Averroës. Ahne der europäischen Aufklärung
Die «Massgebliche Abhandlung» des Averroës oder Ibn Ruschd in zwei glänzenden neuen Editionen
Der letzte der grossen muslimischen Philosophen des Mittelalters, in der christlichen Welt der erste unter den frühen Wegbereitern der europäischen Aufklärung: Das sind die beiden gebräuchlichen Auszeichnungen des Averroës oder Ibn Ruschd (1126–1198), eines der luzidesten Köpfe in der mediterranen Geistesgeschichte. Sie lassen, zumal in dieser Personalunion, anhaltende Spannung erwarten. Während mindestens sechs Jahrhunderten wurden Averroës' Lehren mit einer Gänsehaut durch die christlichen Abendlande geflüstert. Nachdem Schüler und – ungesicherten Quellen gemäss – auch ein Sohn noch am Hof Friedrichs II. in Sizilien gelehrt hatten, blieb das Etikett «Averroist» an den jungen Universitäten Italiens, Frankreichs und Spaniens lebensgefährlich. Spinoza, in dem manche den grossen Fortsetzer sahen, hätte sich noch im 17. Jahrhundert nicht südlich der Alpen blicken lassen dürfen. Noch Kant mit seiner «Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft» wurde von Zeitgenossen des «Averroismus» verdächtigt.
Die Lehre
Über seinen wenige Jahre jüngeren Landsmann Moses Maimonides, ebenfalls ein Andalusier aus Córdoba, der bis heute als einer der bedeutendsten Denker des Judentums gilt, hatte Averroës zudem einen prägenden Einfluss auf die jüdische Interpretation der Offenbarungsschriften und ihrer Allegorik. Nur in der islamischen Welt blieb er nach dem Untergang des andalusischen Kalifats im 13. Jahrhundert und bis auf den heutigen Tag weitgehend ohne Wirkung.
Was hatte Averroës gelehrt, das jede kirchliche Verkündigung im Urgrund ihrer Autorität erschüttern musste? Die Lehren der Philosophen und die geoffenbarten Religionen stimmen miteinander überein; mehr noch: Die Offenbarung hat keine Erweiterung des Horizonts der menschlichen Vernunft gebracht, die der Glaubenswahrheiten vielmehr aus eigener Kraft mächtig ist. Gottes Wort, so verstand dies der katholische Klerus, brauchen wir also nur für die ungebildeten Leute, für Gelehrte tut es die Vernunft allein. Das allerdings gehörte nicht zu dem, was laut weitergesagt werden durfte. Ausserdem lehre Averroës die Anfangslosigkeit der Welt und er schränke, hiess es, die Allwissenheit Gottes ein. Weiter stellte er die Unsterblichkeit der Individualseele und vor allem deren Rückkehr ins Fleisch in Frage.
Es dauert seine Zeit, bis ein vielschichtiges Werk wie das des Averroës und seine Rezeption einigermassen ausgeleuchtet sind. Einen bedeutenden Beitrag dazu leisten zwei neue deutsche Editionen, welche international die Forschungsfront markieren. Es geht um die Schrift «Fasl al-maqal» – bisher unter dem deutschen Titel «Massgebliche Abhandlung» bekannt. Der volle Titel in Franz Schupps Neuübersetzung lautet: «Die entscheidende Abhandlung und die Urteilsfällung über das Verhältnis von Gesetz und Philosophie». Diese bei Felix Meiner verlegte Ausgabe, die neben dem deutschen den arabischen Text enthält, ist eine editorische Glanzleistung in jeder Hinsicht. Eine von Frank Griffel betreute weitere Ausgabe im Verlag der Weltreligionen ergänzt sie in sehr verdankenswerter Weise. Eine dritte, für Oktober bei Reclam angekündigte wird die Schrift in einer anderen Preisklasse greifbar machen.
Fragen
Die beiden bereits erschienenen Ausgaben kommentieren den Text auf das Ausführlichste und versammeln eine historische Substanz, die sie zu hervorragenden Einführungen in die Ideengeschichte der islamischen Philosophie und Theologie macht. Eine 120 Seiten starke Einleitung ergänzen bei Schupp 140 Seiten enzyklopädischer Apparat zu Personen, Schulen und zentralen Sachbegriffen. Griffel schreibt die Geschichte bis ins 20. Jahrhundert fort und kümmert sich um Ibn Ruschds Rezeption sowohl im Orient, bei den Köpfen der ägyptischen Reformbewegung der vorletzten Jahrhundertwende und ihren fundamentalistischen Erben, als auch im Okzident, etwa bei Leo Strauss in Chicago und den neokonservativen «Straussians» im Umfeld von George W. Bush.
Die «Massgebliche Abhandlung», abgefasst 1179/80, ist eine Fatwa, ein Rechtsgutachten also, welches dem Almohaden-Sultan Abu Yaqub Yusuf I. (1135–1184) Antwort auf die Frage geben sollte, ob gemäss dem islamischen Gesetz der Scharia das Studium der Philosophie dem Muslim als erlaubt, empfohlen oder gar als Pflicht zu gelten habe. Averroës entscheidet für das Letztere. Denn ohne Philosophie lasse sich die Offenbarung nicht verstehen. Folgt daraus aber auch zum Beispiel, dass ein Rationalismus dieser Prägung nur in Toleranz münden kann? – Fragen dieser Art können wir dank Schupp und Griffel endlich stellen. Aber auch die Frage, wer Averroës wirklich war: in erster Linie ein Schüler des Aristoteles oder ein gläubiger Muslim – und ob sich beides ausschliesst oder keineswegs. Zudem die Frage, weshalb sich sein Einfluss auf die Kulturen der zwei übrigen biblischen Religionen beschraänkte, während die islamischen Nachgeborenen ihn weitgehend ignorierten. Oder weshalb er in der arabischen Gegenwart zum Kronzeugen der Antifundamentalisten wurde: mit seinem Zutun oder womöglich gegen seine wahren Intentionen?
Averroes: Die entscheidende Abhandlung und die Urteilsfällung über das Verhältnis von Gesetz und Philosophie. Arabisch-deutsch, herausgegeben von Franz Schupp. Felix Meiner, Hamburg 2009. 468 S., Fr. 105.–. Ibn Rushd: Massgebliche Abhandlung – Fasl al-maqal. Aus dem Arabischen übersetzt und herausgegeben von Frank Griffel. Verlag der Weltreligionen, Berlin 2010. 247 S., Fr. 44.90.