Alltag wie nie zuvor. Terrorperspektiven

Durch den Krieg im Irak hat sich die innere Sicherheit aller NATO-Staaten, so das einhellige Urteil der Experten, verschlechtert. Editorial zu einem Heft über Terrorismus

Von Georg Brunold, Zeitschrift du, 01.05.2003

Die Bedrohung des Terrorismus weltweit, hier bei uns und für alle, kann an Aktualität nur gewinnen, auch wenn sich zeitweilig Kriegsbilder darüber legen. Interessante Zeiten! Für Politiker, Talkmasters und politische Philosophen, die über gerechte und ungerechte Kriege, das Völker- und das Menschenrecht oder die Ächtung der Folter nochmals von vorn debattieren können, und außerdem für jedermann, sind doch interessante, ja spannende Zeiten genau das, was man dem chinesischen Sprichwort zufolge jenem Nachbarn wünscht, für den nur die schlimmste aller Verwünschungen gut genug sein kann.

Spannung ist der Rohstoff der Medien: Geschähe in der Tagesschau für einmal gar nichts, dann hätte mit desto größerer Dringlichkeit etwas zu geschehen. Der Terrorangriff ist ein zuverlässiger Aufmacher, kein anderes Medienereignis transportiert so starke Emotionen. Seit dem 19. März nun ist bei großen Nachrichtensendern wie CNN oder BBC World die Ausnahmesituation Routine, das Feuerwerk im Bildschirmhimmel über Bagdad hatte ab dem zweiten Tag, unterlegt mit Rockrhythmen, den Vorspann der BBC World News aufzudonnern.

Von nahem allerdings zeigt dieses westliche Fernsehen, wie eine ägyptische Kellnerin sagt, die Raketen lieber dort, wo sie abgefeuert werden. Der ästhetische Appeal des militärischen Geräts ist seine Imposanz, und die Vernichtungsschläge sind aufbereitet als Spektakel. Im Einklang damit überschlägt sich – «it's amazing!!» – das Vokabular. «Von Wirklichkeit als einem Spektakel zu sprechen», schreibt Susan Sontag in Regarding the Pain of Others, ihrem neuen Buchessay über Bilder von Krieg und Opfern, «verrät einen atemberaubenden Provinzialismus. Die Sehgewohnheiten einer kleinen gebildeten Minderheit in den reichen Ländern, wo die Nachrichten in Unterhaltung umgewandelt wurden, werden damit für universal erklärt. Es wird davon ausgegangen, dass jedermann auf der Welt ein Zuschauer sei. (...) Vor dem Fernseher sitzen Hunderte von Millionen, von denen sich gewiss nicht sagen lässt, dass sie durch das, was sie sehen, abgebrüht wären. Den Luxus, sich über die Wirklichkeit erheben zu können, genießen sie nicht.» Einige schauen gar nicht hin. Eine Fernfahrerabsteige an der Transsahara-Piste, Mali, am 11. September 2001: Als der Fernseher wieder und wieder die stürzenden Türme des World Trade Center zeigt, antwortet die Gastwirtin mit einer wegwerfenden Handbewegung auf die Frage des «du»-Reporters Till Lincke, ob sie das denn gar nicht interessiere. «Ah! C'est comme ça tous les jours! Tous les jours!» So ist das jeden Tag, jeden Tag.

Wir aber schauen, als hätte es das alles schon Äonen vor uns gegeben, und unabänderlich beruhigt uns der Flimmerkasten, fast alle Tage, als wäre darin nichts zu sehen als das Meer und ferne Berge. Unsere tägliche Versicherung, dass Springfluten nur vor den Küsten von Ländern auftreten, die Tausende von Kilometern entfernt liegen. Und doch wissen wir nicht, wie uns aus dem Bildschirm geschieht. Wenn in den Grundkursen der Schweizer Armee, die ich im sonnigen Tessin als Sanitätssoldat des Hilfsdienstes absolvierte, die Instruktionsdias von Verkehrsopfern auf die Leinwand traten, verließ immer gegen die Hälfte der Mannschaft den Saal. Während der ganzen drei Kurswochen war es gestattet, den zertrümmerten Kiefern und aufgeplatzten Oberschenkeln auszuweichen.

Auch die Abendnachrichten gehen kaum weniger schonend vor als der Action Thriller aus Hollywood. Zwar ist uns der Fernseher vertraut als Kasten, worin es unaufhörlich schießt und schießt, explodiert und detoniert, sich Autos überschlagen und immer weitere Wolkenkratzer auseinander bersten. Solange die Kamera auf den Täter gerichtet ist, darf das Schablonenarsenal, das als Realismus gilt, sich in aller Unschuld ausbreiten, und nichts scheinbar ist in dieser Medienwelt weniger erstaunlich als die fulminante Gewaltbereitschaft ihres halben Personals. «Sie morden, weil sie dürfen», schreibt Wolfgang Sofsky über die neuen Terroristen, und so können wir an einem einzigen Abend mehr Gewalt beiwohnen, als uns die Wirklichkeit, in der wir leben, für ein ganzes langes Leben in Aussicht stellt. Der Anblick der mit dem Tode Ringenden dagegen ließe befürchten, das Blut könnte aus dem Bildschirm rinnen und in den Teppich sickern. Dass wir darauf verzichten, ist womöglich weniger Angst vor der Gewöhnung auch noch daran als die Sorge, uns könnte auf das Excitement im News Entertainment der Appetit genommen werden. Susan Sontag schreibt, sie sei nicht mehr so sicher, dass «in unserer Kultur die wiederholte Konfrontation mit Fotografien von Greueltaten und ihren Opfern deren moralische Kraft neutralisiert».

Es kann noch seine Zeit dauern, eine Generation oder zwei, bis die Erkenntnis sich mit Breitenwirkung durchzusetzen beginnt, dass nämlich zwischen der tagtäglichen medialen Einstimmung auf die Gewalt, auf die allgegenwärtige Bereitschaft dazu, und der Gewalttätigkeit im realen Leben ein Zusammenhang besteht, der sich von dem Zusammenhang zwischen Rauchen und Lungenkrebs nicht so ganz grundlegend unterscheiden dürfte. Nachgewiesenermaßen giftige Lebensmittel werden aus dem Verkehr gezogen. Nicht um eine neue Zensur oder den Ruf danach geht es in dieser Frage, wohl aber um den medienethischen Bankrott unserer elektronischen Reizkultur und ihrer kommerziellen Diktatur der Einschaltquote. Der Turbokapitalismus der hochentwickelten Welt beutet weitenteils weniger seine Arbeitskräfte aus als die Schwächen des Konsumenten, der sich als Kranker respektive Krankgemachter desto willfähriger und einträglicher ausnehmen lässt. Milliardenklagen dereinst also nicht nur gegen die Tabakindustrie, sondern ebenso gegen TV-Stationen?