Vier Kondome im Jahr. AIDS oder Safer Sex?

Von Georg Brunold, Nairobi (WORLDMUSIC, © Tages-Anzeiger 03.03.2005)

Löcher hätten sie! Zwar nur von 70 Mikrometer oder Tausendstelmillimeter Durchmesser, aber ein Aidsvirus von 0,1 Mikrometer ist 700-mal kleiner. Sogar einem einzelnen Spermium, ca. 60 Mikrometer lang und 5 Mikrometer Durchmesser im Querschnitt, könnten diese Poren im Latex Durchlass gewähren. So verkünden es in wissenschaftlicher Verpackung die Websites US-amerikanischer Evangelisten-Gemeinden (siehe zum Beispiel The Culture of Life Foundation & Institute auf www.christianity.com oder auch Abstinence Clearinghouse auf www.abstinence.net).

Wir können täglich in der Zeitung lesen, wie schwer es in den USA die Wissenschaft in religiösen Fragen hat. Das kann nur daher kommen, dass dort zu diesen Letzteren nicht nur Glaubensfragen, sondern nebst anspruchsvolleren Fragen der Entwicklungsbiologie (Darwin, Evolution) auch Fragen der Beschaffenheit von Gummi gehören. Ein Texaner Lehrer, den die «New York Times» zitiert, legte sich in physikalischen Fragen nicht fest: «In den Schulen diskutieren wir nicht über den Gebrauch von Kondomen, wir sagen nur, dass sie nicht funktionieren.»

Im fortdauernden internationalen Krieg gegen das Kondom, der den globalen Kampf gegen die weitere Verbreitung des Aidsvirus HIV massiv erschwert, sind das älteste Verhütungsmittel und seine Benützer Opfer einer anderen Denunziation, die nicht das angeblich poröse Latex betrifft: Das Kondom, heisst es, stifte an zu sexuellen Aktivitäten, die ohne es nicht stattfänden. Gegen die Verbreitung von Geschlechtskrankheiten aber könne nur die Einschränkung des ausserehelichen Geschlechtsverkehrs, nicht aber eine Ermutigung dazu Abhilfe versprechen. Das einzige Rezept dafür sei Abstinenz.

Soeben sind dagegen Forscher der beiden renommierten New Yorker Universitäten Columbia und Johns Hopkins gemeinsam mit ugandischen Wissenschaftlern in einer einfachen Feldstudie wieder einmal zum Schluss gelangt, dass Ugandas berühmte Erfolge im Kampf gegen die Immunschwäche ganz dem Latex zu verdanken sind: Im untersuchten Distrikt stieg die Zahl der Männer mit mehr als zwei ausserehelichen Sexualpartnerinnen weiterhin signifikant; gleichzeitig nahm der Anteil des geschützten Verkehrs zu; und während die Abstinenz konstant blieb, sank die Rate der Neuinfektionen.

Falls der Sex nicht vom Kondom kommt, dann gilt das schwerlich auch für die Infektion. Man müsste meinen, das Kondom passe in die Zeit der so genannten Globalisierung. Vom ersten Satz oben in dieser Kolumne, bis Sie sie fertig gelesen haben, sind allein in Afrika 24 Menschen an Aids gestorben und 43 neu angesteckt worden.

Doch seit in Washington George W. Bush mit der christlichen Rechten regiert, sind die Entwicklungsländer mit Präservativen noch dramatischer unterversorgt als ehedem. Der Uno-Bevölkerungsfonds UNPFA hat vor einer Woche Alarm geschlagen: Von rund elf Milliarden Kondomen, welche die Entwicklungsländer in den vergangenen beiden Jahren benötigt hätten, liessen sich weniger als ein Zehntel finanzieren. Im Jahr 2000 war es noch ein Fünftel.

Die beiden grössten Geber sind die amerikanische Entwicklungsagentur USAID und UNPFA. USAID muss seine Kondome in den USA kaufen, wo sie viel zu teuer sind. Der Uno-Fonds bekommt von der Regierung Bush kein amerikanisches Geld, weil er auch familienmedizinische Einrichtungen unterstützt, die Abtreibungskandidatinnen mit Rat zur Seite stehen. Während eine ausreichende Kondom-Versorgung pro Mann und Jahr rund vier Franken kosten würde, verfügte im Jahr 2003 jeder afrikanische Mann zwischen 15 und 59 Jahren über durchschnittlich vier Kondome – je nach Land zwischen fünfzehn und einem.