Andere Begleitung. Mit H.M.E. im Kongo
Er hat drei oder vier Kilogramm Handgepäck, und damit erscheint er am Ausgang des Flughafens in vorderster Front. Das ist kaum der einzige Grund, weshalb er schon morgens um sieben so aufgeräumt lächelt. In Kileleshwa, an der Olekejuado Road, ist er der erste Gast, der das »Sir« des Butlers erwidert, und das ist angemessen. Mzee Wahome, der House Keeper, der lange ein Butler war, ist heute eigentlich keiner mehr. Die Frage kommt mir erst später, mit welchem Wundermittel er sich gegen alles Umständliche imprägniert hat. Unter seinen Talenten liegt darin vielleicht eines von denen, die am seltensten anzutreffen sind, und mit einer geringeren Portion davon hätte er aus mancher anderen Gabe vielleicht nicht gleich viel gemacht. Im Augenblick will er zuerst viel wissen, was einen in Afrika an allgemeineren Gedanken beschäftigt, über den Kontinent und die Weltordnung, den ganzen Vormittag, bis ich mich erschöpft fühle. Er flog die Nacht durch, und darum schlafen wir am Nachmittag etwas. Nur den Hauptbahnhof will er noch heute sehen und die Post, die ja gleich daneben steht. Am Abend ereignet sich ein Wolkenbruch, ein afrikanischer, wie er ihn zuvor nicht erlebt hat. »Also bis jetzt haben wir doch schon allerhand beisammen«, sagt er in der Veranda des alten Norfolk Hotel zufrieden.
Wir reisen am nächsten Tag weiter. Zum Abschied springt der Hund an ihm hoch, der mit ihm ansonsten gar nichts zu schaffen hat, und deckt ihn ein mit dem Schlamm der Regennacht. Knapp hat er davon Notiz genommen, ehe er es sogleich vergißt, und mit einem kurzen Blick an sich hinab weist er darauf hin, so beiläufig ungefähr, wie er unterwegs zum Kenyatta Airport erkennen läßt, daß ihm auch jenes Vermächtnis Westminsters nicht entgeht. »The General Railway Direction«, spricht er die Worte des Taxifahrers nach, »very stately«, brummt er gemütlich. Eine Frau vermutlich hätte ihn morgen daran erinnert, daß es für Hose und Hemd im Sun-Set Hotel in Jinja eine Wäscherin gibt. Doch er hat recht, es erübrigt sich, die Schlaglöcher unter den Rädern haben es ausgeklopft.
Seinetwegen, glaube ich, brauchten sie nicht deutsches Fabrikat zu sein, die 86jährigen Maschinen der ugandischen Papierfabrik. Aber dem technischen Leiter der Fabrik gefällt das. Sicher, er hat persönlich die Reise nach Deutschland gemacht und sich umgeschaut nach Ersatzteilen. Er kann seine Geschichten erzählen, und er fragt weiter um Rat, denn schließlich sind wir mit einem Brief eines Firmenberaters in Nairobi gekommen. Er ist ein ungemeiner Mann, der schwarze weißbärtige Ingenieur, wie er das Lachen Jupiters lacht und sich vorstellt, nebenbei hätte er zu Hause im Hof einen Daimler stehen. Die beiden verstehen sich prächtig, und ein wenig tut es fast weh, wie sie auf Wiedersehen sagen. Daheim im Norden heißt es von ihm, er mag keine Gäste, die nicht mehr gehen. Hier sind wir ein Weilchen geblieben und müssen doch zu bald weiter.
Auf der Nordbank des Victoria Nile, im Murchison Garne Park, finden wir im Gewirr der sich dutzendfach kreuzenden Buschsträßchen nicht sogleich den kürzesten Weg zur Hauptstraße. Alle Jahre dreimal werden hier einige verspätete Rebellen gesichtet. Die Angst des ugandischen Fahrers steckt ihn nicht an. An der Gegend ist weiter wenig Besonderes. »Auch hier, erstaunlich wenig Giraffen«, murmelt er gedankenversunken. Er sagte es schon, er hält wenig von Nervenkitzel, was nicht heißt, daß ihm alles Waghalsige abgeht. Zum Beispiel hat er keine Zeile Lektüre in seinem Gepäck. Hat sonst jemand etwas zu lesen, liest er dem alles weg, und in der Bar des Speke Hotel liest er die ugandische Tageszeitung »New Vision«, wie es sonst keiner tut. Er liest alles, von der ersten bis zur letzten Zeile. Am liebsten spräche er wahrscheinlich beliebig lange mit allen, und es scheint fast, es gäbe eigentlich nichts, worüber er nicht gerne spräche. Vom Begleiter will er nach einigen Tagen auch wissen, ob er in Afrika leben kann, ohne es mit einer afrikanischen Frau versucht zu haben. Er ist Poet, und einmal bemerkt er, daß ihn »Wollust« ein gutes Wort dünkt. »Denn wir wissen dir Alles«, verhieß der Gesang der Sirenen dem Odysseus, »alles, was irgend geschah auf der vielernährenden Erde«, und überhaupt ist seine Neugierde noch viel stärker als er.
Es ist menschenunmöglich, ihm zu folgen, bei der Geschwindigkeit, mit der er an der Hotelrezeption das Meldeformular ausfüllt. Daß er sich einmal langweilt, sogar das ist denkbar, da wir bereits dabei angelangt sind. Man muß sich ihn nur dabei vorstellen, wie er merkt, daß er auf der Stelle nochmals zwei Dutzend solcher Formulare ausfüllen müßte oder daß eine andere Pflicht sich nicht unter einer gewissen Zeitspanne vom Hals schaffen läßt. Ist es nicht in seinem Geschriebenen ebenso, daß von der Ankunft mehr bleibt als von den Erinnerungen an die Strecke dahin, von den Erinnerungen an die hinhaltenden Tankstellen und an all die Roadblocks mit ihren Ausweiskontrollen, an die verwaschenen, unleserlichen Wegweiser oder auch von den Erinnerungen an die Lappalien der Seekrankheiten? Womöglich geschieht es bei ihm doch auch der Luft und nicht in jedem Falle dem Geist zuliebe, wenn manche Materie im festeren Aggregatszustand transpiriert. Ähnlich wie mit dem Schlamm von den Pfoten des Hundes verhält es sich bei ihm mit den vielen Gedanken, die er rund um sich vorfindet. Nicht alles bleibt an ihm die ganze Zeit kleben, und dank einer Fügung von Umständen hat ihm, bei seiner Unrast und Aufmerksamkeit, das Problem der Verteilung nicht den Atem der Produktion geraubt.
Jetzt fahren wir über Land, und im Auto ist etliche Stunden Zeit, bis wir eintreffen. 0 nein, man muß sich nicht fürchten, daß einem der Stoff ausgehen könnte. Er läßt andere ausreden, und wenn sie schweigen, dann redet er selber. In den Gesprächen mit der Distriktregierung von Arua ist das sehr angenehm, und es wird alles ruhiger, wenn man die Interviews für einmal nicht alleine zu führen hat. Ihm wird schon etwas einfallen. Hie und da spricht er weiter, wenn Einwände ausbleiben. Dann kommt er gerne auf Eindrücke und Fragen zurück, oder ein aufgegebenes, längst vergessen geglaubtes Gespräch von vorgestern kehrt wieder. Vor zwei Tagen haben wir im östlichen Zaire Herrn Popol besucht. »Popol – Popol – bitte kommen!« Der Name hat einen unauslotbaren Klang, und wie der Lenker des Wagens Funkverbindung zu Popol sucht, kommt ein bestimmtes Gefühl dafür auf, daß man im Kongo ist. Die Stimme meldet sich: »Bonjour, ici Popol, wer ruft?« Läßt er sich auf eine solche Art von Magie noch ein? So ausgeschlossen ist nicht einmal das. Und der Mann, der so heißt? Der gebürtige Kongobelgier und, wie alle ihn nennen, der »wahre Bürgermeister von Goma«? Kein einfacher Posten dort, in der Verwaltungshauptstadt der Communauté économique des pays des Grands Lacs, gewiß kein einfacher Posten. Er ist kein Journalist, und bis zu seinem Abflug nach München wird er mit Popol nicht ganz zum Ende gefunden haben.
Nicht alle Fragen schneiden wir an, obwohl die Abende lang sind in Afrika und allein die Bürgerkriege sie nicht zu füllen vermögen. Trennen Umberto Eco und Nelson Goodman mehr als Nuancen in der Frage, was ein Musikstück ist? In der Frage, ob es die Menge aller wirklichen, vorgefallenen Interpretationen ist oder die Menge aller möglichen Interpretationen? In der Frage, worin diese beiden Mengen sich unterscheiden, und dies mehr oder weniger grundsätzlich? Zweifellos hätte er gerne und mit ganzem Elan sich das alles noch einmal von vorn überlegt. Aber es muß nicht unbedingt diese Probe aus dem zeitgenössischen Universalienstreit sein. Bob Dylan und die uralte Frage, ob der Text eines Liedes ohne den Vortrag dasselbe Gedicht ist, rumoren in ihm, daß man es in den paar Tagen mehrmals hört.
»In Ihren Schuhen möchte ich stecken«, sagt am selben Abend ein Schriftsteller in Kampala, und Crispus, unser Begleiter, verweist ihn nach Arua, wo das andere Paar im Dunkeln zurückblieb. Seitdem wir uns zum erstenmal vor Tagesanbruch aufgemacht haben, hat er nur mehr eines seiner beiden Paar Schuhe. Am Flughafen von Bujumbura überreicht er dem Grenzpolizisten den Paß und geht weiter. Für die eigene Person kann er gewisse Gefahren bergen, desgleichen wenn er – in seiner weitsichtigen Art – durch geschlossene Glastüren gehen will. Da sollten schwarze Vögel oder etwas anderes aufgeklebt werden. Doch diesmal ruft ihn jemand zurück, und so ist er amtlich einstweilen identifizierbar geblieben. Jetzt klingelt das Telefon in seinem Zimmer drüben vergeblich, und als ich hinüber gehe und anklopfe, bleibt alles still. Schickt es sich zu beharren? Es ist zehn Uhr vorbei. Was hätte ich von der Wahrheit ahnen sollen! Auf seinem Balkon stand er! Diesmal war er es selber gewesen; der Mücken halber hatte er die Schiebetür ganz zugezogen, dergestalt daß sie von außen nicht mehr zu öffnen ist. Was mag er gedacht haben? Draußen in der rwandischen Nacht mit Blick auf den Kivu-See?
Man sagt, daß im Kivu-See Schwimmen gefahrlos ist. In dem dunklen, umwaldeten See am Fuß der 4000 Meter hohen Virunga-Vulkane sind Gase am Werk, und vielleicht stauen sie sich irgendwo in den zerschründeten Tiefen zu gefährlichen Glocken, die eines Tages sich losmachen und kompakt nach oben gelangen könnten. In Kamerun hat ein solcher Gasaustritt einmal ganze Dörfer ausradiert. Hier soll es dank diesen Gasen den Pärchenegel nicht geben, den Erreger der Bilharziose. Sonst weiß man wenig Genaueres. Anzusehen ist dem ruhigen Seespiegel nichts, bis auf eine Bucht drüben in Goma, wo eine Tafel aus dem Wasser ragt und an dieser bestimmten Stelle vom Baden abrät.
Doch um all dies ging es ihm nicht, als er tags zum Baden keine Lust hatte. Das erfrischende Naß, dem er lieber fernblieb, braucht für ihn weder perfide winzige Biester noch Monstren zu bergen. Es tut es ganz von allein – war es nicht für Lao-tse stärker als jeder Granit? Es ist ein träges, ein schweres Element. Beinahe verändert es die Gesetze des Raums, und mit seinen ungeheuren Kräften kehrt es alle Richtungen in eine einzige Richtung: hinunter. Mir war es stets genau umgekehrt ergangen. Ich komme zwar aus den Bergen, was in Afrika Vorteile hat, aber noch immer geschieht es mir nicht unter Wasser, sondern über dem Boden, daß ich mich plötzlich dem Erdmittelpunkt wesentlich näher fühle. Für ihn dagegen verhält es sich am dramatischsten mit dem Meer, einem unerhörten, einem gräßlichen Ding. Das Meer – womit hätte man es vergleichen können! Mit gutem Grund war es von der Feste getrennt worden, denn erschaffen war es, einzig um die Welt zu verschlingen, zu verschlingen fast wie das große Schiff, das einst so neu und nobel in den Abgrund schoß.
Einmal auf dem Trockenen, mögen die Unterschiede gering erscheinen. Im Reich der Seetiere, dem alles Landleben entstiegen ist, bleiben sie groß. Ein Schweizer Freund kann seinen ganzen mächtigen Brustkorb mit Atemluft füllen, und dennoch, obschon ein leidenschaftlicher Schwimmer, geht er, wenn er untätig ist, unter. Ich – eine Tonne fast ohne Beine – kann beim besten Willen nicht sinken, und selbst das nur, wenn ich den letzten Sauerstoff aus den Lungenspitzen presse, mich ganz energisch zusammenkrümme und noch dann im äußersten Fall höchstens im Süßwasser. Nein, das möchte er nicht, im Meer auf dem Rücken liegend einnicken können, wie es mich bei gutem Sonnenschein mehrere Male erwischt hat. Wie ein eingeweihter Franzose gesagt hat, sind wir aus vielen Dingen gemacht, die uns nicht kennen, und er glaubt mir in diesem Punkt nicht ein einziges Wort. Angesichts des Wassers ist er fest und unerschütterlich wie ein Fels, und er glaubt mir nicht, daß sein spezifisches Gewicht eine Spur zu hoch ist, nein, es kann nicht an ihm, es kann nur am Wasser liegen, daß sein Volumen ein bißchen zu wenig verdrängt. »Ja gewiß«, sagt er, da ich beharre, «es gibt schließlich auch die Levitation, das ist das freie Schweben des Körpers im Raum.« In der Luft, meinte er, und keiner zweifelt, daß, er selber viel lieber spontan die Schwingen ausbreiten und hoch – wie Robert – empor in die Lüfte steigen würde und fliegen und fliegen.
Aber das ist ja alles aktenkundig, seine Lieben zum Leichten, zu Diderot etwa, und »Jacques le fataliste« ist ein Buch, das er gerne geschrieben hätte, keiner plaudert da etwas aus. Ist er nicht insgeheim doch von jeher ein leidenschaftlicher Tänzer? So leicht, wie es ihm immerfort geht? Selbst der alte Electrico, Lissabons hundertjährige Trambahn, hebt in seiner Hand zu tanzen an, während sie in der Wirklichkeit wie ein mittlerer Felssturz über die steilen Stiegen der Alfama herabdonnert. Das Beben, in das sie jede zwölf Minuten das halbe Viertel versetzt – dämpft es sich zwischen den Deckeln seiner Bücher nicht etwas ab?
Nicht alles unter diesem wenigen hier ist allein ihm zuliebe zusammennotiert. Nicht jeder Gemeinplatz wird ihm gerecht, nicht jeder eignet sich zu seiner Würdigung, und einiges verdient Erwähnung, nur weil es viele gibt, denen er darin ein Vorbild sein könnte. Er schläft gerne genug, und dafür ist es ihm anzusehen, wenn er wach ist. Was hätte er da anderes gewollt mit den tauben Blumentöpfen voll Lob, als sich an einem klingenden Punkt des Einspruchs zu freuen? Es wäre so oft zu schön, ihn zu finden. »Das Wort >schwer< ist leicht«, hat er selbst festgestellt und niedergeschrieben. Hört er dennoch etwas zum dreihundertsten Mal nochmals, dann wird er manchmal auf eine schöne, ganz einfache Weise ernst, und besorgt ahnt man sogar einmal etwas von einer Müdigkeit, die ihn befallen könnte, wenn jemand blind auf ihm herumhackt und er sich nicht entziehen kann. »Weißt du«, wiederholt er dann, »es gibt vieles, was du an dir niemals ändern kannst.« Vielleicht hatte er den Komfort, daß er es nicht allzu häufig zu tun brauchte?
Hat einer mit seiner Herkunft mehrere Brüder, wie er sie hat, dann ist davon leicht einer Pfarrer. Wäre es so in seiner Familie, dann dächte man vielleicht daran, wenn er einem einschärft, welches abgründige Mißtrauen er hat gegen all den zeitgemäßen französischen Tiefenschwindel. Will er am Ende doch nicht jede Welt und nicht alles an ihr dekonstruiert und in Säuren gelöst und im innersten Kern ausgehöhlt wissen? Muß es bei ihm doch nicht mit allem unausgesetzt problematischer stehen und schlechter, als es damit bereits steht? »Oh, ich dachte, Mylord, Ihre Yacht sei etwas größer, als sie ist«, bemerkt der Gast zur Begrüßung. »Nein, Mylord, ich bedaure«, versetzt der Gastgeber, »wie Sie sehen können, Mylord, ist meine Yacht nicht etwas größer, als sie ist.« Wie er im Taxi in Kigali – noch schreiben wir 1992 – darüber herzhaft lacht, da kommt mir zum zweiten Mal jene ganz andere Frage, die ich nicht mag. Was für eine Welt müßte das sein, mit der einer wie er sich ganz überworfen hätte? Es ist eine der sonderbaren Fragen, wie sie – vom Himmel herab – die Leute gelegentlich treffen. Man schiebt es mit einem vagen Schrecken beiseite, damit man darauf nicht zurückkommt. Jetzt, zwanzig Minuten nach dem Abbruch meiner vergeblichen Suche nach ihm, der draußen auf dem Balkon über etwas mir Unbekanntes nachdenkt, steht er wieder im Haus und erzählt fröhlich, daß in dem fast leeren Hotel das Zimmer neben dem seinen natürlich belegt war und der Nachbar ihm gerne zu Hilfe kam. An Afrika ist das ein Vorteil, daß dafür keine große Portion vom Glück des Tüchtigen nötig ist. Allein schon dem Putzpersonal zuliebe – aber die Gründe sind viele – verteilt man m Afrika die acht Gäste nicht auf die acht Ecken des überdimensionierten Kastens europäischer Bauart. Einiges kann sich Ha dadurch erleichtern, wenn nicht alle um jeden Preis auseinanderstreben. Wenn alle näher zusammenbleiben, kann das die einen auf Einfälle bringen. Mit seinem Suppenlöffel schöpft Crispus sie direkt von der großen Schüssel zum Mund. Es sind, kurz gebrüht und leicht geröstet inzwischen, die fliegenden Ameisen, die eine Stunde zuvor in der frühen Dämmerung für diesen Großbetrieb gesorgt haben, besonders lebhaft um die Laternen vor dem Hotel mit den paar zahlkräftigen Essern. Sämtliche Frauen mit sämtlichen Kindern haben auf der Straße die Ameisen eingesammelt, und die Farbenpracht der ugandischen Kleider hat er vom ersten Tag an bewundert.
Am nächsten Tag ist auf der Rückreise wieder viel Zeit Wagen, und ich habe ihm doch etwas zu gestehen. Leider gab es in diesem Hotel kein Telefon, wo jemand nach ihm hätte verlangen können. Doch hätte er aus anderer Ursache den Speisesaal kurz verlassen ... – ich glaube, ich hätte aus Crispus' Schüssel gekostet. Es bestand kein Anlaß zu Rücksicht auf ihn. Aber es war einer der ersten Abende, und eine Hemmung, mich in eine Pfadfindermutprobe zu verstricken, hielt mich zurück. Vielleicht war es aus Pietät, daß er sagte, ihm seien ganz ähnliche Gedanken gekommen. Aber er vermag an sich zu halten, auch in der großen musikalischen, mitreißenden Bierschwemme Afrika. Der maßvolle Aristoteliker, als der er sich – es sei denn am Wasser – von morgens bis abends erweist, hält es auch bei den Leviten mit einer gemilderten Fassung: »Ihr müßt«, steht dort, »nicht unrecht handeln mit dem ... Hohlmaß.« Stimmt, er muß es nicht.
Er selber kam darauf öfter zurück, und einmal sagte er, er habe das mindestens dreimal weitererzählt, wie er an seinem ersten Abend in Afrika die Videokopie einer Sendung aus den sechziger Jahren zu sehen bekam. Da diskutierte Adorno mit vier Gehilfen über Samuel Beckett und über die pragmatischen Umstände der Entstehung von »Warten auf Godot« und dergleichen, schwarzweiß und moderiert noch ganz anders als heute. Ich verscheuche den dummen Gedanken, hier in Afrika könnte das heute vielleicht fast etwas afrikanisch anmuten. Die Leute im Inneren des Bildschirms kommen nicht auf die Frage, was sie da weit von zu Hause in diesem Wohnzimmer verloren haben. Aber aus meinem Heim an der Olekejuado Road ist diese Frage nicht endgültig zu vertreiben. Worauf hat der Musikpriester Fela Kuti in einem Frankfurter Bildschirm gefaßt zu sein? Wie findet das Lagos Pidgin aus Felas Shrine von Ikeja hinaus in die Welt? Zwischen all den Betrachtungen zu den angolanischen und den somalischen Kriegen braucht wohl jeder ein persönliches Album mit Erinnerungen anderer Art, und eine liebe Episode gehört zu dem, was ich nach Afrika mitnehmen mußte. Es war einmal ein Mathematiker und Philosoph, in dessen Vorlesungen stets fünf Hörer saßen. Fünfundzwanzig Jahre oder mehr hatte er an der Grundlegung der Arithmetik gearbeitet, und er trat ins Greisenalter ein. Als sein großes Buch schließlich erschien, erhielt er den Brief eines jungen Briten, der mit dem Nachweis eines Mangels sein Lebenswerk aus den Angeln hob. Gottlob Frege hieß der Mathematiker und Philosoph, und der junge Brite hieß Bertrand Russell. Frege reagierte auf die Entdeckung mit intellektuellem Vergnügen. Ich glaube, ich wäre in den zwei Wochen der kleinen Reise nicht darauf zu sprechen gekommen. Er war es; schon am Tage seiner Ankunft fragte er, ob ich darum wüßte.
Er ist überzeugt, daß Rauchen nur bei nachteiliger Konstitution schädlich ist, und was ihn als Mittsechziger angeht, so wird er zweifellos neunzig. Bis jetzt deutet nichts darauf hin, daß er nach einem Biographen sucht. »Du meinst, er hat das Wunder geschafft und ist es geblieben – ein ganz großer Bub?« Ich habe keine Antwort auf die Frage von Franz, dem deutschen Kollegen, und bin erschrocken, daß ich dazu offenbar sollte den Anlaß gegeben haben. Oder erlebe ich jetzt am Ende, wovon er mir bereits zweimal sprach? War das jetzt soeben dieses goldige Wort, das ihn hier in Hamburg wieder einmal ereilt hat – das goldige Wort vom »zornigen jungen Mann«? Muß mir, mit meinen vierzig Jahren, die Unzertrennlichkeit von Mensch und Markenzeichen nicht doch noch ganz unbekannt sein? Hätte ich zu Franz besser gar nicht von ihm gesprochen? Aber nicht doch, geht mir rechtzeitig ein Lämpchen an. In der Verwirrung entgeht mir, welchem Reflex ich es zu danken habe, aber mit ihm jedenfalls kann die Frage nach jenem Wunder nichts zu tun gehabt haben. Franz, der die Frage gestellt hat – da steht er mit einemmal vor mir, zweiundfünfzig, gewichtig und alt, und wie er, schon Urzeiten bevor ich ihn kannte, restlos ergraut sein mußte. Und ist nicht Franz, wie alle es sagen, ein großer Bub geblieben? Da packt er jetzt die Gelegenheit und streckt die Hand aus nach einem größeren Bruder ... Was tut er da mit den Papieren auf seinen Knien? Richtig, er sitzt mit sich in der Schule; seine Lippen bewegen sich, und für einige Augenblicke denke ich, jetzt hat er mich so weit, daß ich nie im Leben ein Buch von ihm negativ rezensieren könnte. Soeben hat mich auch der Hauch einer Ahnung gestreift, zu welcherart Mitteln er nebenbei greift, wenn er so etwas schreibt wie die »Litanei des Es«. Auf einem Blatt hat er die Namen von Afrikas 53 Ländern eingetragen und rechts daneben die Hauptstädte. Jetzt deckt er die rechte Hälfte mit einem zweiten Blatt Papier ab, und Zeile für Zeile arbeitet er sich durch die Liste hinunter. Ich merke, daß ich es nicht werde für mich behalten können.
Auch ihn selber werde ich in irgendeiner Form daran erinnern müssen. Zudem, gestehe ich, war da noch etwas, das ich ja nur zeitweilig vergessen hatte, weil es so schnell gegangen war, und da sich diese Aufzeichnungen jenem Ernst, der von Ehrfurcht kommt, nicht beständig und konsequent entziehen können, so will ich das an dieser Stelle einfügen. Für dieses eine Mal erläßt er es nicht, daß ich ein klein wenig aushole. (Warum auch sollte Abschweifen in Afrika untersagt sein.) »Dickschädel!« liebkost er mich, nicht ungern und beinahe etwas beharrlich. Ist daran nicht am Ende etwas Leichtfertiges, so geschwind wie er stets die Prinzipienreitereien ertappt haben will? Dabei braucht man ihm unter Umständen gar nicht erst zu widersprechen, damit sein ganzer Schwung sich unversehens in Standvermögen umwandelt, damit das Behende in seiner Art eine Notfallbereitschaft zur kognitiven Brachialgewalt erahnen läßt. Es gibt nämlich gewisse Dinge, und da duldet er keine Verklärung. So nennt er zum Beispiel seinen Motor geradewegs Ehrgeiz, und zum Beispiel weiß er auch soviel, daß von aller Kritik die Selbstkritik am wenigsten Überwindung kostet. Man muß dazu nicht allererst einen an sich doch fremden Mitmenschen vors innere Auge zerren, denn selber ist man bereits zur Stelle. Er ist in diesem Punkt manchermann um Meilen voraus, und es kann sich in solch einer Angelegenheit nicht gut anders verhalten haben, als er es sagt. Demnach befand er sich selber einst unter den ersten, die darin, seinem Ehrgeiz, das Krankhafte aufgespürt hatten. Was, falls es Leute gibt, denen nichts bleibt, außer sich zu kurieren? Wenn ein Defekt für einmal – wie in Afrika die meisten – nichts weiter als seine Behebung erzwingt?
Was ist dazu mehr zu sagen? »Fehlen, und nicht lernen, das«, so sagt Konfuzius, »das nenne ich Fehlen.« Dazu ist mehr zu sagen, ich verspreche es, denn beim Abendessen bricht ihm, im Hotel am rwandischen Ufer des Kivu-Sees, ein Backenzahn auseinander. Er erwähnt es und hält die eine Hälfte davon zwischen zwei Fingern. Wer hat für den Fall nicht unverzüglich eine Offerte der Anteilnahme bereit, eine lebhafte Erinnerung an ein eigenes, ganz ähnliches Mißgeschick und an den folgenden zweiwöchigen Muskelkater in der Zungenwurzel ... Als mir vor Jahren in der Westsahara dasselbe passierte, vermochte ich am ersten Abend kaum einen Gedanken zu fassen, geschweige denn festzuhalten. Noch am Morgen darauf führte ich die Interviews deutlich konfuser als sonst. An der Bewegung seiner Lippen ist zu erkennen, daß er mit der Zunge noch einmal zur Unfallstelle zurückkehrt – ganz kurz bloß und auch jetzt mit nicht mehr als drei oder vier Kilo Gepäck. Ein Lächeln huscht über sein Gesicht, ungefähr so vielleicht, als hätte sich beim Anblick eines gerissenen Schnürsenkels eine überraschende Assoziation eingestellt. Es ist zu unwahrscheinlich, daß er sich daran erinnern wird, denn nur das Bild ist einen Augenblick stehengeblieben. Er selber ist längst wieder mit Leib und Seele beim Thema, und in all den folgenden Tagen kommt es nicht wieder vor, daß sein verabscheuenswürdiger Backenzahn sich noch ein einziges Mal einmischt.
»Entschuldigen Sie, daß ich Sie nicht sogleich erkannt habe«, hat der junge Mitarbeiter eines katholischen Hilfswerks gesagt. Überhört haben kann er es nicht, denn er hat es gar nicht gehört, und der Mann des Hilfswerks findet keine Zeit mehr, sich daran zu erinnern. Er hat tatsächlich etwas von einer Autorität, und ich erinnere mich, wie ich selber beim erstenmal mit klopfendem Herzen an seiner Wohnungstür klingelte. Das hatte er abgedreht, diese gewisse Nervosität, ich weiß nicht wie, aber in zwei oder drei Sekunden drehte er es vollständig ab. Afrikaner gibt es wahrscheinlich nicht mehr als eine einstellige Zahl, die ihn am Namen erkennen. Monsieur Alisoana Raharinarivonirina? Auf Madagaskar sind die Nachnamen Sätze, und man neckt sich mit deren Bedeutung: vielleicht »der, welcher auf dem Heimweg ein Kaninchen gefunden hat«. Alisoanas Nachname hat auf achtzehn Buchstaben immerhin neun Vokale. Trotzdem merkt man sich in Alisoanas Umgebung die Nachnamen oft nicht. Sein deutscher Nachname hat ein Dutzend Lettern, nur einen Buchstaben weniger als ein Wort wie zum Beispiel »Sonnenaufgang«, und davon sind acht Konsonanten. Der Vokal ist alle viermal der gleiche. Wie hast du gesagt? Razanbarstar? Wanzasbargar? Arnzansbakar?« Crispus, mein lieber Freund in Kampala, schaut mich ein wenig zweifelnd an. Mr. Magnus – »good morning, Mr. Magnus«, »good night, Mr. Magnus« oder »thank you, Mr. Magnus«, ja, das mag gehen.