Afrika gibt es nicht
Randbemerkungen in berichtigender Absicht
Unter dem Titel «Afrika gibt es nicht. Korrespondenzen aus drei Dutzend Ländern» erscheint demnächst in der von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen Reihe «Die Andere Bibliothek» (Eichborn-Verlag) eine Sammlung von Berichten unseres Afrikakorrespondenten. Der nachstehende Text ist eine gekürzte Fassung der Einleitung zu dem Band.
In der nördlichen Hemisphäre gibt es viele Leute, die glauben, Afrika liege am Meer und dort herrsche ein heisses, ein unerträgliches Klima. In aller Regel seien die Menschen schwarz, glauben die Leute, und die Mehrzahl der Afrikaner, wie sie dort unter der glühenden Sonne ackerten, hätten die meiste Zeit Hunger. Afrika, wo mit dem Boden, der Luft, dem Wasser, wo mit allem und jedem von Grund auf alles und so vieles auch mit dem Charakter der Menschen verkehrt ist und wo nur diese exotische, attraktive, aber fast ebenso unmenschliche Tierwelt floriert - einen solchen ganz eigentlich bestialischen Kontinent gibt es nicht.
Sich selber unbekannt Es ist nicht nur dieses Afrika, das es nicht gibt. Afrika gibt es zunächst und vor allem in Afrika nicht. Nicht nur ein Interesse an Afrika gibt es in Afrika nicht. Der Durchschnittskenyaner interessiert sich für ein afrikanisches Land wie Gabon weit weniger als für das randständigste Land Europas und weit weniger, als der Durchschnittsalbaner seinerseits sich für ein Land wie Paraguay interessiert. Einem Angolaner ist der Name Ghadhafi geläufig dank einer vagen Assoziation mit dem Namen Castro, und bei beiden Namen ist er gleichermassen fern von einem Gedanken an Afrika. Einem Nigerianer ist die malawische Hauptstadt Lilongwe so fern wie die laotische Königsstadt Luang Prabang. «Mali?» hakt der äthiopische Ingenieur nach, der sich an der Flughafenbar in Addis Abeba beim Nachbarn nach dem Reiseziel erkundigt, «Mali, ist das ein Land in Afrika?» Das Phänomen beschränkt sich nicht auf den Inhalt der Köpfe. Luanda und Rio, Mombasa und Bombay, Tunis und Marseille liegen sich unvergleichlich viel näher als Khartum und Windhoek, Freetown und Antananarivo oder Lusaka und Dakar. Was diese als Repräsentanten eines gemeinsamen Kontinents zusammenbringen kann, ist nur der afrikanische Fussballcup.
Zuvorderst immer die Hilfe Um eines sogleich vorwegzunehmen: Sollte es sich bei Afrika um jenen einzigen grossen Versorgungsnotstand handeln, als welcher der Kontinent unausweichlich zuerst porträtiert wird, dann gibt es Afrika nicht. Was es gibt, ist noch immer eine grosse Zahl verbrecherischer Regierungen, die mit der denkbar destruktivsten Landwirtschaftspolitik die Bauern vom Land in die Städte treiben, wo sie anstelle der Vielfalt ihrer Feldfrüchte fortan das billigste Weissbrot essen und sich aus der Abhängigkeit von den Getreideüberschüssen der OECD-Länder nicht mehr zu lösen vermögen. Ist in Umkehrung solcher einfacher Tatsachen von Afrika aber als dem ganz grossen Hilfeempfänger die Rede, dann gibt es Afrika ebensowenig, wie auf dem Kontinent ein nördlicher Altruismus eine Spur hinterlassen hätte.
Zum Thema Hilfe sei an dieser Stelle zweierlei angemerkt. Zum einen lässt heute schon ein Tagesdurchschnitt von fünf Minuten Zeitungslektüre kaum einen Zweifel daran, dass das meiste, was im Zusammenhang mit der Dritten Welt Hilfe genannt wird, Leerlauf ist und folgerichtig wenn auch nicht einmal immer sich selber, so doch nie dem Adressaten zugute kommt. Es wütet ein mediengerechter Geist, der seine Berufspflicht Kritik nennt: etwas, das für ihn nur an der gewissen Tonlage erkennbar ist, und dieser Ungeist macht glauben, obendrein seien bei der Hilfe grosse Geldmengen im Spiel. Abgesehen vom Geiz, beweist die Eingängigkeit dieses Liedes nur, dass das Publikum wenig von Geld versteht. Der Haushalt der Stadt Zürich wies 1993 Ausgaben von etwas mehr als fünfeinhalb Milliarden Schweizerfranken aus. Der Bevölkerung Afrikas, 1500mal mehr Menschen als die Einwohnerschaft Zürichs, fehlt in der gesamtkontinentalen Zahlungsbilanz ein Betrag in etwa der dreifachen Höhe. Es fehlt ihnen pro Kopf ein Fünfhundertstel dessen, was die öffentliche Hand der Stadt Zürich pro Einwohner ausgibt.
Zum anderen bleiben von solch feinsinnigen Betrachtungen über die Hilfe die Fakten gewöhnlich ganz unberührt, nicht etwa nur die Frage, wieviel Hilfe viel oder zuviel und wieviel Hilfe wenig oder zuwenig wäre. Auch wenn, wie so oft zu hören, in Afrika 100 000 westliche Entwicklungshelfer am Werk sein sollen, so fällt bei einem Durchschnitt von 6000 angezielten Nutzniessern nicht jeder auswärtige Bürolist oder andere Helfer überall pausenlos auf. Im Gegenteil, oft gibt es auch ihn - und die Hilfe - beinahe nicht.
Ebenso viele Lösungen wie Probleme Man hört immer wieder, wo Afrika ist. Afrika ist, wo für alles stets eine Lösung gefunden wird - obschon sie in einer grossen Mehrzahl der Fälle sich nicht vom betreffenden Problem unterscheiden lässt. Es kann eine Schuld nicht bezahlt werden? Also erledigt sie sich und wird nicht bezahlt. Unterscheidet das Afrika zuverlässig genug von der übrigen Welt? Oder ist das vielleicht Afrika, wenn für das gestern benützte Formular der Wäscherei auch im Luxushotel niemals von selber Ersatz eintrifft? Dieser Ärger mag einen innersten Kern von Afrikas Problemen geortet haben, aber in der Unterdrückung des Seufzers darob könnte das «Interconti» in Bukarest die gleiche grosse Meisterschaft lehren wie das «Méridien» in Lagos. Gewiss, die Post in Afrika ist imstande, die italienische zu unterbieten, aber normalerweise nur in Zaire. Die Beispiele liessen sich mehren - zu Afrika und zur übrigen Welt.
Wenn das grosse Afrika einheitliche Merkmale aufwiese, dann wären dies, ähnlich wie bei der kleinen Schweiz, negative Bestimmungen: Afrikaner zeichnen sich dadurch aus, dass es sich bei ihnen nicht um sonst jemand handelt, um keine Asiaten, keine Amerikaner oder Australier, und unter gewissen Aspekten verdienen solche negativen Befunde Beachtung. Afrikaner sind keine Buddhisten. An der Oberfläche prägen den Schwarzen Kontinent markant europäische Züge deshalb, weil - ganz anders als etwa in Asien - der kolonialen Durchdringung Afrikas keine autochthonen Hochkulturen entgegenstanden und sich unter dem Aufprall des christlichen Hochgottes die eingeborenen Geisterscharen in den inneren, tieferen Forst der Volksseelen zurückzogen. Im Unterschied zu den europäischen Metropolen sind in der afrikanischen Peripherie die Bekenntnisse nach Vorgaben abendländischer Lehrpläne noch ganz geläufig, und die Kirchen sind besser besucht als in Deutschland. Es gibt in Afrika Länder, wo es ausser den Kirchen und dem Erbe der kolonialen Armee an politischen Institutionen kaum etwas gibt.
Auch in Afrika gibt es nicht nichts
Man vergisst dabei leicht, dass es nebst den Heiligtümern eines nigerianischen Yoruba-Hains in Timbuktu die siebenhundertjährige Jinguereber-Moschee gibt und dass von den vier Amtssprachen der Organisation der afrikanischen Einheit nur das Englische, das Französische und das Portugiesische europäischer Herkunft sind, dass auf demselben Kontinent die grosse Mehrheit aller Araber lebt, annähernd ein Zehntel seiner Gesamtbevölkerung allein in Ägypten. Dort, im unteren Niltal, offenbart der Blick nicht nur Unverständnis, sondern darin ganz unverhoffte Steigerungsmöglichkeiten, wenn jemand kundtut, er sei in Afrika und obendrein unter Afrikanern, und auch in einer Rikscha in der madagassischen Hauptstadt Antananarivo äusserte man eine gleichlautende Behauptung mit wenig besserem Recht. Nur in Namibia, in «Südwest», wahren Deutschstämmige unter anderen Eigentümlichkeiten die fixe Idee, bei ihnen handle es sich um eine Art Afrikaner.
Afrika, heisst es, ist der Kontinent von Armut und fortschreitender Verelendung. Dazu lässt sich nicht einfach anmerken, derlei gebe es nicht. In Relation zur wachsenden Bevölkerung nimmt der Ausstoss der Wirtschaft gesamtkontinental ab. Elendsviertel in Lagos und in Kalkutta unterscheiden sich zumindest in der wichtigen Hinsicht, dass Kalkutta Teil eines wirtschaftlich aufsteigenden, Lagos dagegen Teil eines absteigenden Ganzen ist. An Afrikas übergreifend negativer Bilanz ändert die Feststellung nichts, dass in Gabon das Einkommen pro Kopf der Bevölkerung fast dreimal so hoch ist wie in der Türkei, während, vergleicht man die afrikanischen Länder untereinander, dieser Wert um Faktoren von bis zu 40 und noch mehr variiert.
Unterschiede und eine Mär von Grenzen Solche Unterschiede lassen Afrika unter sozialen Gesichtspunkten tiefer zerklüftet erscheinen als jeden anderen Kontinent. Aber sie prägen nicht einen Erdteil, auf welchem angeblich Dutzende von natürlichen, historischen, sozialen oder sogar politischen Einheiten überall durch die Hinterlassenschaft der Kolonialgrenzen zerstückelt werden. Der verständnisinnige Hinweis auf die fatale Natur der ererbten Grenzen verdient Erwähnung, weil er zu einer naheliegenden Frage Anlass geben könnte. Während Afrika seit der Unabhängigkeit unter zahlreichen Bürgerkriegen litt, zählt man in drei nachkolonialen Jahrzehnten unter 48 Staaten südlich der Sahara an zwischenstaatlichen Kriegen im vollen Wortsinn nicht mehr als zwei - einen zwischen Somalia und Äthiopien 1977/78 sowie ein Jahr später einen zwischen Uganda und Tansania. Warum gab es davon nicht mehr?
In Fragen wie jener der afrikanischen Grenzen haben die geltenden Lehrmeinungen meist überzeugte Verfechter. In Afrika mag der kalte Krieg zu Ende sein, aber noch nicht recht im intellektuellen Disput etwa um die «pauperisierte» Südhemisphäre. Das nötigt zum Hinweis, dass es bei diesen Grenzen weder um Qualifikationen wie ihre Willkürlichkeit oder ihre Widernatürlichkeit noch um ihre Heiligkeit geht, sondern nur darum, dass es sich dabei weder um das afrikanische Grundübel noch um eine von zwei oder drei solcher Schlüsselkalamitäten handelt.
Unerlässlich ist in solchen Debatten ferner der Hinweis auf die unzwingende Natur mancher Umkehrschlüsse: Ist etwas nicht stets etwas ausgesucht Böses, so ist es nicht allein deshalb etwas besonders Gutes. Afrikas Grenzen, wie andere politische Werkzeuge und Waffen, sind von mehr oder von weniger papierenem Wesen. Danach bemisst sich das Gewicht ihres Beitrags zum Besseren oder Schlimmeren, das weniger in dem Instrument als in seiner Verwendung liegt. Im einen Fall leisten Grenzen einen beklagenswerten Beitrag dazu, dass eine schuldige Konfliktpartei nicht verfolgt und gestellt werden kann, im anderen Fall hilft sie die Ausweitung eines Konflikts zu verhindern. Ihre Rolle bestimmen beide Male die Verhältnisse der Nachbarschaft.
Nach aussen gewandt Migrationsbewegungen können Probleme sowohl schaffen wie lösen, und Grenzen können beidem entgegenstehen. Im Warenverkehr liegt alles an den Veränderungen der Märkte, wenn die Handelskarawanen der Tuareg zum Erliegen kommen; andernfalls vermöchte keine Grenze sie aufzuhalten. Falls der Kontinent dem Freihandel zugetan ist, dann ist auch bei dieser wirtschaftspolitischen Kardinaltugend in Afrika mit besonderen Merkmalen zu rechnen. Was das Gegenteil, den Protektionismus, angeht, so gilt im afrikanischen Binnenverkehr, dass politische Schutzschranken - genau wie andere Schikanen - nicht mehr wert sind, als sie abwerfen.
Auch fernab von den Städten ist eine Grenze nicht immer das Förderlichste für Begegnung und Austausch, doch es gibt auf dem Kontinent Staatskarikaturen, woran die Grenzen gewiss noch das Beste sind. Findet sich an besteuertem Wandel und Handel zuwenig, dann wird da und dort gerne das Manko an internationalen Schranken durch interne Abmarkungen kompensiert, und so tragen die Binnenzölle zur Stimulation des allernötigsten Geldumlaufs bei. Verdienen daran zu oft die Falschen und ziehen das Geld zudem aus den falschen Taschen, so hat das wiederum weit weniger mit den Grenzen als mit der Eigenart afrikanischer Behörden zu tun.
Abgesehen davon, dass es ein afrikanisches Verhängnis allgegenwärtiger Trennwände nicht gibt, ist damit erstens das politische Malaise verkannt, dass das ererbte Grundübel Afrikas in einem furchtbaren Übermass an Zentralimus besteht. In diesem Bild administrativer Zerstückelung wird zweitens ein tief wurzelndes Problem ökonomischer Art in sträflicher Weise unterschätzt. Denn bei näherem Zusehen zeigt sich an Afrikas Volkswirtschaften, dass nichts sie zu einem kontinentalen Ganzen zusammenzufassen erlaubt. Die Schläuche, welche die einzelnen Länder mit der Aussenwelt verbinden, führen sämtliche ohne Umweg hinaus aus dem Kontinent, direkt in nördliche Volkswirtschaften. Die Ausnahme Südafrika, woher benachbarten Ländern etwas vom Tropf - oder von den Abfällen - zuteil wird, bestätigt diese Regel. Der Binnenaustausch zwischen den 53 afrikanischen Ländern hält am kontinentalen Aussenhandelstotal einen Anteil in der Gegend von fünf Prozent. Es gibt Märkte von ansehnlicher Ausdehnung: etwa den Wirtschaftsraum des kamerunischen Streichholzes oder jenen der gabonesischen Seife. Doch obschon man die Ohrringe der Tuareg ebenfalls in mehr als fünfzehn Ländern auf der Strasse kaufen kann, macht der Entwicklungsstand des Binnenaustauschs nur klar, dass zwischen Afrikas zahlreichen gebrechlichen Gliedern, dass zwischen den Gemächern des grossen Armenhauses denkbar wenig Verbindungen bestehen.
Noch mehr böse Wörter Ähnlich wie eine perverse Natur des damit Bezeichneten sich dem Wort «Grenzen» abhören lässt, erledigt ein Wort wie «Korruption» die Fragen, zu denen es Anlass gäbe. Auch im Weihnachtsverkehr eines Schweizer Wintersportorts hat das Trinkgeld auf die Geschwindigkeit des Expressboten der Post einen gewissen Einfluss. Der marokkanische Briefträger unterscheidet sich von ihm nicht. Ein Wort wie Freundschaft erhält weltweit einen Beigeschmack, wenn es sich mit dem Wort Geschäft verbindet. Gibt es einen Kontinent der Korruption, ist es gleichwohl Afrika. In Gesellschaften, wo Arbeit nicht honoriert wird und noch die lachhaftesten Löhne wenn überhaupt, dann am 95. Tag des Monats bezahlt werden, entwickeln sich weitergreifende Mechanismen der informellen Umverteilung. Oder soll im Kongohafen von Kinshasa, im vollständig privatisierten Zaire, nur der Gepäckträger, niemals dagegen der Polizist oder der Zollbeamte zu etwas Kleingeld kommen?
Zwischen dem uneingeforderten Trinkgeld im Speiselokal und der massiven Bestechung in der Beschaffung von Grossaufträgen dehnt sich ein breites Kontinuum zahlreicher Übergänge von Legalem oder rechtlich Irrelevantem zu Halblegalem und von da aus weiter zum unzweideutigen Gesetzesbruch. Jene Umverteilungsmechanismen zeigen Leistungen eines frappanten Raffinements, und oft wären sie und ihre Ambivalenzen interessanter als ihr Ruch. Doch Korruption ist, man hört es, schlecht. Fern davon, etwas zu erhellen, hält deshalb das Wort - fast wie etwa das Wort «Unterdrückung» - einen sehr grossen Topf bereit, in dessen dunklem Innerem, ob fein oder grob, alle Unterschiede auf Nimmerwiedersehen verschwinden.
Nachrichten sind schlecht Instabilität findet auswärts mehr Aufmerksamkeit als Ruhe und Ordnung, denn bekanntlich sind good news no news, und dies ganz besonders, wenn es um Afrika geht. Der Mensch will die Welt verbessern, und dazu braucht er nicht in erster Linie zu wissen, was an der Welt bereits gut ist. Auch wenn es nicht um Afrika geht, schlägt sich die Presse deshalb zu Recht mehr mit den Gebrechen als mit der Gesundheit herum. Das Pflichtenheft der Medien setzt an die erste Stelle die Krise und stellt ein Problem in der Regel hoch über die Lösung, und so bleibt Afrika ein Kontinent, der auf seiner ganzen riesigen Fläche und unter gleich welchen Umständen stets aufs neue Chaos produziert und reproduziert. Dieser einzige umfassende politische Ausnahmezustand ist ein Klischee.
Viel zu viele Leute gebe es in Afrika, lautet ein gefestigter und wohl durch nichts zu korrigierender Glaube. In Afrika, auf annähernd zehnfacher Fläche Indiens, lebt eine Gesamtbevölkerung von vielleicht drei Vierteln der indischen. Angesichts des ungemeinen Reichtums an natürlichen Ressourcen und einer gesamtkontinentalen Siedlungsdichte von wenig über zwanzig Einwohnern pro Quadratkilometer liesse sich zur Bevölkerung anmerken, dass es sie eigentlich fast nicht gibt. Dieser Sachverhalt trägt zu Afrikas Entwicklungsproblemen erheblich bei. Wie es von verantwortungslosen afrikanischen Politikern stets wiederholt wird, hat der Kontinent Bevölkerungszuwachs nötig. Der springende Punkt liegt in der hoch übersetzten Geschwindigkeit, die es ausser in Ausnahmefällen verbietet, derzeit auf dem Kontinent von Entwicklungsländern zu sprechen. Was sich vorläufig in Afrika mehrheitlich abspielt, ist nicht Entwicklung, sondern Unterentwicklung - nach der klassischen Definition: Wachstum ohne Entwicklung.
Zu viele Leute? Ein einziger Krieg? Afrika ist ein Kontinent der grossen Leere. Auf einem Territorium grösser als die Iberische Halbinsel führen in Nordtschad 100 000 Seelen ihr Wanderleben, und aus diesen riesigen, in sich gekehrten, abwesenden Räumen hört man meistenteils sehr wenig. Im Nordosten Zaires soll es die Pest wieder geben, aber was weiss man davon? Nur an einigen Rändern ist Strassenlärm und - vorwiegend munteres - Stimmengewirr zu vernehmen. Bekanntlich herrscht da und dort wiederkehrender Gefechtslärm. 1993 waren südlich der Sahara sieben Kriege zu zählen, und dazu kam ein halbes Dutzend Herde blutiger Unruhen. Auf dem leeren Kontinent lag damit die Dichte der mit Gewalt ausgetragenen Konflikte bei einem pro 2,3 Millionen Quadratkilometer. Das Zerrbild einer afrikanischen Allgegenwart des Krieges beruht auf einer Blindheit für Grössenordnungen. In den Grenzen der GUS im Südosten und des Urals im Osten umfasst das grössere Europa ohne Türkei eine Fläche von etwas über 10 Millionen Quadratkilometer. Auf ein Gebiet dieser Grösse entfallen in Afrika vier offene Konfliktherde. Pro Kopf der Bevölkerung gerechnet, ergibt sich mit einem Konfliktherd auf 50 Millionen Einwohner ein aussagekräftigeres und tristeres Bild.
Bis Frühjahr 1994 - vor der rwandischen Katastrophe - stieg der Anteil der Flüchtlinge an Afrikas Gesamtbevölkerung auf gegen ein Prozent, während die Gesamtzahl der Vertriebenen, die sich innerhalb der Grenzen ihrer Staaten aufhielten, auf zwei bis drei Prozent geschätzt wurde. Obschon sie keinen Vergleich mit europäischen Völkerwanderungen vor 50 Jahren erlauben, sind es hohe Zahlen. Aber den Kontinent der kriegsbedingten Obdachlosigkeit treffen unter den vielen, die ihn bereisen, fast nur diejenigen an, die ihn in dieser gezielten Absicht aufgesucht haben. Die grosse Mehrheit aller, die ihn aus anderem Anlass bereisen, macht er durch nichts darauf aufmerksam, dass es ihn gibt.
Afrika gibt es Was weiter an den Rändern der Leere und oft noch mitten in Krisengebieten unüberhörbar erklingt, ist Afrikas Musik, begleitet vom farbenprächtigsten Tanz des Planeten. Was sich zu viele andere Gemeinschaften auf dem Globus am Schwarzen Kontinent zum Vorbild zu nehmen hätten, ist nicht nur Afrikas Lebenslust. Darüber hinaus ist es Afrikas ganz unbekannter Fundus an Toleranz und Afrikas unerschütterliche Selbstverständlichkeit der unwahrscheinlichsten Koexistenzen. Den Kontinent, der Wunden nicht nur schlägt, sondern auch heilt, der seine Millionen von Flüchtlingen nicht nur hervorbringt, sondern stets auch beherbergt und nicht nur so viel sagenhafte Mobilität, sondern auch alle seine übrigen Probleme erträgt - diesen grenzenlosen Kontinent und seine Vitalität gibt es.