Tunguska – Michael Hampe entfesselt die Natur
Totengespräch über Kosmos und Wissenskosmos
«Tunguska oder das Ende der Natur». Totengespräche. In seinen Einleitungen zu den vier Runden mit den Titeln ‹Wasser›, ‹Erde›, ‹Feuer› und ‹Luft› – die vier Elemente des Empedokles – bringt Michael Hampe sie eindrücklich zur Anschauung, die so gute und so böse und stets so gleichmütige Natur; auf und tief unter den Ozeanen, draußen in den Weiten des feurigen Alls, hautnah in allerhand verrauchten Lüften, grandios über der verfalteten Erdkruste Zentralasiens. So vieles auch, was da kreucht und fleucht. Zum Ende bringt er ‹die Natur› mit Personal, dem es an Autorität nicht fehlt. In seinem Buch über das Glück waren es sieben Autoren, sechs davon fiktive. Von Hampe und der Polyphonie seiner Ensembles dürfen wir noch viel erwarten. Diesmal genügen ihm vier Mann.
BLACKFOOOT: Alfred North Whitehead (1861-1947), Mathematiker – und Naturphilosoph; BORDMANN: Adolf Portmann (1897-1982), Zoologe und Entwicklungsbiologe – und Philosoph des Lebens; TSCHERENKOV: Pawel Alexejewitsch Tscherenkow (1904-1990), Teilchenphysiker – und Philosoph der physikalischen Materie; FEIERABENT: Paul Feyerabend (1924-1994), Philosoph von allem – auch Physiker. «BORDMANN. Wo sind wir?» Im Liegestuhl auf der heruntergelassenen Laderampe eines Kühlcontainerfrachters im Nordmeer. Wie so? «BLACKFOOT. Wahrscheinlich ein Bombe.» Aber: «FEIERABENT. Immerhin können wir reden.»
Im Jahr 2011 – oder danach? – reden sie vom Tunguska-Ereignis, zu dessen entferntem Augenzeugen Tscherenkovs Onkel am frühen Morgen des 30. Juni 1908 geworden war. In der westsibirischen Region Krasnojarsk wurden bei einer oder mehreren Explosionen auf einem dünnbesiedelten Gebiet von 2000 km2 sechzig Millionen Bäume wie Streichhölzer umgeknickt. Aus Entfernungen von 500 km war bei Tageslicht ein gleißender Lichtschein zu sehen, Beobachtungen näher beim Epizentrum wurden keine festgehalten. Von dem als Ursache vermuteten Meteoriten fehlen Nachweise. Die Explosion eines großen Methangasdepots? Oder am Ende gar kein Naturereignis? Ein Einzelereignis allemal und eine Parabel ganz im Sinn von Hampes Anliegen.
Auf zahlreichen Forschungsgebieten, nicht nur in «Wissenschaften» wie der von Ökonomen oder Politologen, auch in der Evolutionsbiologie, der Meteorologie und Klimatologie, der Geologie und Vulkanologie, der Medizin, natürlich der Psychologie, nicht einmal die letztere ganz unnatürlich, war das Einzelereignis in seiner unendlichen Komplexität die wegweisende Entdeckung der letzten dreißig Jahren. Wohl dürfte kaum eines davon gegen die Naturgesetze der Wissenschaft verstoßen (Hampe hat auch «Eine kleine Geschichte des Naturgesetzesbegriffs» geschrieben), doch aus ihnen ableitbar ist keines. Die Philosophie, wie Hampe sie im wissenschaftlich-technischen Umfeld der ETH Zürich lehrt, stößt unerschrocken nach, und das Tunguska-Rätsel, bis heute ungeklärt, erhebt sich in Hampes Quartett sogleich als die Frage, was die Natur im Ganzen sei.
Unsere abendländische Kultur stand ‹der Natur› in zweierlei Haltungen gegenüber: auf der einen Seite der Münze als auszubeutendem Rohstoff, auf deren anderer Seite als lebensspendendem und daher schützenswertem Vermächtnis. In beiden Fällen aber als einer von uns abgegrenzten Objektivität, deren Teil doch zugleich mit unserem Denken und Handeln auch wir selber sind – jedenfalls soweit wir «in der Welt vorkommen», ein von Hampe keineswegs geringgeschätzter Umstand (und Ausdruck dafür).
Auch ‹die Natur› scheint darin immer wieder vorzukommen. Haben Hampes Gewährsmänner sich jedoch erst auf ihr sarkastisches Wechselgebrumm eingestimmt, eine glasklare Kammermusik, bleibt die Lektion nachdrücklich dieselbe: daß nämlich ihre Erörterungen auf Schritt und Tritt, wie Hampe sagt, «den Bereich des Natürlichen über das wissenschaftlich Feststellbare hinaus ausdehnen» müssen. Chimären gebar schon die – Hampe nennt sie sokratische – Spaltung der Welt in einen Gegenstandsbereich deskriptiver wertfreier Beschreibung und eine alltagsweltliche Ordnung des Wollens, Sollens, Tuns und Leidens, die normativen Regeln unterliegt. Mit ihren Modellen wiederholbarer, unter experimentellen Bedingungen kontrollierbarer Prozesse konstruierten fortan unsere überkommenen Naturwissenschaften Abstraktionen und Fiktionen, die als praktisch orientierte Vereinfachungen recht nützlich sein mögen und uns zum Mond befördert haben. Einzelereignissen aber reißen ihre Grenzen ein und entziehen sich ihnen, demonstrieren, daß es deren Natur als eine und ganze nicht gibt.
Genau genommen, schreitet derweil die Wirklichkeit ausschließlich in unwiederholbaren Einzelereignissen voran. Die Naturgeschichte selber, der Weltenlauf seit dem Urknall, war und ist ein Einzelereignis, das ohne erkennbaren Grund ins Rollen kam und weiter neue Volten schlägt – für Hampe ‹ein Wunder›. Während also die Natur erst recht beginnen kann, gibt es für das Ganze, soviel mehr nebenbei, noch immer Namen. Der Kosmos etwa. Dieser endet mit Hampe noch nicht, sondern wird – nicht nur der Wissenskosmos – wieder einmal größer.
--------------------------Michael Hampe: Tunguska oder Das Ende der Natur. Hanser, München 2011