Obacht! Migranten!
In Nairobi, nicht nur zuvor im Flugzeug, trifft man sich sogleich, noch ehe mir das eigene Migrantendasein richtig zu Bewusstsein kommt: Kofi hat vor fünf Jahren in Accra, Ghana, für einen Flug nach Deutschland 4500 Dollar bezahlt. Doch die Maschine, die er bei Nacht bestieg, landete in Kenya, und da ist er noch. Drei Wochen erst ist Fatma hier, die Apothekerin aus Mombasa, das nur so weit entfernt liegt wie vielleicht Zürich von Genua, und begibt sich täglich zur niederländischen Botschaft. Eine Pharmafabrik in Amsterdam hat sie zu einem zweiwöchigen Werkbesuch eingeladen, und zum dritten Mal bucht sie jetzt den Flug um. Da die Kenyanerin eine ethnische Somali ist, fürchten die niederländischen Behörden, sie könnte sich flugs in eine Somalierin, ein Kriegsopfer, verwandeln und, einmal am Ziel, ein langwieriges Asylverfahren kosten.
2,9 Prozent der Weltbevölkerung sind sie, einer von 35 und darunter sogar ich seit Jahresanfang wieder, jene vielseitigste aller Minderheiten auf dem Planeten. Hier in Kenya, Fatmas Herkunftsland, Kofis Transitland und meinem Aufnahmeland, dürften es etwas mehr sein. Ihre Bezeichnung «internationale Migranten» macht aus ihnen noch keine Gemeinschaft, so wenig wie die betroffene Staatenwelt aus dem «Souverän der Erde», wie Robespierre die Menschheit nannte.
Dennoch hat schon der erste Diplomat, den man antrifft, weniger diesen oder jenen Staat als vielmehr wenn auch zugleich im Interesse seines Landes ebendiese bunte Minderheit zu vertreten. Ein schwieriges Los auch seines, und die Papiere in seiner Aktentasche erörtern folgerichtig die heillose globale Überforderung angesichts der Unterscheidung zwischen freiwilligen Migranten und all den unfreiwilligen, zumal den internationalen, die noch weniger zu suchen haben, wo es sie hin verschlägt, als wo sie losgezogen sind. Als allgemein erkannt gilt, dass die Ströme der Letzteren sich nicht stoppen, sondern von den betroffenen Staaten nur besser oder weniger gut verwalten lassen. Als allgemein erkannt gilt überdies, dass es ein gemeinsames Interesse, welch schöne Sache, von betroffenen Staaten und Migranten gibt: dass nämlich deren Ströme besser verwaltet würden. Sonst werden in grosser Zahl neue Kriminelle hervorgebracht, was das Interesse weder der Migranten noch der Staaten ist.
Das Ende des Zweiten Weltkriegs brachte nicht nur die Vereinten Nationen, sondern auch die Menschenrechte, die unveräusserlichen, nicht wahr, und dies weltweit. Als verfolgt und als legitimer Schutzbefohlener gilt trotzdem noch immer einzig und allein, wer den gerichtstauglichen Beweis für seine Gefährdung an Leib und Leben in dem Gepäckstück trägt, das ihm noch nicht abhanden gekommen ist (es sei denn, er wäre ein international gesuchter Verbrecher, der Anrecht auf ein ordentliches Auslieferungsverfahren hat). Für den Asyl Suchenden besteht darin das Dilemma, gegen das bis jetzt kein Kraut gewachsen ist: dass der unbescholtene Elende, «unschuldig selbst im Sinne der ihn verfolgenden Mächte», wie Hannah Arendt sagte, mit seiner Geburt die «Strafe absoluter Rechtlosigkeit» antritt.
Die Schweiz, von den Koordinationsbestrebungen der EU bis auf weiteres ausgeschlossen, engagiert sich in der globalen Migrationsdebatte mit der Berner Initiative wie auch mit dem Genfer Sekretariat der Global Commission on International Migration. Als allgemein erkannt gilt, dass im Migrationsmanagement die höchste und wachsende Dringlichkeit der Suche nach neuen, unserer Welt angepassten Kriterien der Aufnahmepolitik zuzusprechen wäre. Selbst in diesem Bereich hätte das Prinzip immerhin das irdische der Machbarkeit zu sein, solange es nicht der Parteipolitik und der Wählerstimmenjagd geopfert wird.