Walter Leuenberger – Zulieferer
«Du, Gottfried, machst mir die Ovomaltine, und du, Walter, die Teigwaren.» 1923 dürfte es gewesen sein, kurz vor der Gründung der Migros, als Gottlieb Duttweiler beim Mittagessen im Bahnhofbuffet Bern zwei seiner Freunde in sein Projekt einweihte und sie unverzüglich für seinen Brückenbau mobilisierte – «diese Brücke, nicht wahr», sagt der Enkel Walter Leuenberger, die künftig das Leitbild bleiben sollte, «vom Produzenten zum Konsumenten», einer kühnen Konstruktion zur Elimination der Grossisten. Gottfried Lüscher leitete in Gümligen die Haco, Grossvater Walter Leuenberger die Erste Kaffee-Essenz-Senf-Fabrik in Huttwil, gegründet 1848. In der Fabrik gab es ungenutzten Raum, und nachdem Gebrüder Bühler, Uzwil, die führende Teigwarenmaschinenfabrik bis heute, die ersten Produktionslinien installiert hatte, gehörte Leuenberger Huttwil zu den ersten fünf Zulieferern der Migros. Heute kommt immerhin noch rund ein Drittel der Migros-Teigwaren aus dem Emmental, und die zweitgrösste Schweizer Senffabrik nach Thomy ist Leuenberger Huttwil.
Grossvater Leuenberger, Jahrgang 1894, hatte gleichzeitig die Migros Bern zu gründen, wo er in der Verwaltung blieb. Ein Foto in den Empfangsräumen der Firma zeigt ihn auf einer Wahlkampfveranstaltung der Bewegung der Unabhängigen – neben Duttweiler. In den Firmenakten in Huttwil schliesst eine Einladung vom 7.März 1936 zu einer Konferenz im Bahnhofbuffet II. Klasse, 1.Stock, Zürich HB: «Es wäre mir sehr angenehm, wenn Sie teilnehmen könnten.» Traktanden: 1.Fremdenverkehrs-Programm... 3.Kantonale Politik... 5.Vortragskampagne, 6.«Die Tat» und Organisationsfragen. Noch der Sohn Hans Leuenberger, Jahrgang 1918, sollte zweimal für einen Nationalratssitz kandidieren. Zum politischen Engagement der Migros kam das philanthropische: «Ich und meine drei kleinen Brüder benötigen so sehr warme Kleider», so der Bettelbrief eines zwölfjährigen Jungen an die Migros Bern, die sich zu einer Spende von 20Franken verstand, den Brief aber zur Abklärung an Walter Leuenberger weiterreichte. Seine handschriftliche Notiz auf dem Brief: «Der Bueb sagte, es sei nicht wahr, was er geschrieben habe, die Mutter hätte es ihm diktiert.»
Im Jahr 2000 produziert Leuenberger Huttwil – nebst einem Dutzend Sorten Senf – auf sechs Produktionslinien rund um die Uhr 5-Eier-Spiraloni, Spaghetti Matterhorn, Gletscher Hütli, Goldzöpfli, Älplermagronen, Krawättli, Dischi volanti, Eier-Buchstaben, Schweizer Kreuzli, Eier Ribeli, Spinatnudeln, Gallo d'oro Hörnli, Gallo d'oro Fideli, Farfalle, zwischen fünfzig und siebzig Formen, meist Schweizer 3-Eier-Teigwaren, Teddybären, Palmen, Flugzeugchen, die Weltkunst, die wir Schulkinder alle mit der Suppe aufzunehmen haben, zu Weihnachten Tannenbäumchen, Christmas Pasta für Marks & Spencer in England, Leuenbergers zweitwichtigster Abnehmer nach der Migros, an die rund die Hälfte der Huttwiler Teigwaren geht. Von der übrigen Hälfte werden zwei Drittel exportiert, teils zur Weiterverarbeitung, an Ketchup-Heinz zum Beispiel, für sogenannte conveniences, wie sie Leuenberger Huttwil – Pasta Pronta – auch mit Haco produziert. 12 Millionen Kilo Teigwaren im Jahr oder vier bis fünf Eisenbahnwagen pro Tag, nebst 1,5 Millionen Kilo Senf notabene, rund zwanzig Prozent aller in der Schweiz verspeisten Teigwaren und gegen vierzig Prozent des Senfs – und dies mit zwei Mann in der Produktion. 1995, auf dem 1st World Pasta Congress in Rom, ist Leuenberger Huttwil als modernste Teigwarenfabrik der Welt ausgezeichnet worden, und so kosten die Hörnli – 1925 noch 95 Rappen das Kilo – heute nur mehr sagenhafte 1Franken 40 das Kilo. Zum Abschluss eines längeren Briefwechsels von 1934, in dessen Verlauf die Migros sich von den Emmentaler Argumenten für die Angemessenheit des in Rechnung gestellten Preises unbeeindruckt zeigt, heisst es in der Kapitulation des Zulieferers: «Wir wollen Sie nicht in Versuchung führen, den höheren Satz zu vergüten.» Heute, als Markt- und Preisleader in der Schweiz, behauptet die Firma ihren Stand im Tauziehen mit der Migros, einem seriösen und fairen Kunden, sagt Walter Leuenberger, der Enkel.
Der Inhaber und Verwaltungsratspräsident, Boss von 65 Mitarbeitern, ist zur Stelle, wie auf dem Sockel vor dem schwebenden Stahlglaskörper der Fabrik der Sandsteinlöwe, das Wahrzeichen der Familie. Die Vorstellung, in Huttwil fände sich noch immer ein Teigwarenfabrikant mit Namen Leuenberger, wäre allerdings irrig. Einer von drei Maturanden seines Huttwiler Jahrgangs 1945, war er ein früher EDV-Student an der ETH Zürich, ehe er an der London School of Economics – nach unwiderstehlichen Ausschweifungen durch James-Joyce-Vorlesungen und das '68er-Paris – in Volkswirtschaft graduierte. Die folgende Banker-Karriere beförderte ihn in wenigen Jahren in die Generaldirektion der Lloyds Bank International in Genf. Als deren Sicherheitschef – natürlich ist er nebenbei Privatpilot – ging er in den siebziger Jahren durch die Antiterrorschulung der französischen Polizei. Zuvor hatte er am Institut Bancaire der Sorbonne bei Raymond Barre studiert. Er absolvierte das Senior Management Program der Columbia University in New York, wo er mit Männern wie Neil Armstrong, Jimmy Carter und Henry Kissinger bei Tisch sass. Näher kennt er, als ehemaliges Mitglied des British Film Institute, zum Beispiel Robert de Niro.
Etwas kichert jedesmal in ihm, wenn er Hörnli sagt. Nein, Duttweiler hat ihn nicht mehr kennen lernen dürfen, aber in der Demonstrationsküche der Fabrik hängt ein handgemaltes Stück Keramik von Ehefrau Adele, gezeichnet 1984, als er den Familienbetrieb schon vier Jahre führte. Ja, warum hat er mit 35Jahren seine Karriere abgebrochen, um zurückzukehren nach Huttwil? «Weil der Betrieb sonst kaputtgegangen wäre», sagt er, «weil sich kein anderer Nachfolger fand», und in seiner gedämpften Stimme ist etwas hörbar vom traurigen Gedanken, er hätte – in der sechsten Generation – versäumen können, dieses Schicksal abzuwenden. Aber warum auch! Mit den fünf Söhnen und Ljupka, seiner serbischen Frau, sie ihrerseits in Frankreich aufgewachsen und später lange Zeit in Florenz, lebt er in Huttwil schliesslich mitten auf derselben Welt, wo er vor zwei Jahren unter anderem in Schanghai bei der Welthandelskammer die Schweiz vertrat. Noch ist er im Vorstand der Fédération industrielle alimentaire aktiv, Präsident des schweizerischen Teigwarenproduzentenverbands Swiss Pasta und Mitglied des Vororts, aber seit er den Vorsitz der Berner Handelskammer nach sechs Jahren abgegeben hat, braucht er, obschon er gerne liest, «Bund» und «Berner Zeitung» nicht mehr zu lesen, darf sich konzentrieren auf die «International Herald Tribune» und die Zeitschrift «du».