Mit Churchill im Gottesstaat

Wer den militanten Islamismus verstehen will, sollte Churchills «Kreuzzug gegen das Reich des Mahdi» lesen. Der Herausgeber und Übersetzer erzählt, wie er zu dem Projekt kam und wann's am schönsten war.

Von Georg Brunold, Die Weltwoche, 24.07.2008

Für einen Bekannten, der kein Englisch liest, suche ich im Internet nach einer deutschen Ausgabe von Winston Churchills Buch The River War – ohne Erfolg. Zu wiederholten Malen in den achtziger und neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts dominierte der Sudan mit seinen wechselhaften Geschicken über Monate die Frontseiten nicht nur der britischen, sondern der europäischen Presse, genauso wie etwa in jüngster Zeit der Irak. Der Mahdi als der erste weltberühmte islamische Fundamentalist, der sich mit 50 000 Gotteskriegern gegen die ägyptische Fremdherrschaft und gegen Queen Victorias Sonderabgesandten Charles George Gordon erhob, dessen blutigem Ende in Khartoum die Briten allzu lange tatenlos entgegengesehen hatten – eine epochale Schmach für Krone und Nation: Das war Stoff nicht nur ungezählter Bücher aus der Zeit, den sich selbstverständlich auch Karl May nicht entgehen ließ, sondern lang darüber hinaus von allerlei melodramatischem Schund am Taschenbuchständer des Bahnhofkiosks, den ich, 15jährig, als Hinterlassenschaft unserer Feriengäste in Arosa gierig in Besitz nahm. Erst 1966 noch hatten Charlton Heston und Laurence Olivier im monumentalen Film Khartoum General Gordon und den Mahdi auf die Kinoleinwand aller westlichen Länder zu befördern.

Doch das frühe Werk des angehenden Literaturnobelpreisträgers Churchill, der 1898 als 24jähriger Leutnant eines Kavallerieregiments soeben von seinem Einsatz an der indisch- afghanischen Grenze zurückgekehrt ist und nun den Nil hinauffährt, um an vorderster Front in der Entscheidungsschlacht von Omdurman bei Khartoum mitzukämpfen, ist nie ins Deutsche übertragen worden. Noch am selben Nachmittag meiner ergebnislosen Internetrecherche habe ich das Projekt einer ersten deutschen Ausgabe bei meinem Verlag untergebracht.

So kann 2007 eine weitere Reise in den Sudan beginnen, nachdem ich das erste Mal 1980, aus Ägypten kommend, mit der Eisenbahn in Khartoum eingetroffen war. The River War hat allein in den fünf Jahren seit dem Ausbruch der jüngsten Krise in Darfur mindestens ein halbes Dutzend neue Ausgaben erlebt, in England und den USA, zum Teil bei unbekannten Orchideenzüchterverlagen, wie etwa die von Wildeside Press, Doylestown, Pennsylvania, die mich auf meiner letzten Sudan-Reise vor vier Jahren begleitete. Churchill bot eine unerlässliche Ergänzung zum Besuchsprogramm bei den Massenmördern und ihren Opfern in Darfur, wo ich mit der Delegation der Schweizer Außenministerin Micheline Calmy-Rey unterwegs war.

Diesmal führt meine Reise zunächst in die Bibliotheken und in ein Labyrinth von Editionen. Das Buch von Wildeside Press enthält den Text der zweiten Ausgabe von 1902, worin Churchill selber die tausend Seiten der zweibändigen Erstausgabe von 1899 auf die Hälfte reduzierte. Später folgten mehrere weiter gekürzte Fassungen. Daraus war nun ein neues Buch zu komponieren, das zudem das Plazet der Churchill-Erben und ihrer Experten in Oxford und Cambridge zu erhalten hatte. Der Originaltext hatte wieder zu seinem Recht zu kommen, und wieder einzubauen war vor allem die zum Teil scharfe Kritik an der britischen Heerführung und deren Hartherzigkeit, was das humanitäre Desaster des vernichteten Feindes anging. Churchill vermisste den Sinn nicht nur für die Würde tapferer Kriegsgegner, sondern auch ihrer Religion. Doch der Politiker, der zwei Jahre später an die Stelle des spitzzüngigen Journalisten getreten war, hatte es als jüngster Abgeordneter des Unterhauses eilig, seine Rügen abzumildern oder temperamentvoll ganz zu streichen.

So durfte das Resultat nicht stehenbleiben, auch wenn mich ein Gefühl beschlich, dass ich es diesmal nimmermehr den Weg den Nil hinauf nach Omdurman schaffen würde. Auf den 34 Seiten der großen Schlacht verdichtete sich die Befürchtung zur Gewissheit, aus dem Schlachtfeld von Kerreri nie mehr heil hinauszufinden. Nicht sechs Stunden wie am 2. September 1898, nein, an der Tastatur des Laptops dauerte dieses Gemetzel mit seinen 9700 Toten und 10 000 bis 16 000 ihrem Schicksal überlassenen Verwundeten fast eine Arbeitswoche.

Der deutsche Text – oder besser gesagt der Entwurf – einmal auf der Festplatte, stand die richtig packende Zeit erst bevor. Der heutige Leser findet sich in Churchills Buch nicht ohne Erhellung des größeren Kontexts zurecht. Jetzt las ich also einen guten Monat lang zweitausend Seiten Sudan, Ägypten, Osmanisches Reich, Vorderen Orient und das Spiel der westlichen Mächte auf ihrer Hochblüte im ausgehenden 19. Jahrhundert. Immer weiter gingen mir die Augen auf, und bei der Entwöhnung von dieser Lektüre hatte ich mit Widerständen zu kämpfen. Nach dreißig Jahren Beschäftigung mit dem Islam war ich endlich wieder zwischen jenen Bruchlinien und Verwerfungen zugange, vor deren Hintergrund allein der gegenwärtige radikale und militante Islamismus zu verstehen ist: nicht aus einer dem Propheten Mohammed offenbarten Botschaft des Korans, nicht aus alten Texten fundamentalistischer Urahnen, die unter dem Trauma der Kreuzzüge und des Mongolensturms geschrieben wurden, nicht aus den Schriften wahhabitischer Wüstenprediger oder irregeleiteter politisch-religiöser Autodidakten, die unter Nasser in ägyptischen Gefängnissen schmorten oder am Galgen endeten. Fassbarer wird der militante politische Islamismus im Kontext jenes langen Jahrhunderts, das in Europa 1789 begann und 1918 zu Ende ging: des Jahrhunderts der Revolutionen, das anderswo auf dem Planeten, im Sudan, am Hindukusch, in der algerischen Sahara und auf einigen der südlichen Philippineninseln bis heute nicht zum Abschluss gekommen ist.

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Georg Brunold ist Journalist und Schriftsteller und lebt mit seiner Familie in Nairobi.

Winston S. Churchill: Kreuzzug gegen das Reich des Mahdi. Mit einer Einleitung und Anmerkungen von Georg Brunold. Eichborn. 447 S., Fr. 58.–