Tausende von Stämmen

Von Georg Brunold, Nairobi (WORLDMUSIC, © Tages-Anzeiger 27.05.2004)

Erst sind sie verschiedener Meinung, meine Angestellten J. und L., beide Kikuyu und damit Angehörige des grössten Stammes Kenyas. Doch es klärt sich: Nein, ein eigenes Wort haben sie in der Kikuyu-Sprache nicht für «Stamm» oder englisch «Tribe», nur das Lehnwort «kabila» aus dem arabischen Vokabular des Suaheli. (Dabei ist ein Beduinenstamm keine Ethnie, wie ein afrikanischer Stamm in gepflegterer Sprache heisst, sondern eine durch Verwandtschaft definierte Gruppe.)

Für «Clan» oder «Sippschaft» hat das Kikuyu genau wie andere der vierzig Sprachen Kenyas seine Wörter, die heute auch für das, was Stamm genannt wird, verwendet werden. Oder man sagt das «Volk» der K. oder braucht dafür ein Wort, das die Gefolgschaft eines Führers bezeichnet.

Woher kommt es, wenn Afrika, ausser dass es am Meer liegt und es da heiss ist, uns allen unumstösslich als der Kontinent der Stämme oder Tribes vertraut ist? Der Stammesunruhen oder Tribal clashes? Was bloss, wenn doch das hausgemachte Wort dafür fehlt, macht die Kikuyu und tausend andere Volksgruppen zu einem Stamm, und dies im Unterschied zu den holländisch sprechenden Erdenbürgern, die wir schlicht als die Bevölkerung Hollands kennen?

Allenfalls weiss das der «Oxford English Dictionary». Der hält fest, dass das Wort «Tribalism» 1886 geprägt wurde: zwar exakt ein Jahr nachdem die Berliner Konferenz Afrika unter die imperialen Mächte aufgeteilt hatte, aber dann doch durch eine Beobachtung wie die, dass «beim keltischen Stammesdenken (Tribalismus)» in Nordirland «ein Leben als Nation, von Zivilisation ganz zu schweigen, niemals möglich» sein werde.

In seinen epochalen vier Bänden «Die Armen von London», erschienen 1862, im Jahr, als der Brite Speke den Victoriasee als den Ursprung des Nils etablierte und ihm den Namen der Queen gab, philosophiert Henry Mayhew ausgiebig über die «wandernden Stämme» «im Allgemeinen» wie insbesondere «dieses Landes» und seiner Hauptstadt.

Was es in Afrika mancherorts nicht gibt, ist ein nach europäischen Massstäben entwickeltes Bewusstsein der Nation, das stärkere lokale Loyalitäten ersetzt hätte. Afrika spricht rund zweitausend Sprachen, was allerdings, berücksichtigt man Bevölkerungszahlen, noch keinen Vergleich mit der Sprachenvielfalt etwa Graubündens aushält. Ein Tribe jedoch spricht manchmal, gerade wies die Klassifikation verlangt, eine eigene Sprache, und manchmal teilt er diese mit einer anderen, verfeindeten Volksgruppe. Dasselbe gilt für sein traditionelles Siedlungsgebiet, das manchmal eine klar umgrenzte Einheit bildet und manchmal nicht.

Afrikas «Tribe» oder «Stamm» ist ein Import der viktorianischen Missionare und der Klassifizierungswut des europäischen 19. Jahrhunderts, das im Geist von Carl von Linnés biologischer Systematik Schädel, Kiefer und Nasen vermass und aller Kultur mit der Naturwissenschaft zu Leibe rückte. (Auch die Ethnie wird sich aus dieser bürokratischen Kinderstube nicht mehr emanzipieren.)

«Tribalismus», schrieb der nigerianische Schriftsteller Chinua Achebe, «ist Diskriminierung von Bürgern auf Grund ihres Herkunftsortes.» Was es in Afrika in der Tat gibt, ist viel Raum und eine komplizierte Geografie zwischen Zentren, die oft ganz ausser Reichweite liegen, deswegen aber die Bevölkerung nicht an der massenhaften Bewegung hindern. So kommt es, dass sich Afrikaner weit herum zu einem grossen Teil von irgendwem als lauter Fremde betrachtet sehen, noch nach Generationen.

Der Tribalismus, sprich: die Xenophobie, versorgt Politiker mit Manipuliermasse à discrétion. Und das Wort «Tribe», so Achebe, «wird zur Stelle sein, solange sich dafür Einsatzmöglichkeiten finden».