Ehre hohem Alter, aber ...
In Äthiopiens Bürgerkrieg von 1975 bis 91 brachte es keine der beiden Seiten über sich, die ungezählten Brücken zu zerstören, die die Grossväter unter der italienischen Besetzung Abessiniens 1935-40 von Hand gemauert hatten. (Nur einige womöglich kriegsentscheidende Brücken mussten dennoch weg.) Das Fussvolk der Soldaten schickten die Generäle wieder und wieder zu Zehntausenden in den sicheren Tod. Doch auf altgediente Vehikel, in denen die Feinde sassen, schossen Äthiopier nur, wenn es gar nicht anders ging.
«Das kommt davon, dass sie mit Respekt für alte Dinge grossgezogen worden sind», erklärte mir einmal ein stattlicher nigerianischer Geschäftsmann. «Das ist eben ihre Kultur, nicht wahr», und seine rechte Hand griff hoch über sein Haupt hinauf, «die 2000 Jahre zurückreicht.» Anderswo in Afrika ist das Christentum vor erst 100 Jahren eingetroffen. In Axum dagegen ist es bald zwei Jahrtausende alt. Äthiopier wissen es und sind von ihrer in Stein geschlagenen urchristlichen Kultur so tief durchdrungen, dass andere Afrikaner davon eigentlich nichts verstehen können.
Keine Rarität im Land sind denn auch mächtige Rassisten, was noch schwärzere oder auch nicht so schwarze Angehörige von Nachbarstaaten zu spüren kriegen. «Tschinschero!» – «Affen!», rufen die einheimischen Amharen-Schulkinder in Gondar ihre zwei im Kongo geborenen Klassenkameraden, Kinder eines Schweizer Arztes und einer Kongolesin. So fühlen sich die Äthiopier wenn nicht hoch überlegen, dann jedenfalls einzigartig, auf dem Kontinent wie dem Planeten. Wer davon nicht betroffen ist, mag es ihnen lassen, sind sie doch höchst charmant und Schönheiten unter ihnen zahlreich.
Es dauert länger, und der Zufall muss nachhelfen, ehe man im urchristlichen Selbstwertgefühl Risse aufspürt. Der Schweizer Arzt, in der alten Königsstadt Gondar als Chirurg tätig, sagt, er habe dort auch nach dem Krieg vor allem Schusswunden behandelt. Im Amharen-Land geht noch die Blutfehde um und bis ins siebte Glied.
Davon reden sie weniger gern. Aber sie verraten sich, wenn es für einmal nicht um alte, sondern um gewisse neue Dinge geht. Auch wenn sie es nebst der Armut wiederum ihrer alten Kultur verdanken, dass sie Afrikas beste Reparaturspengler sind, so erstrecken sich ihr Sachverstand und ihre Sensibilität doch auch auf die besagten neuen Dinge.
1974-91, in 17 Jahren Kommunismus nach Sowjetvorbild, überwinterte der Nationalstolz ausser in den Kirchen an Bord von Ethiopian Airlines, Afrikas zweitältester Fluggesellschaft nach Egypt Air. (Eingestanden, die Pyramiden sind älter als jedes äthiopische Bauwerk.) Aber Ethiopian Airlines, den Russen ein Dorn im Auge, flog diese ganzen Jahre ausschliesslich US-amerikanische Boeings.
Lieber seien sie gestorben, erinnern sie sich schaudernd, als in Spitalpflege der Russen zu enden. Nicht alles Steinzeitliche zieht, und auf einmal ahnt man, dass sie von dieser Erkenntnis auch die eigene uralte Kultur nicht ausnehmen.
Doch man hat zu provozieren, bis man es schmunzelnd bestätigt erhält: So sehr werden sie mit ihrem uralten Gemäuer und mit gar nichts anderem identifiziert, dass sie davon am Ende kaum zu unterscheiden sind. Das muss manchmal auf die Nerven gehen, diese Felsenkirchen vorn und hinten. Das geht so weit, dass sie sich manchmal fast 2000 Jahre alt fühlen und gerne etwas jünger wären. In der Tat, nichts geht ihnen über einen allerneuesten Mercedes-Benz.