Afrika oder Hilfe. Abschiedsartikel des Korrespondenten

Die Kontroversen um Sinn und Unsinn, Nutzen und Schaden der Hilfe an Afrika schaffen zu oft mehr Verwirrung als Klarheit. Ihre moralische Verteidigung stellt die Hilfe auf ein brüchiges Fundament. Dass die Hilfe nicht länger schon abgeschafft wurde, ist ein Indiz dafür, dass es solidere Argumente zu ihren Gunsten gibt.

Von Georg Brunold, Neue Zürcher Zeitung, 06.05.1995

Die Debatten um Afrika beherrscht seit den frühen achtziger Jahren das Schlagwort «Hilfe». Vieles von dem, was unter den Sammelbegriff fällt, ist zunehmend unter Beschuss geraten. Ob Verhungernden etwas vom überschüssigen Brot aus reichen Weltgegenden gebracht werden soll, ist bisher kein grosser Streitpunkt - oder jedenfalls nur für Stimmen, die der moralischen Provokation um ihrer Frivolität willen frönen. Kontrovers dagegen ist der Löwenanteil sogenannter Wirtschaftshilfe: budgetäre Hilfe zum einen und zum anderen das, was von den zuständigen Stellen mit dem Begriff «Entwicklungszusammenarbeit» bezeichnet wird.

Billige Anklage

Bekanntlich findet sich diese «Zusammenarbeit» im Falle Afrikas schweren und schwersten Beanstandungen ausgesetzt. Wiederum geht es nicht um die Kleinarbeit der Brunnenbohrung, obschon in Kenya besser weniger als 18 unterschiedliche Modelle von Pumpen zum Einsatz kämen. Niemand stellt sich gegen die Unterstützung eines Gesundheitswesens, das nicht nur im grossen Rahmen Kleinkinder gegen Masern impft, sondern auch elementare chirurgische Eingriffe erlaubt und schwerarbeitende Mütter und Väter mit geringsten Mitteln von einfachen Leiden befreien kann. Worum es geht, sind die jährlich fliessenden Milliarden der Zahlungsbilanzhilfe und die staatlich finanzierte Projekthilfe. In manchen Ländern hinterlassen die Finanzspritzen in erster Linie wachsende Schulden und nebenbei vielleicht etwas Lärm um Korruptionsskandale; und die grösseren Projekte, über die eine Buchführung vorliegt, erweisen sich zu oft als Schläge ins Wasser.

Seit Jahren greift diese Botschaft Raum, vor allem in Afrika selber, aber nicht nur. Nirgendwo ist ganz Afrika so krank wie in den Medien, und da es fast nur Katastrophen sein können, was Afrika Publizität verschafft, muss wohl auch die Hilfe insgesamt ein Desaster sein. Wer sich an diesem Malaise am wenigsten stosse, so doppelt diese Enthüllung nach, das seien die in dieser «Hilfe» Engagierten, die Expatriierten im Feld wie zu Hause die Bürokraten ihrer Verwaltungsapparate. Das lukrative Geschäft der Hilfsorganisationen sei es, in reichen Ländern den weniger reichen Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen, um es Afrikas schwerreichen Despoten in den Rachen zu schieben. Die Ankläger folgern aus dieser handlichen Formel nicht, dass nebst dem notleidenden Kontinent auch der inkriminierten Hilfe zu helfen sei. Ihr Schluss lautet kurz, dass die Hilfe nicht nur nichts nütze, sondern vielleicht mehr schade.

Verzagte Verteidigung

Die Verteidigung der Hilfe tut sich schwer. Eine Erfolgskontrolle kann nur am einzelnen Projekt schlüssige Resultate ergeben. Gesamtbilanzen erlauben keinen Beweis, dass es die Hilfe war, die im Falle von Verbesserungen den Ausschlag gegeben hat. Die Ankläger - mit dem Verweis, sie seien es, die bezahlten - schieben der Verteidigung die Beweislast zu, und dies, ohne sich bei der Frage nach Alternativen aufzuhalten. Die britische Zeitschrift «Economist» zitiert einen führenden Londoner Experten mit dem Fazit: «Verfügbare Bestandesaufnahmen belegen in der Regel nicht überzeugend, dass alternative Strategien, welche Hilfe ausschliessen, zu rascheren Verbesserungen in der Lebensqualität der Armen geführt haben, als sie mittels Hilfe erreicht wurden.» Gemeint ist das zugunsten der Hilfe. Doch auch die Beobachtung, wonach in Theorie und Praxis der Hilfe endgültige Beweise einer kontraproduktiven Gesamtbilanz ausstehen, stimuliert nicht zu brausenden Hochrufen. Wenn vor diesem Hintergrund von engagierter Seite weiter versichert wird, die Hilfe kranke nur an einer entschieden zu knappen Dosierung, so ist mit dieser Diagnose schwerlich geholfen. Grosse Organisationen wie die britische Oxfam, die nach wie vor einen Marshallplan für Afrika fordern, sind Rufer in der Wüste, und vor manchen Hindernissen und Missbräuchen, welche der Hilfe ihre unbestreitbaren Misserfolge bescheren, schliessen sie zu rasch die Augen.

Moralisierende Plädoyers halten der Hilfe mildernde Umstände zugute. Noch vor hundert Jahren war von grossen Teilen des Kontinents nichts bekannt, und die einzige Frage, die nicht ganz akademisch war, war die Frage ihrer Zugänglichkeit. Was Hilfe getauft wurde, fiel in eine späte Phase des bisherigen wirtschaftlichen Austausches, worin der Schaden nicht in erster Linie durch sie angerichtet wurde und wird. Heute kommt auch das tüchtigste zivile Vehikel nicht voran auf Strassen, die unter zu vielen Panzerketten zerborsten sind. Macht jemand dafür Konstruktionsfehler des Vehikels verantwortlich? Weshalb überhaupt wären ausgerechnet an die Hilfe, vielleicht das Schwierigste auf der Welt, derart unverhältnismässige Ansprüche zu stellen? «Man muss zwischen Kunst und guter Kunst unterscheiden», sagte ein amerikanischer Philosoph, «denn die meiste Kunst ist schlecht.» Ein zwingendes Argument zur Abschaffung aller Kunst ist das nicht. Wer die Hilfe verdammt, weil ihre Resultate nicht immer dem guten Willen gehorchen, der verficht eine Moral, welche von einem Problem nur Kenntnis nimmt, wenn dafür eine makellose Lösung vorgelegt wird.

Nuancen der Logik

Demgegenüber scheint zum Beispiel die Uno mit Geduld imprägniert. Sie selber, mehr noch als die Heerscharen ihrer Kritiker, ist vertraut mit dem Umstand, dass es sich bei ihr um eine mangelhafte Institution handelt - eines wenig offensiven Charakters auch, der noch auf Selbstverteidigung lieber verzichtet. Anders etwa die nigerianische Polizei, von der für niemand in Frage steht, dass sie eine abscheuliche und furchterregende Einrichtung ist. Gäbe es an ihrer Stelle in Lagos aber gar keine Polizei, ginge es der überhitzten Metropole nicht besser, sondern nur schlechter. Das geringere Übel der nigerianischen Polizei ist deshalb nicht automatisch ein kleines, es kann noch immer ein sehr grosses Übel sein.

Einst hiess es, in der Wahl zwischen zwei Übeln entscheide die Vernunft für das kleinere. In der Schweiz zeigt der Volkswille hie und da dennoch unverkennbare Neigungen für das Argument, wonach in der Wahl zwischen etwas Unbefriedigendem oder gar nichts nur gar nichts den Vorzug verdienen kann. Beim Kauf eines Autos mit halbvollem Geldbeutel gilt das nicht, aber es gilt beim Abstimmungsentscheid, wonach einer Welt mit einer Uno, wie wir sie kennen, eine Welt ganz ohne eine solche Organisation vorzuziehen wäre. Für den Fall, dass Bemühungen um friedenssichernde internationale Institutionen dennoch nicht jeder Sinn abzusprechen ist, liefert die völkerrechtliche Souveränität den Zahlungsunwilligen die Freikarte zum Schwarzfahren. Angesichts solcher Befunde ist für ein Argument wenig gefährlicher als ein Rückgriff auf Moral; denn ein Griff ins Leere lässt von dem Argument nichts übrig.

Malträtiertes Gewissen

Das Wort «Hilfe» trägt viel dazu bei, dass das damit Bezeichnete verkannt, oft elementar missverstanden wird. Das Wort trägt Klänge wenn nicht gar von tätiger Selbstlosigkeit auf der Seite des Gebers, so doch von Uneigennützigkeit seiner Motive. Mit Blick auf den Empfänger suggeriert das Wort, es bekomme jemand etwas geschenkt. Dass die Hilfe nicht seit geraumer Zeit abgeschafft ist, weckt dagegen die starke Vermutung, dass sie ganz andere Motive hat. Angesichts der Gegebenheiten erweist die moralische Verteidigung, die auf schöne Motive setzt, der Hilfe vielleicht einen Bärendienst. Sie nagelt sie fest auf das Fundament einer Philanthropie von weithin imaginärer Natur. Dass in dieser schlechten Verteidigung die eigenen guten Absichten nicht in Frage gestellt werden dürfen, gebietet womöglich die Pflege des eigenen Gewissens, was allerdings alles nicht besser, sondern schlimmer macht. Im Dauerappell an caritative Emotionen setzt das Gewissen des wohlgenährten Nächsten seinerseits Hornhaut an, und sein Glaube schwindet, je öfter er die Botschaft vernimmt.

Die Hilfe ist Teil eines wirtschaftlichen Austauschs, spielt eine Rolle zunächst für den Geber, und dies als ein eher marginales Rädchen im Getriebe hochentwickelter Volkswirtschaften. Deren gemeinhin als überlebensnotwendig erachtetes Wachstum wird dadurch in bescheidenem Umfang gefördert. Bestritten wird die Hilfe aus Steuergeldern, und dies gemäss demokratisch artikuliertem Volkswillen, oder aus privaten Spenden. In einem Kreislauf, der im Geberland die Beschäftigung erhöht, fliesst ein grosser Teil der Mittel am Empfänger vorbei direkt zur Quelle zurück. Beispiele geben zahllose, oft sehr fragwürdige Grossaufträge im Bausektor. Was in diesem Kreislauf für den Empfänger abfällt - der kleinere Teil -, sind Überschüsse an Kapazitäten und Produktivität, die andernfalls der Wirtschaft des Gebers Probleme bereiten müssten. Die öffentliche Entwicklungshilfe der Industrienationen sollte gemäss ihrem Einverständnis nicht weniger als 0,7 Prozent des Sozialproduktes betragen, was nur in wenigen Staaten - etwa in einigen der nordischen - erreicht wird. Auf Geberseite scheint die Hilfe demnach nicht stark ins Gewicht zu fallen. Eine grössere Rolle spielt sie unter Empfängern, wo sie in einem Land wie Moçambique den gesamten bezifferten Ausstoss der eigenen Wirtschaft übertrifft und bis zu 90 Prozent der Staatseinnahmen beisteuert.

Ein offenkundiger Sinn

Es wird oft und mit gutem Grund festgestellt, dass bestimmte Geschäftspraktiken den schwächeren von zwei Partnern in den Ruin treiben können. Im Interesse des stärkeren hält ihn die Hilfe - auf niedrigem Niveau wenigstens - bei der Stange. Mittels der Zahlungsbilanzhilfe erhält die internationale Finanzwelt sich weiterhin kreditwürdige Schuldner und damit dem Weltmarkt Kundschaft. Projekthilfe gibt Unternehmen in den Geberländern Gelegenheit, sich über Aufträge in Empfängerländern aufzuhelfen. Dies ist es, was gegenwärtig Hilfe heisst. Für Rechnungen und Beweise ist hier kein Raum, doch es ist wenig Gewagtes an der Vermutung, dass dieser grösstenteils stark regulierte Kreislauf nur so lange in Gang bleibt, als er zum Gesamtnutzen der Volkswirtschaft des Gebers beiträgt. Tut er es aber, so bietet er ein tragfähiges Argument, welches den Sinn und die Moral der Hilfe nicht an die Überwindung der ewiglich egoistischen Natur des Menschen zu binden hätte.

Zaires Mobutu, Kenyas Moi und anderen Despoten in Afrika sind ihre Riesenvermögen nicht geschenkt worden. Diese zeigen, dass zwischen den Kontinenten nebst der Hilfe einträgliche Geschäfte im Gang sind. Ruinieren solche Geschäfte afrikanische Länder tatsächlich, wonach im Extremfall ausser Hilfe kaum etwas übrigbleibt, so spricht dies wiederum nicht gegen den Sinn und die kommerzielle Vernunft der Hilfe; es spricht gegen die betreffenden Geschäfte und deren kommerzielle Vernunft, falls allem Anschein zum Trotz über den heutigen Tag hinausgeblickt werden sollte. Eine Moral, die sich als Widersacher des Eigeninteresses aufbauen will, hat unter ihren Anhängern viel Wankelmut in Kauf zu nehmen. In den Ländern der Dritten Welt wäre es unklug, die Hoffnungen auf Entwicklung auf einen Vormarsch des Altruismus in den Industriestaaten zu gründen. Diese ihrerseits hätten in einer sinnvollen Hilfe ihre Eigeninteressen nicht ausser Kraft zu setzen, sondern nur etwas zielbewusster in beidseits nutzbringende Bahnen zu lenken. Ein Industrieller, dessen Produkte Märkte einbüssen, hat umzusatteln. Entsprechende Lernschritte wären im Austausch zwischen Nord und Süd auf die Tagesordnung zu bringen. Insofern bleibt zu betonen, dass an der Hilfe das wichtigste ihre Konditionen sind, womit allerdings nicht nur der Führungsstil des Regimes im Empfängerland, sondern nicht weniger die Politik seiner so hochentwickelten Geschäftspartner in Frage steht.

Ein offenkundiger Unsinn

Der «Economist» verweist auf Zahlen, wonach arme Länder mit grossem Rüstungsbudget pro Kopf der Bevölkerung doppelt soviel öffentliche Hilfe erhalten wie Staaten, die diesen Posten gering halten. Das Gegenteil wäre die bessere Voraussetzung für Entwicklungshilfe. Es ist dies vielleicht die Stelle, um anzumerken, dass von Bestrafung destruktiver Regime durch Entzug der Hilfe nur so weit Wirkung zu erwarten ist, als für eine konstruktive Alternative Belohnung in Aussicht steht, was leider kaum der Fall ist. Von den Waffenlieferungen an dieselben Länder stammen etwa 85 Prozent von den fünf ständigen Mitgliedern des Uno-Sicherheitsrates, von dem vor kurzem die Doktrin erging, dass die Aufgaben despeacekeeping nach Möglichkeit von Staaten der betroffenen Region zu übernehmen seien. Doch was für das Drogengeschäft gilt: dass es unter anderem auch in den Produzentenländern bekämpft werden soll, hätte auch für das Rüstungsgeschäft zu gelten. Vielleicht ist der Schwarze Kontinent nach drei Jahrzehnten Unabhängigkeit so weit heruntergewirtschaftet, dass viele seiner Länder jede Relevanz als Geschäftspartner verloren haben. Der Kontinent wird jedoch genügend Vitalität behalten, um dem reichen Norden anderweitig - Stichwort Migration - Probleme zu bereiten, angesichts welcher den verpassten Chancen vorbeugender Hilfe noch bittere Tränen nachgeweint werden könnten.

Angola ist recht fern. Alimentiert wird sein Bürgerkriegsdelirium mit Erdöl und Diamanten, welche gutenteils westliche Märkte erreichen. Ein Militärregime Nigerias wie das unter Sani Abacha, welches in ganz Westafrika den Takt vorgibt, lebt von westlichen Ölgesellschaften - die freiheitliche Alternativen gewiss vorzögen, solche Fragen aber nicht zu ihren Prioritäten zählen. Nigerianische Bürgerrechtskämpfer wie Wole Soyinka oder Beko Kuti sind so weit, dass sie in einer Behandlung, wie sie Saddam Hussein und dem Irak zuteil geworden ist, den einzigen Ausweg sehen. Von Rwandas Massenmord ist zu sagen, dass die französische Militärkooperation entschieden mehr zu seiner Ermöglichung als zu seiner Verhinderung beigetragen hat. Es gehört zur Kehrseite desselben Wahnsinns, wenn die Folgen einer derartigen Panne westlicher Politik nun manchenorts Zweifel am Sinn der Hilfe gefördert haben.

Schluckauf

«Das Beste, was wir für die verschuldeten und die unterentwickelten Länder tun können, ist, unsere eigene Vorstellung davon zu klären, was nötig wäre, damit Entwicklungsanstrengungen Erfolg haben önnten.» Diese Art Neubeginn empfahl nicht ein engagiertes Plädoyer für die späte Entwicklung von etwas mehr Altruismus beim Geber, sondern ein Leitartikel des «Wall Street Journal», datiert vom 28. Juni 1985. Waren in den vergangenen zehn Jahren in dieser Richtung Regungen zu verzeichnen? Was die Geberstaaten betrifft, so ist unter deren Angehörigen in Afrika wenig davon zu spüren. Setzt man sich in Rwanda zwischen Vertretern von Hilfsorganisationen, Diplomaten und Journalisten an den Mittagstisch, dann hat zunächst die obligate Diskussion über die Ursachen des Genozids unumgänglich kontrovers zu verlaufen. Unumgänglich geht sie über in die Debatte um Afrika und die Hilfe. Nun mengen sich sämtliche Fragen ineinander - Hungerhilfe und europäischer Agrarprotektionismus, Exportrisikogarantie und Analphabetismus, Peacekeeping und die Asylproblematik . . . In ihrer gequälten Originalität überbieten sich die Bonmots, die sich in einem zusammenfassen: «Wäre es nicht besser, aus tief und langsam fliegenden Frachtmaschinen gleichmässig Eindollarnoten über den Kontinent auszustreuen?» Durch den ausgelaugten Geist solcher Runden kreist Tag für Tag derselbe kollektive Schluckauf.