Muhammad Ibn Abd al-Wahhab: Der saudische Urfundamentalist
Der Alleinbesitz der Wahrheit gilt gemeinhin als Definition des Sektierertums. In Saudi-Arabien ist er das Markenzeichen der wahhabitischen Staatsreligion. Gewaltbereiten Extremisten in aller Welt dient die rigide Ideologie heute als Grundlage. Wer war der Mann, der sie entworfen hat?
Mohammed ibn Abd al-Wahhab, Spross einer angesehenen Familie islamischer Rechtsgelehrter, erblickt 1702/03 in Uyaina unweit von Riad das blendende Licht seiner Welt. Seine Karriere nimmt er als einer jener Studienabbrecher in Angriff, die sich mit allen und allem anlegen. Das ist nicht unbedingt ein moderner, aber auch kein konservativer Zug. Ibn Humaid, Mufti in Mekka, spricht von einem armseligen Studenten, arrogant und trotzig seinen Lehrern gegenüber. Bald zieht es ihn von der Arabischen Halbinsel weg, zuerst in das osmanische Sündenbabel Basra, wo er mit einem Predigtgewitter gegen Wein, Weib, Gesang, Tabak, Parfüm und Blumentöpfe Missfallen erweckt und an bessere Plätze vertrieben wird: In Bagdad ehelicht er eine begüterte Frau. Mit ihr zieht er in seine Heimat zurück, um seinen angehenden Weltbestseller Kitab al-Tauhid, das «Buch der Einheit», zu schreiben.
Dieses Manifest handelt von der einfachen Natur Gottes und seiner Offenbarung, zu deren Reinigung der Autor sich erwählt sieht. Sein liebster Stoff sind schirk, bida, kufr und kafir: Aberglauben, Häresie, Unglauben und der Ungläubige. Ibn Abd al-Wahhabs Schlachtruf erschallt nicht nur gegen allerart Magie, Wahrsagerei zumal, nicht nur gegen Götzendienst und den Glauben an die zahllosen arabischen Dämonen, sondern ebenso gegen Heiligenverehrung, Gräber und Geburtstage eingeschlossen. Er verwirft nicht nur alle Einflüsse aus nichtislamischen Quellen, sondern jede Gelehrsamkeit schlechthin, auch die große theologische Tradition des Islam und die Jurisprudenz von dessen Rechtsschulen.
Reine Lehre der Vorväter
Den heiligen Text des Korans, der keiner Interpreten bedarf, da er en bloc vom Himmel gesandt ist, ergänzt allein der hadith, das umfangreiche – hinsichtlich Authentizität in vielem kontroverse – Korpus der überlieferten Aussprüche des Propheten. Das Kitab al-Tauhid doziert die Urform des Salafismus, angeblich die reine Lehre der Vorväter (salaf heißt Vorfahre), die sich von aller übrigen ererbten Kultur lossagen will. Tabula rasa, Neubeginn, Reformation im radikalen Wortsinn. In Abhängigkeit zur Außenwelt werden sich Ibn Abd al-Wahhabs Erben erst 150 Jahre später wieder begeben, wenn die Ausbeutung ihrer Bodenschätze westliche Technologie erfordert und sie angesichts der Bedrohungen durch Saddam Hussein nach US-Truppen rufen.
Die Gefolgschaft Ibn Abd al-Wahhabs – oder des Scheichs, wie sie diesen knapp bezeichnet – wird anderswo als die Sekte der Wahhabiten bekannt; selber nennen sie sich Muwahhidun, wiederzugeben schlicht mit «Monotheisten». Der Salafismus, unter dessen Etikett der Wahhabismus vom modernen Saudi-Arabien aus dereinst die Welt erobern soll, wird ein breites Spektrum von Strömungen umfassen, vom Gewalt ablehnenden Pietismus der indischen Tablighi über die saudische Staatsreligion hin zum Dschihadismus von al-Qaida und des Islamischen Staates im Irak und der Levante (ISIL).
Vor allem ein Element des Wahhabismus trägt den Keim seiner militanten Tendenzen: Der Scheich, der in seinem Buch zahlreiche Beispiele dafür gibt, ermächtigt seine Gemeinschaft zum takfir, was so viel bedeutet, wie einen Anhänger einer anderen islamischen Strömung zum kafir, zum Ungläubigen, zu erklären. Ein zum kafir erklärter Muslim hat als Abtrünniger oder Apostat laut Koran Vergebung verwirkt. «Auf sie», so die Übersetzung Max Hennings, «soll kommen Zorn von Allah, und ihnen soll sein schwere Strafe», die der Koran allerdings nicht spezifiziert und nach vorherrschender Lesart dem jüngsten Gericht überlässt. Der hadith dagegen bedroht den Apostaten mit der Todesstrafe. Er verliert jedes Recht auf den Schutz eines Gläubigen, ist als Vogelfreier zum Abschuss freigegeben.
Abd al-Wahhab, der Vater, missbilligt die Lehre des Sohnes, weshalb dieser bis zu dessen Tod 1740 zu warten hat, bevor er mit 37 Jahren in seiner Heimat öffentlich zu predigen beginnt. Selber ein Häretiker in allen religiösen Lagern seiner Zeitgenossen, bleibt ihm damit Zeit genug, sich zum Dogmatiker intolerantesten Schlags zu mausern. Eine unstimmige Laufbahn ist das nicht, und er wird sie noch 52 Jahre lang fortsetzen. Seine große Stunde kommt vier Jahre später, 1744, und mit ihr sein Eintritt in die Weltpolitik des antiimperialen Befreiungskampfes. Muhammad ibn Saud (1710–1765), der Emir von Diriyah, heute ein Vorort von Riad, übernimmt als Bekenntnis seines Clans die Lehre des Scheichs – und verbindet die beiden Familien durch dessen Heirat mit einer Tochter.
Mit seiner Beduinenstreitmacht unterwirft Ibn Saud in den folgenden zwanzig Jahren den Nadschd, die inneren Wüsten der Arabischen Halbinsel, wie auch Bahrain und Katar, heute der einzige Wahhabitenstaat nebst Saudi-Arabien. Im Namen des arabischen Widerstands, gewürzt mit eigenen Expansionsgelüsten, brechen die Gotteskrieger seines Sohnes 1803 im Hedschas an der Küste des Roten Meeres ein – wie Mesopotamien seit dem frühen 16. Jahrhundert ein Gebiet unter der türkischen Hoheit der Osmanensultane, die dem Scheich zufolge einen korrupten, dekadenten Islam verkörpern. Sie verwüsten in Mekka die Große Moschee und in Medina die Grabmoschee des Propheten – die Heiligtümer, zu deren Wächtern die Sauds sich im folgenden Jahrhundert aufschwingen werden. Die Heere Mohammed Alis und seines Sohns Ibrahim Pascha, der ägyptischen Statthalter des Sultans, benötigen sieben Jahre (1811–18), um die fulminanten Haudegen zu bändigen und deren Führer mit britischer Waffenhilfe von der Arabischen Halbinsel zu vertreiben.
Rivalisierende Clans
Der moderne Gründerkönig Abdel-Asis ibn Saud, der 1902 seinen Clan aus dem kuwaitischen Exil nach Riad zurückbringt, hat bald begriffen, dass er nur in Zusammenarbeit mit den Briten oder den Amerikanern an die Reichtümer kommen kann, die unter dem Boden Arabiens lagern. Nicht so die rivalisierenden Clans aus Buraida und Attawiyah nördlich von Riad, die ihm das geistliche Erbe des Scheichs streitig machen und wenig von dem modernen Staat halten, der dem Pragmatiker vorschwebt. Die «Ichwan» oder Brüder, wie sich ihre Krieger nennen, liefern ihm lange Jahre Schlachten, bis er sie schließlich 1929 bei Sibilla vernichtend schlägt. Als er 1932 das Königreich Saudi-Arabien ausruft, sind ihm die verbliebenen Rivalen durch seine multiplen Eheschließungen verpflichtet.
Auch das Establishment seiner Geistlichen bleibt vom König abhängig, allerdings in einer für alle seine Nachfolger ungemütlichen Gegenseitigkeit. Die Al al-Scheich, so heißt die Familie Abd al-Wahhabs, seit 1744 mit der Königsfamilie Al Saud durch ungezählte weitere Ehen und stets erneuerten arabischen Treueeid liiert, bekleidet bis heute höchste Ämter im Königreich. So von 1975 bis 2009 das Justizministerium. Das Ministerium für islamische Angelegenheiten, fromme Stiftungen, Verkündung des Islams und Orientierung ist bis im Dezember 2014 in der Hand von Saleh bin Abdel-Asis al-Scheich. Ein weiterer Spross, Abdel-Asis Bin Abdullah al-Scheich, geboren 1943 und mit siebzehn Jahren erblindet, ist Großmufti, das heißt oberster Richter, und Präsident von Saudi-Arabiens Religionspolizei. In der arabischen Welt ist Saudi-Arabien einzigartig, was die Beteiligung des Klerus an den Staatsgeschäften angeht, vergleichbar einzig den Verhältnissen im Iran. Nicht nur die Thronfolge unterliegt der Billigung durch die Gottesgelehrten, sondern jeder königliche Gesetzeserlass. Nahezu ungeteilt ist ihre Macht über das Schulwesen und insbesondere die Universitäten, aufgebaut in den sechziger und siebziger Jahren mit dem folgsamen Personal exilierter Muslimbrüder aus Ägypten und der Levante. Deren Beitrag zur Alphabetisierung des Wahhabitenreichs und zu dessen ideologischer Nachrüstung ist aus diesem nicht wegzudenken.
Der globale Feldzug
Die rund 20 000 bis 30 000 Angehörige umfassende Königsfamilie, laut saudischem Grundgesetz von 1992 der «Kern der saudischen Gesellschaft», bildet mit der hauseigenen Geistlichkeit und dem internationalen Personal ihrer Moscheen und religiösen Lehrstätten ein explosives Gemenge, welches das gesamte politische Spektrum einschließt, bis hin zu gewaltbereiter Dissidenz. Osama Bin Laden als Sohn des Hofbaumeisters von Gründerkönig Abdel-Asis ist nur das prominenteste Beispiel. In Saudi-Arabien kann jede Unzufriedenheit nur wiederum im Namen der reinen Lehre des Scheichs auftreten. In ihrem Namen erschießt 1975 ein Neffe König Faisal. «Ichwan» nennt sich die Gruppe um Dschuhaiman al-Utaibi, die während der Pilgerfahrt von 1979 für zwei Wochen die Große Moschee in Mekka in ihre Gewalt bringt und rund 5000 Pilger als Geiseln festhält. In den Augen seiner Gegner kann sich das Herrscherhaus in Riad nur dank seiner Allianz mit den USA halten. Es ist die eigentliche Zielscheibe jener fünfzehn Saudis, die sich unter den neunzehn Attentätern des 11. Septembers 2001 wiederfinden werden.
Dank den Sowjets lassen sich ab 1980 ungezähmte «Ichwan» wie Bin Laden als Mudschahedin nach Afghanistan exportieren. Im eigenen Land mit seinen Millionenstädten ist die wahhabitische Gleichschaltung gegen die Schiiten in der ölreichen Golfprovinz al-Hasa und die Sunniten anderer Zugehörigkeit im Hedschas bereits unter Faisal (1964–1975) weit fortgeschritten. Der globale Feldzug kann folgen. Nach der Entdeckung der Ölwaffe, in den goldenen Jahrzehnten (1973–1993), weist die offizielle saudische Auslandhilfe einen Mittelwert von 5,5 Prozent des Bruttosozialprodukts aus, das Zehnfache des entsprechenden Haushaltanteils westlicher Industrienationen. Auf der Website von König Fahd, auf dem Saudi-Thron von 1982 bis 2005, werden dessen eigene Beiträge unter der Rubrik «Unterstützung des Islam» zu Recht als «astronomisch» bezeichnet (www.kingfahdbinabdulaziz.com). Sie umfassen 210 größere islamische Studienzentren, mehr als 1500 Moscheen, 202 höhere Schulen und rund 2000 Grundschulen. Das Bekenntnis der Saudis wird nicht nur in alle Welt hinausgetragen, sondern zugleich den Stipendiaten eingepaukt, die jährlich zu Tausenden aus aller Welt an Saudi-Arabiens Universitäten eingeladen werden.
Schon seit 1962 ist ein staatseigenes Missionsnetzwerk im Aufbau: die Islamische Weltliga. Zu dieser Gruppe regierungsgesteuerter NGOs gehören die International Islamic Relief Organization mit Schwerpunkten in Afrika sowie der Weltmoscheenrat, der in 31 Ländern auf allen Kontinenten Stützpunkte unterhält. Schätzungen der gesamten staatlichen Aufwendungen für die saudische Missionstätigkeit in der Zeitspanne von 1970 bis 2005 reichen von 100 bis zu 150 Milliarden Dollar. Es handelt sich um die weltweit größte Propagandaoperation der Nachkriegsgeschichte.
Eineinhalb Millionen ausländische Pilger könnten die saudischen Gastgeber jedes Jahr konfessionelle Toleranz lehren. Stattdessen verbarrikadieren sie sich gegen die Außenwelt und die hausgemachte Dissidenz mit dem engstirnigsten, rückwärtsgewandtesten Bekenntnis, in welches die breiten, bunten Traditionsströme des Islam jemals gepresst wurden. In Schulbüchern für die Unterstufe halten Saudi-Arabiens Imame an der Drohung mit der Hölle fest, und dies nicht etwa gegen Kapitalverbrecher, sondern gegen arglose Muslime für Abirrung im Glauben. Die politische Führung drückt derweil panisch den Deckel auf die glühende Masse im bebenden Topf. Wer wird womit den für inneren Frieden unabdingbaren Wohlstand finanzieren, wenn eines Tages das Erdöl nicht mehr fließt? Wie sähe es auf der Arabischen Halbinsel ohne saudische Könige aus? Ungemütliche Perspektiven allemal und Grund zu Besorgnis weltweit.