Albert Londres. Reporter des 20. Jahrhunderts
Albert Londres berichtete aus dem Ersten Weltkrieg, aus der russischen Revolution und aus China, aus Pariser Irrenhäusern und aus der Sträflingskolonie Bagno in Cayenne, von französischen Mädchenhändlern in Buenos Aires, von den Perlenfischer am Roten Meer und von der Tour de France: engagiert, pointiert und unbestechlich.
Reims, 19. September 1914. – Die Stadt liegt unter deutschem Artilleriebeschuss, als er für die Zeitschrift des Kriegsministeriums den Brand der Kathedrale festhält. Das Ende einer Epoche. Und falls der Anfang unserer politischen Gegenwart zu datieren wäre, dann in diesem Jahr. Auch für Albert Londres (1884–1932) stellt es Weichen. Der Junge aus Vichy, Sohn eines Gascogner Kupferschmieds, war einst nach zwei Jahren an einem Buchhalter- Schreibtisch in Lyon als 19jähriger nach Paris geflohen. Jetzt hält ihn auch da nichts mehr. Er will an die Front. Wegen schwächlicher Konstitution, so der Bescheid, wird er vom französischen Militär zurückgewiesen. Nun will er von den Schlachtfeldern des Orients berichten.
Bei der Pariser Tageszeitung «Le Matin», wo er acht Jahre zuvor zu seiner journalistischen Karriere angetreten ist, findet sein Wunsch kein Gehör. Für die Konkurrenz also, das Boulevardblatt «Le Petit Journal», geht er im Jahr darauf nach Serbien, Albanien, Griechenland, in die Türkei. Hundert Jahre später hat in Deutschland, wo derzeit deutlich mehr von literarischem Reportage-Journalismus die Rede ist, als die Presse davon druckt, eine zögerliche Wiederentdeckung Londres’ eingesetzt. Von 154 bei amazon.fr aufgeführten Buchtiteln haben seit 2010 vier in erstmaligen Übersetzungen den deutschen Buchmarkt erreicht. Ebenso viele sind schon von 1924 bis 1932 deutsch erschienen, aber nur als antiquarische Preziosen aufzutreiben.
Albert Londres ist nicht bloss Kriegsreporter. Auch der bis heute hochaktuelle Balkanexperte bleibt er nur nebenbei. Analysierender Augenzeuge an allen erdenklichen Fronten, leuchtet er gesellschaftliche und kulturelle Milieus seiner Zeit aus. Um ihn herrscht Umbruch wie noch nie und wie für Journalisten jederzeit. In Moskau, in den Geburtswehen der Sowjetunion, porträtiert er Lenin und Trotzki, ehe er weiter ostwärts zieht.
«La Chine en folie», als Serie gedruckt im «Petit Parisien», findet sich nun aufgenommen in «Ein Reporter und nichts als das», dem 456 Seiten starken Band der von Hans Magnus Enzensberger begründeten «Anderen Bibliothek». «China aus den Fugen, 1922» – wir sind in dem Reich, das für den Triumphzug Maos und seiner Roten Armee präpariert wird: «Einundzwanzig Provinzen, einundzwanzig Tyrannen. Der eine verkauft seinen Teil Chinas an Japan, der andere den Amerikanern. Alles wird versteigert: Flüsse, Eisenbahnlinien, Bergwerke, Tempel, Paläste, Schiffe. [ . . .] Man braucht nur etwas verschwinden lassen, und schon ist die Auktion eröffnet. Wer hat so viele Dollar geboten? Für wen die Kaiserlichen Schätze aus der Ming-Dynastie und den Ölmarkt obendrauf? An Amerika? Sie haben den Zuschlag!»
Wer derweil am Boden bleibt: «Das Volk ist eine Wanze, die von bewaffneten Männern zertreten wird, sobald sie es wagt, unter der Fussleiste hervorzukrabbeln. Sollten sie sich gerne verjüngen, dürfen sie sich freuen: Was wir hier vor uns haben, ist nicht weniger als sieben Jahrhunderte Rückschritt.» Auf dem Rückweg hält er inne, um mit so ganz neuartigen Gestalten wie Gandhi und Nehru seiner Leserschaft Indien näherzubringen.
Im Irrenhaus und im Ghetto Darauf, dass seine Stimme gehört wird, darf er sich mittlerweile verlassen. Nun kommen Eigenleistungen der Grande Nation in den brisanten Genuss seiner Aufmerksamkeit. 1923 schifft er sich nach Cayenne ein, um dort einen Monat im Bagno, der Sträflingskolonie von Französisch-Guayana, zuzubringen. Deren Insassen werden ihn noch Monate in seinen Träumen aufsuchen. Seine Galerie von Porträts, die noch im selben Jahr in Buchform vorliegt, breitet vor dem Leser eine Welt aus, die an Grauen dem Gulag Solschenizyns in nichts nachsteht. Der Aufschrei des Reporters (deutsch «Bagno. Die Hölle der Strafgefangenen», Berlin 1924) hat die umgehende Ablösung des Gouverneurs der Kolonie zur Folge. Nach einigen mehr kosmetischen Reformen und einer Anzahl revidierter Gerichtsverfahren wartet das Bagno freilich weitere vierzehn Jahre auf seine Schliessung, und sein Beitrag dazu kann Londres’ Ruhm erst postum mehren. Ein Denkmal hat ihm Henri Charrières populärer Roman «Papillon» gesetzt. Das vergangene Jubiläumsjahr hat Londres’ Abrechnung mit dem Sport geheissenen Spektakel namens Tour de France und dem aberwitzigen Reglement der Rundfahrt in Erinnerung gebracht. War Doping jemals ein Vergehen? Schon 1924 unterzieht ihr nackter Existenzkampf diese modernen Gladiatoren einer dreiwöchigen ruinösen Pillenkur. 2011 hat der Bielefelder Kleinverlag Covadonga Londres’ Reportage «Les Forçats de la route ou Tour de France, tour de souffrance» erstmals in deutscher Übersetzung herausgebracht: «Die Strafgefangenen der Landstrasse».
Einen Mann wie Londres muss diese Strasse stracks in Frankreichs Irrenhäuser führen. Deren mörderische Vollzugsordnungen werden vom Reporter höflich als das französische Gesetz angesprochen, mit dem ihn seine Recherchen undercover prompt ins Gehege bringen. Diesem Gesetz «liegt nicht die Idee zugrunde, Menschen, die an einer Geisteskrankheit leiden, zu pflegen und zu heilen, sondern die Angst, welche diese Menschen der Gesellschaft einflössen». Sein erschütterndes Pamphlet «Chez les fous», das bis heute nicht ins Deutsche übersetzt ist, setzt wiederum unverzüglich Reformen in Gang. Derweil hat Londres Paris schon wieder verlassen: auf der Mädchenhändler-Route, auf der junge Französinnen in Bordelle des aufstrebenden Buenos Aires verschwinden. 1928 reist er vom Senegal zum Kongo, um sich in den französischen Besitzungen Afrikas umzuschauen. Wie vor ihm Ferdinand Céline und nach ihm Georges Simenon trägt Londres seine Kritik nicht als Anwalt der geknechteten Schwarzen vor, sondern, weit wirkungsvoller, als ein um seine Landsleute besorgter Patriot: Allen voran sind es die Kolonisten selber, die ihr Tun und Lassen in Monstren verwandelt.
Nach eingehenden Erkundigungen in osteuropäischen Juden-Ghettos begibt er sich 1929 nach Palästina. Seine enthusiastischen Sympathien für das zionistische Projekt können seinen Blick für das Los der ansässigen Araber nicht trüben und deshalb seine Zweifel an dessen Realisierbarkeit nicht zum Verstummen bringen. «Ahasver ist angekommen», eben im Gelobten Land, so der Titel der zweiten der drei Grossreportagen in dem Band der «Anderen Bibliothek». In der dritten folgt Londres unter unerquicklichsten Reisebedingungen im Roten Meer und im Persischen Golf den Perlenfischern. Allein schon der Landgang im Dubai von 1931 – ein halber Tag und eine halbe Nacht – ist die Lektüre wert.
Tod auf dem Luxusdampfer Doch Londres geht es weniger um die rabaukige Zivilisationsvorstufe der Piratenküste, wie die Arabischen Emirate noch vor fünfzig Jahren hiessen, und auch weniger um das Kleinod seiner kuriosen Begegnung mit dem Gründerkönig Abd al-Aziz ibn Saud, der sich mit seinen aufgeschriebenen Interviewfragen sogleich zurückzieht und ihm tags darauf mitteilen lässt, die Antworten auf sie alle stünden im Koran. Thema sind der mörderischste Broterwerb der Welt zu Friedenszeiten und die Hintermänner im infernalischen Geschäft mit den versklavten Fischern und mit deren Ausbeute, bestimmt für die Décolletés daheim bei Londres’ Pariser Zielpublikum.
Von seiner letzten Reise, wiederum nach China, soll ihn im Mai 1932 der Luxusdampfer «Georges Philippar» nach Hause bringen. Londres scheint einen grösseren Skandal aufgedeckt zu haben, in dem es um Waffen, Drogen und um bolschewistische Einmischung in die chinesischen Angelegenheiten geht. Er habe Dynamit an Bord, telegrafiert er seiner Redaktion, bevor er, 47jährig, vor Aden in einer Feuersbrunst auf dem Schiff sein Leben lässt. «Ein Reporter und nichts als das»? Bei Londres hätte schon der sechs Monate nach ihm geborene Egon Erwin Kisch, Deutschlands «rasender Reporter», den Meisterkurs in Reportagejournalismus absolvieren können. Einer Naturgewalt gleicht die Libido seiner Reporterneugier, die eins wird mit dem stürmischen Geschehen, das ihn durch die Welt treibt. In der Intensität und Prägnanz von Kugelwechseln folgt ein Dialog dem nächsten. Unbekannt in der jüngeren Reportageliteratur ist Londres’ rigorose Sparsamkeit im Umgang mit visuellen Elementen. Hie und da, wie Heine es im schwarzen Schlund des Kölner Domes sah, sind Leuchten aufgestellt, «um die Dunkelheit so recht zu zeigen» – und das Gehör darin zu schärfen. «Als sie im zwielichtigen Teil des Basars waren, traten sie in einen Laden, den ein braungebrannter Jude, der ganz hinten sass, mit seinen Augen erleuchtete.» Je weniger man, mitten in die Szenerie geworfen, davon sieht, desto mehr kriegt man davon zu spüren. «Wir werden noch früh genug sehen, was von unserem vorteilhaften Aussehen übrig geblieben ist. Im Augenblick sind wir nicht einmal als Vogelscheuchen zu gebrauchen.» Albert Londres war ein kritischer Journalist: Sein Thema überall auf der Welt ist die Ungerechtigkeit. Aber: «Unser Metier ist, weder zu gefallen noch ins Unrecht zu versetzen, sondern die Feder in die Wunde zu halten.» Seinen wechselnden Arbeitgebern, die bei ihm Linientreue zu vermissen pflegten, gab er den Bescheid, es gebe keine Linie ausser der Eisenbahnlinie.