabari erklären, das religiöse Schrifttum der Parsen fülle 12000 Kuhhäute, und Hermippos von Smyrna, ein Schüler des Aristoteles, behauptet schon im 3. Jahrhundert v. Chr., Zarathustra habe zwei Millionen Verse gedichtet. Lange und sehnlich wartet die westliche Gelehrtenwelt auf nähere Aufschlüsse, bis schließlich 1771 die drei Bände Zend-Avesta, Ouvrage de Zoroastre erscheinen. Siebzehn Jahre zuvor hat sich der 23-jährige Abraham Hyacinthe Anquetil-Duperron im Dienste der Compagnie française des Indes orientales auf den Weg gemacht und viel Zeit bei den in Indien und im heutigen Pakistan versprengten Parsengemeinschaften zugebracht. Der Rückkehrer begründet die europäische Iranistik mit einem Opus, das als herbe Enttäuschung aufgenommen wird. Eine «verrückt-monstrose Religion», so trotz viel Sympathie Goethe in seinem West-Östlichen Diwan. Voltaire über Anquetil-Duperrons Sammlung von Bruchstücken: «ein abscheulicher Wust».

Avesta bedeutet so viel wie «Überlieferung», die sich jedoch über zwei Jahrtausende mündlich vollzogen hat. Das älteste bis heute bekannte Textstück stammt von 1278, die wichtigsten Texte aus dem 16. und 17. Jahrhundert: ein Formelbuch für die liturgischen Litaneien der Parsenpriester. Irgendwo dazwischen die sechzehneinhalb Gesänge der sogenannten Gathas, der Zarathustra selber zugeschriebene älteste Teil. Seine Botschaften sind durchaus politisch und im Iran der Gegenwart hochaktuell: «Wann werden meine Freunde erscheinen, den Glauben zu verbreiten, oh Mazda? Wann werden sie die verderbte Masse der Lüge und Gier in dieser Welt zerschmettern? Das Werkzeug, mit dem die verschlagenen Priester die Menschen blenden und die übelwollenden Fürsten ganze Länder knechten?» Beinahe jeder Gesang geißelt korrupte Tempeldiener und die weltliche Tyrannenherrschaft, in deren Dienst sie stehen.

Eine parsische Staatskirche ist aus Zarathustras Verkündung nie geworden. Die Beziehungen zwischen Thron und Altar bleiben wechselhaft wie die persische Geschichte. Maßgebend bleibt das Exempel von Fortschritt und imperialer Blüte, das tausend Jahre zuvor Dareios mit der Weltoffenheit und multikulturellen Toleranz in Susa und Persepolis gegeben hat. Iraner wissen sich bis heute als Erben einer der großen eurasischen Hochkulturen, tonangebend in mehreren Epochen für Jahrhunderte, bahnbrechend in ihrer Ausstrahlung auf Ost und West.

Home-made, hochmodern und seither unerreicht sind die Verhältnisse im Achämeniden-Reich zudem, was die Situation der Frau angeht. Noch der Schah wird dieses Erbe anrufen, als er 1962 gegen den erbitterten Widerstand aus dem islamischen Klerus den Frauen das aktive und passive Wahlrecht gibt. Im revidierten Familiengesetz von 1967 erschwert er die Scheidung für den Mann, erleichtert sie für die Frau und gibt ihr die Möglichkeit, das Sorgerecht für ihre Kinder auszuüben. Unter Dareios ist die Frau freie Rechtsperson, die Prozesse führen kann. Sie verfügt über eigenen Grundbesitz und kann sich scheiden lassen, ohne dadurch ihr Eigentum zu verlieren. In den Textilmanufakturen, im Fein- und Kunsthandwerk, wo Frauen und Männer gleiche Arbeit verrichten, wird diese gleich bezahlt. Bei Geburt eines Kindes erhalten die Frauen eine Kinderzulage und einen halbjährigen Mutterschaftsurlaub.

«Die nächsten Nachbarn», berichtet Herodot, «genießen nach ihnen selber das größte Ansehen von allen; dann kommen die entfernteren. Danach ehren sie die anderen, schrittweise abwärts. Am wenigsten gelten ihnen die Völker, die am entferntesten wohnen. Sie sind eben der Überzeugung, sie selbst seien die weitaus besten von allen Menschen, die anderen hielten es entsprechend ihrer Entfernung mit der Tüchtigkeit, die von ihnen fernsten aber seien die geringsten.» Wie sich die Verhältnisse ändern, ja verkehren können! Was für Nachbarn haben sie doch heute! Sind ihnen nicht die nächsten die geringsten und fernsten? Man denke doch, Araber! Welch kaum zu glaubende Fügung dieses Zufallsspiels namens Geografie. Und dann im Kaukasus und in Zentralasien diese eben noch versklavten Vorposten der Sowjetrussen leben diese ehemals nomadischen Horden nicht wieder in Khanaten wie zur Mongolenzeit? Wie? An Iran soll ein Land wie Afghanistan grenzen?! Und zu dieser Stunde sollen sich Flüchtlinge von dort im Land aufhalten!

Da ist kein Zweifel möglich: Auf diesem Planeten das abgelegenste aller Länder ist Iran, umgeben und eingeschlossen von eigentlichen Gespensterwelten. Nichts aber ist begehrter als Kontakt mit Gästen aus der Ferne, vielleicht gar mit «Ariern»!

Es muss damit zusammenhängen, dass die einst führende Macht zwischen dem östlichen Mittelmeer und China in die Defensive geraten ist. 331 v. Chr. bricht Alexander der Große in Mesopotamien ein und brennt im folgenden Jahr Persepolis nieder. Die mazedonisch- griechische Fremdherrschaft dauert keine hundert Jahre. Im Westen, in Mesopotamien und Armenien, wird Persien sich für einige Jahrhunderte mit den Römern zu schlagen haben. 260 n. Chr. gerät der römische Kaiser Valerian mit einer Streitmacht von 70000 Mann in die Gefangenschaft Schapurs I., wo er stirbt in der Wahrnehmung Roms ein unvorstellbarer Vorgang. Eben erst hat Schapurs Vater Ardaschir die im Norden des Reichs beheimateten Parther von der Macht verdrängt und damit die Dynastie der Sassaniden etabliert. Unter deren vierhundertjähriger Herrschaft im 2. Perserreich ist das Zepter wieder im festen Griff von «Ariern» aus Fars, dem altpersischen Kernland. Ist im alten Reich die gesprochene Sprache das Aramäische gewesen, so setzt sich nun das Persische im ganzen Reich als Verkehrssprache durch.

Bestseller altpersische Lyrik
Der springflutartige Vormarsch der Araber im 7. Jahrhundert wird zwar innerhalb der Dauer eines Menschenlebens ganz Südwestasien für den Islam gewinnen. Dem Druck der Arabisierung dagegen hält Persien stand, anders als Ägypten und die nordafrikanische Mittelmeerküste. Wenn es nicht ein besonders geläufiger Koranvers ist, versteht noch heute kein Taxifahrer in Teheran ein arabisches Wort. Spricht man von der arabischen Wissenschaft, die das Mittelalter dominiert, dann ist das, von Nordafrika und Andalusien im Westen wiederum abgesehen, ganz irreführend: Nicht eine arabische, sondern die persische Wissenschaft und Literatur rettet und bewahrt das Erbe der alten Griechen und erobert ab dem 10. Jahrhundert die Welt.

Wissenschaftssprache der persischen Mathematiker, Naturwissenschaftler und Mediziner ist zwar das Arabische. Dennoch hinterlassen Avicenna, Biruni, Chwarismi, Ghazali, Qazwini eine Vielzahl persisch geschriebener Werke. Persisch schreiben Chronisten und Epiker wie Firdausi, Nisami und Anwari, ebenso ein moralisch erbauender Fabeldichter wie Attar. Auch die im Westen als arabische Schätze berühmt gewordenen Sammlungen Tausendundeine Nacht oder Löwe und Schakal stammen aus persischen Quellen. Rumi, Omar-e-Chajjam, Hafis und Sadi sorgen ab dem 10. Jahrhundert für drei oder vier Jahrhunderte persischer Poesiehochblüte. Erst nach 1300 wird der Westen mit Dante aus ihrem Schatten treten. Goethe will in Hafis den größten Liebeslyriker der Weltliteratur entdeckt haben. Hafis: «ihre farb'ge Wange zeigt sie wie die Rose jedermann: / Sage ich: 'Verhülle dich', ist sie verhüllt entrannt von mir.» Dschelaleddin Rumi, bei amazon.com derzeit mit 193 Titeln im Angebot, ist seit den neunziger Jahren in den USA der bestverkaufte Lyriker, der neuen Übersetzern Millionen einspielt. In Iran derweil haben die großen mittelalterlichen Poeten eine Langzeitwirkung mit kreativer Spitze: Unter den Gedichtsammlungen werden sogar Neuerscheinungen mit Startauflagen von 5000 Exemplaren gedruckt.

Ganz zu Recht gewinnt man den Eindruck, die Araber hätten niemals wirklich Persien erobert und islamisiert. Diese Anstrengung haben ihnen Perser abgenommen. Schon den letzten Sassaniden-Herrscher Yazdegerd III. brachten nicht Araber, sondern Perser um, die mit dem Kalifen in Damaskus um künftige Statthalterposten feilschten. Schon früh im 9. Jahrhundert werden die verschiedenen Glieder des ehemaligen Perserreichs wieder in faktischer Unabhängigkeit vom Kalifen, der mittlerweile in Bagdad residiert, sich selber regieren. Die gestaffelten Wellen von nomadischen Turk- und Mongolenvölkern, die sich zu Beginn des zweiten nachchristlichen Jahrtausends durch Zentralasien voreinander her nach Südwesten, nach Anatolien, Persien und Mesopotamien treiben werden, die Seldschuken im 11. Jahrhundert, die Goldene Horde Dschingis Khans im 13. Jahrhundert, Tamerlan und die Timuriden im 14. Jahrhundert, werden eine nach der anderen in Persien die Schule der Zivilisation durchlaufen wie bei uns im Westen einst die römischen Eroberer bei den unterworfenen Griechen.

So blickt das 16. Jahrhundert, Europas aufziehende Neuzeit, im Westen Asiens auf drei große Mächte, die den Triumphzug des Islams in Asien verkörpern: das türkische Osmanen-Reich im Westen, im Zentrum die Perser und in Indien das Reich der Moguln, Erben Dschingis Khans und Tamerlans. Noch einmal für einen Zeitraum von 703 Jahren, von 1055 bis 1758, werden in Persien zu keinem Zeitpunkt ethnische Perser regieren. Aber vom südlichen Kaukasus bis nach Kalkutta in Bengalen ist die Bildungs- und Verwaltungssprache Persisch.

Phantasien in alten Grenzen
Wer inzwischen hätte von den Arabern gehört, dem eigenen Volk des Propheten, das bei der Ankunft tausend Jahre zuvor in Persien Bücher verbrennt? Es hat mit dieser Frage zu tun, wenn sich nicht nur in der kulturellen, sondern auch in der politischen Geografie Südwestasiens das vorislamische Persien in lebendiger Erinnerung hält. Im 7. Jahrhundert schließt es im Kaukasus Armenien und das heutige Aserbaidschan ein, erstreckt sich von den heutigen Grenzen Syriens und Jordaniens bis nach Peschawar in Pakistan, umfängt außer dem Irak im Westen die arabische Südküste des Golfes bis nach Maskat im Oman und im Osten und Norden nicht nur das ganze heutige Afghanistan, sondern Teile auch der zentralasiatischen Republiken Turkmenistan, Usbekistan und Tadschikistan.

Das ist das Persien, das die Araber im Jahr 636 angreifen, bei Ghadessiah, 200 Kilometer südlich des heutigen Bagdad. Aber bis heute umschreiben diese Grenzen in Teheraner Sicht ziemlich genau die engere Interessenssphäre, den Raum, in dem der Regionalmacht Iran niemand auf die Füße zu treten hat, in dem kein Mitspieler mit seinen Plänen Teheran übergehen darf. Dabei geht es um strategische Grundsätze, die nicht von einer Geschmacksvorliebe des islamistischen Regimes diktiert sind. Sie sind nationales Gemeingut und nicht nur das: Diesem Selbstverständnis entspricht durchaus die internationale Einschätzung, gleichermaßen bei Freund und Feind, ob es nun das Gewicht des derzeitigen Störenfrieds ist oder das des umworbenen strategischen Partners der USA noch zur Zeit des Schahs.

Der Blick, der sich nicht von außen auf das Land Iran heftet, sondern von Teheran aus über die Umgebung schweift, stößt im Norden und Osten an Grenzen, die weniger als hundertfünfzig Jahre alt sind. Dahinter fällt er allenthalben auf Völkerschaften, die auch diesseits der Grenzen gewichtige und nicht leicht zu kontrollierende Minderheiten stellen: Aserbaidschaner, Kurden, Araber, Belutschen, Turkmenen. Nur die Hälfte der Nation sind ethnische Perser, sprich «Arier».

Von den sieben Nachbarländern zählen die drei im Osten Pakistan, Afghanistan, Turkmenistan ohnehin zu den nach innen und außen unfreundlichsten Staaten der Welt. Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Belutschen, die pakistanischen und afghanischen Minderheiten und Mehrheiten von Iraniern (so die Sammelbezeichnung für Volksgruppen, deren Sprache zur Familie der iranischen Sprachen gehört) heben mit ihren grenzüberschreitenden Verwandtschafts-, Freundschafts- und Feindschaftsverhältnissen die ohnehin hohen Ansprüche an die Kunstfertigkeit der iranischen Diplomatie.

Aufbruch in die Diktatur
Und dann im Südwesten der Irak. Was Iranern ohnedies geläufig war, zeigt sich seit dem Abgang Saddams besonders deutlich: Beim Irak handelt es sich überhaupt nicht um ein Land, sondern um drei ehemalige Provinzen des Osmanischen Reichs. Seit dem Ersten Weltkrieg, das sind noch keine hundert Jahre, soll Bagdad eine arabische Hauptstadt sein. Und dieser angebliche Staat greift 1980 Iran neuerlich an, die kaum der Taufe entstiegene Islamische Republik diesmal! Der arabische Aggressor verhöhnt die iranischen Nachbarn als Zoroastrier und Feueranbeter und hat sich selber mit dem Titel «Sieger von Ghadessiah» geschmückt. Damit spielt er auf Irans nationales Geburtstrauma an: den bedeutungsschweren Umstand, dass Persien den Islam und das Wort Allahs in einer Niederlage gegen die Araber empfangen hat. Der iranisch-irakische Krieg wird die ganze Welt hinter dem Aggressor Saddam Hussein einen. In beinahe vollständiger Isolation unterziehen der Krieg und Chomeinis eiserne Hand Iran einem acht Jahre dauernden nationalen Märtyrium: rund eine Million Gefallene. 1979 wird die Revolution Chomeinis noch von einem sehr breiten und differenzierten Spektrum von Stimmen innerhalb wie außerhalb des Landes als unabwendbar und als notwendiger, ja überfälliger gesellschaftspolitischer Aufbruch gesehen. Der Krieg gegen den Irak hat sie binnen zwei Jahren zur stalinistischen Diktatur eingefroren.

Vor drei Jahren nun sind Irans islamische Revolutionäre mit den Amerikanern und Briten in den Irak zurückgekehrt, und zwar als der einzige unstrittig erfolgreiche Teilhaber, der in dem Hexenkessel seinen Einfluss sukzessive ausdehnt. Die Front im tausendjährigen persisch- arabischen Konflikt hat sich wieder mitten hinein ins Zweistromland verlagert, wo sich im Chaos der westlichen Besetzung Iran der zweiten Regionalmacht Saudi-Arabien gegenübersieht, dem Schwergewicht der Arabischen Halbinsel. Das Bild ergänzt um die irakischen Teilhaber: Der schiitische Iran an der Seite der jahrhundertelang geknechteten irakischen Schiiten-Mehrheit findet sich einer arabischen Welt gegenüber, die sich zu ihrem großen Missbehagen im Irak einzig durch die enteignete und revoltierende Sunniten- Minderheit repräsentiert sieht.

Im Südirak mit seinen religiösen Zentren Nadschaf und Kerbela gehen die Iraner noch in den siebziger Jahren ein und aus, bis Saddam Hussein die Grenze zumacht und die Spitze des eigenen irakischen Klerus zu liquidieren anfängt. Die Richtung des schiitischen Islams, dem außer neun von zehn Iranern auch gegen zwei Drittel der Bevölkerung des Iraks angehören, außerdem die Mehrheit in der saudi-arabischen Ölprovinz Hassa am Golf und in Bahrain, ist ein recht junger Sprössling aus persischer Zucht. Die aserbaidschanischen Gründer der Safaviden-Dynastie, die im 16. Jahrhundert zuerst von ihrer neuen Hauptstadt Qazvin, dann von Isfahan aus am 3. Persischen Reich bauen, wollen dem feudalen persischen Vielvölkerflickwerk durch den gleichen Glauben für alle stärkeren Zusammenhalt verleihen. Das erstaunlich erfolgreiche Unternehmen beschert Persien allerdings nicht nur die populäre religiöse Nationalfolklore rund um den schiitischen Märtyrerkult und die Wallfahrten zu den Heiligengräbern, sondern auch einen einheitlichen, überall verankerten Klerus. Schon drei, vier Generationen später wird dieser die Grundlagen der Dynastie in Frage stellen, deren Erfindung er ist.

Irans geistliches Personal mit seinem Reservoir von mittlerweile siebzig Millionen potenzieller Pilger hat im Südirak während langer Zeit die heiligen Stätten spirituell im Schuss gehalten und wird sich dieser Aufgabe liebend gerne wieder bemächtigen. Auch der derzeit mächtigste irakische Schiitenführer, Großajatollah Ali al-Sistani, entstammt einer persischen Immigrantenfamilie.

Öl hält die Revolution am Leben
Außenpolitisch ist Iran also zumindest vor der Haustür auf Erfolgskurs. Doch angesichts von Nachbarn wie dem nuklear bewaffneten Pakistan und Ambitionen wie denen Saddams weiland im Irak, mit dem Iran eine 1300 Kilometer lange Grenze teilt, lehrt noch die jüngste Vergangenheit, dass ein Verzicht auf die Atombombe und ebenso auf eine Option darauf keine Selbstverständlichkeit sein kann. Hätte ein strategischer Partner wie der Schah, seinerzeit auch schon an zweideutiger nuklearer Technologie lebhaft interessiert, auf einen ebenso nachdrücklichen Widerstand der USA gefasst zu sein, oder käme ein nach amerikanischem Geschmack geführter Iran nicht eher wie Pakistan davon? Niemand bestreitet, dass ein iranischer Griff nach der Bombe die Gefahr weiterer nuklearer Proliferation in der Region massiv erhöhen und Neigungen zu entsprechenden Rüstungsanstrengungen in Saudi-Arabien, Syrien, dereinst wieder im Irak verstärken müsste. Aber in Iran fehlt diesem Einwand die durchschlagende Kraft, weil seitens der Nachbarn ohnehin nur mit dem Schlimmsten gerechnet werden darf.

Auch an der innenpolitischen Front hat das Regime zurzeit wenig zu fürchten. Zu Irans politischem Unglück gehört, dass das revolutionär genannte Experiment bezahlt werden kann. Beim gegenwärtigen Ölpreis hat die Springflut der Petrodollars letztes Jahr die budgetierten Staatseinnahmen binnen sechs Monaten eingespielt. Trotz einer Arbeitslosigkeit von über fünfzig Prozent nach inoffiziellen Schätzungen liegt das mittlere Einkommen pro Kopf nahe beim Doppelten des ägyptischen oder des marokkanischen, und das viele iranische Geld kommt aus hauseigenen Quellen.

Viele Reisende aus dem Westen kommen vermutlich mit falschen Vorstellungen nach Iran. Mehr noch vielleicht als von Vorstellungen, die sich im Westen mit einer finster entschlossenen fundamentalistischen Reaktion assoziieren, sind die Erwartungen vom klangvollen Namen des uralten Kulturlandes Persien exotisch eingefärbt: Kunsthandwerk, Miniaturen, Keramik und allem voran Teppiche, an denen sich Frauen und Kinder einer mangelernährten, landflüchtigen Bauernbevölkerung bei schlechtem Licht die Augen kaputtknüpfen. Aber Iran ist kein Agrarland mehr wie etwa noch Marokko, wo über vierzig Prozent der Bevölkerung in der Landwirtschaft ihrem Erwerb nachgehen. In Iran sind das nur halb so viele, ein Drittel der Beschäftigten arbeitet in der Industrie, nahezu die Hälfte im Dienstleistungssektor. Erst im Land geht dem Besucher auf, dass Iran in mancher Hinsicht einem hochdisziplinierten Musterschüler der Entwicklung wie Korea näher steht als einem Nachbarland wie Afghanistan. Gegen zwei Drittel der siebzig Millionen Iraner leben in Städten, ein guter Teil von ihnen in acht, neun Millionenstädten, die mit Flügen im Stundentakt bedient sind.

Die Herrschaft der Mullahs hat nicht, wie das Iraner der Exilopposition im Westen glauben machen, das geschlossene Volk zum Feind, ebenso wenig wie einst vor zwanzig, dreißig Jahren in einem Land wie Ungarn die Führungsschicht des Gulaschkommunismus vollkommen isoliert gewesen wäre. Doch die revolutionäre Islamische Republik Iran zeigt für die Zukunft etwa so viel Aufgeschlossenheit wie für die Außenwelt: nämlich einzig für neue Waffen, um sich ihrer zu erwehren. Die reiche geschichtliche Erfahrung gibt der iranischen Nation Begriffe, um ihre derzeitige geistige und seelische Verfassung zu bestimmen: «Und täglich wurden die Schlangen gefüttert, und die Furcht vor dem König war groß im Land.» So im 10. Jahrhundert das Schah-Name, das Buch der Könige des großen nationalen Epikers Firdausi, und es ist wieder so weit: «Unter seiner Gewalt erstarrte die Welt, in Vergessenheit geraten waren die Sitten der guten Menschen, und die Begierden der Niederträchtigen fanden Erfüllung.» Mehr noch als mit der anhaltend mörderischen Repression und ihrer auf geistig Minderbemittelte zugeschnittenen Zensur säen und ernten die politisierenden Mullahs Ressentiments und Verachtung mit ihrer epidemischen Korruption. Von Chomeini unterscheidet seine frühgealterten Nachlasshüter ihre Verfressenheit.

Zwei Drittel der Bevölkerung sind nach der Revolution von 1979 geboren, die Hälfte ist unter zwanzig. «Wir sahen nie ein Schachbrett und sind doch matt gesetzt», spricht für sie der große Rumi im 13. Jahrhundert (auch das Schachspiel kommt aus Persien). Gleich fern von Politik und Moschee, sucht die kommende Generation Erfüllung zwischen neuester Informationstechnologie, Sport und einer vielschichtigen, viel Pflege und Aufmerksamkeit erheischenden Damenmode: unter dem wehenden schwarzen Frack ein weißer Minirock und unter diesem ausgewaschene hellblaue Jeans ganz gemäß den ins Lächerliche gezogenen Vorschriften. Regimekritiker sind der Überzeugung, dass unter den siebzig Millionen Iranern heute die vierzig Millionen jüngeren eine der säkularsten Nationen der islamischen Welt bilden.

Die Mullahs steuern auf ihr Ende zu
Mit dieser neuen Nation wächst doch die Hoffnung, obschon sie unter Exiliranern immer wieder verfrüht ins Kraut schießt: dass es die Geistlichkeit mit ihrer Diktatur eines vielleicht doch nicht allzu fernen Tages so weit bringt, sich selber als politische Kraft ganz auszuschalten. Von politischer Mündigkeit der Nation will die klerikale Reaktion nämlich schon vor hundert Jahren, in der konstitutionellen Revolution von 1906 bis 1911, nichts wissen. Ein gewähltes Parlament als verfassunggebende Gewalt ist gegen Gott! Obschon xenophob wie heute, spielen die Geistlichen damit das Spiel der britischen und russischen Eindringlinge, die in beiden Weltkriegen erhebliche Teile des Landes besetzen werden. Angesichts des Schreckgespensts der Republik erscheint es ihnen als das kleinere Übel, wenn der Kosakengeneral Reza Schah mit Unterstützung der imperialistischen Mächte die neue Dynastie der Pahlevi gründet. Natürlich trifft Reza nicht den geistlichen Geschmack, wenn er sich in der Folge immer wieder von den revolutionären Reformen in der benachbarten Republik Türkei beeindruckt zeigt und sich den rabiat säkularen Atatürk zum Vorbild nimmt. Aber auch der nationalistische Ministerpräsident Mohammed Mossadegh, der 1951 die Anglo-Iranian Oil Company verstaatlicht und zwei Jahre darauf in einem britisch-amerikanischen Komplott gestürzt wird, findet beim Klerus wenig Rückhalt.

Der Feind Nummer eins der iranischen Geistlichkeit heißt von jeher Modernisierung. Ihr Ultrakonservatismus hat weniger mit einer unabänderlichen göttlichen Ordnung zu tun als mit einer jahrhundertealten Rivalität um den Landbesitz im Reich. Der Armee, deren höheren Rängen die Kriegsdienstleistung vom Monarchen stets mit Grundbesitz vergolten worden ist, stehen die religiösen Stiftungen gegenüber, gewissermaßen der Geburtsadel dieses Feudalsystems. Die Revolution von 1979 hat die Militärs als traditionelle Gegenkraft ausgelöscht, und seither regieren die politischen Mullahs allein. Könnte die neue revolutionäre Situation, auf die sie das Land nach Kräften hinsteuern, Iran inklusive des iranischen Islams demnächst aus ihrer politischen Bevormundung nachhaltig befreien?

Was derweil die klerikale Frömmigkeit angeht, so glaubt auf der Welt und in Iran kein Mensch daran. Dichter haben selten in der Politik das letzte Wort, aber in dieser Frage sind sie Volkes Stimme. Der Astronom und Mathematiker Omar-e Chajjam, der um etwa 1100 das erste methodische Verfahren zur Lösung quadratischer und kubischer Gleichungen entwickelt, ist weltberühmt für seine unsterblichen Vierzeiler. Darin ist auch von der Arroganz der Rechtgläubigen die Rede:

Und denkt ihr, Spatzenhirnen eures Schlags
Euch ausgehungerter, besessner Schar
Verrät Gott ein Geheimnis und mir nicht
Was soll's? Ich bitte euch, glaubt es sogar.