Mit George Tabori in Kairo
Budapest 1939, Sofia 1940, Istanbul 1941, Jerusalem 1942, Kairo 1943 – erst Kriegskorrespondent, dann Nachrichtenoffizier bei der ungarischen BBC mit Namen Captain Turner, schreibt der junge George Tabori nebenbei Romane.
Alles war und ist noch da. Im Spiegel, beim Rasieren, saß die Fliege über meinem rechten Auge. Ich fuhr mit der Klinge hoch, und die Fliege setzte sich über das linke Auge. Eine Minimalistin, schon am Morgen, als wäre es Sommer und 40 °C auch im Inneren der Häuser. Sie musste alt sein, die Fliege, so alt wie die Stadt, 5000 Jahre, und sollte es denn nicht dieselbe sein, die Adela quälte, Tristan Manasses Ehefrau, zwischen den Schulterblättern, wo sie sie mit ihrer kleinen Hand verfehlte und wieder verfehlte, so ist es doch dieselbe. Jetzt, da am Abend der Strom ausfällt und die Lampe ausgeht, läuft sie über das Display meines Notebooks. Zurück und hin und dann zurück und hin. «Wenn doch nur die Käfer still wären», seufzt Manasse, der Mörder, seine Tat niederschreibend. «Träume krochen ins Zimmer und wieder hinaus.» Und wieder ist ihre Stunde gekommen. Vielleicht kommen einer oder zwei von ihnen aus jenem Bild der schneebedeckten, so blendend, ja blütenweißen Schweizer Berge? Hier im Hotel hängt es unten im Speisesaal; in Ibrahims Pension, wo ich früher immer abstieg, hing es dem offenen Kamin gegenüber in der Diele und in der Pension Malika Farida über Adelas und Tristan Manasses Ehebett. Adela möchte da gerne hin, zu diesen Bergen.
Auch der Sand ist da, derselbe, der Sand an den Wänden, auf dem Boden, auf dem Tisch, dem Stuhl, auf den Zähnen, auf der Wasserflasche. Am Morgen kommt mit der Zeitung eine große Menge davon, eingearbeitet ins Papier, während ihn draußen im Treppenhaus der Hausjunge mit einem Lappen von den grauen Milchglasscheiben schlägt, Tag für Tag, genau wie in der Pension in Bulaq, unweit des Nils, die Manasses zwanzig Jahre führten. Heute, an diesem klaren, kühlen Februarmorgen, hebt ihn die feine Brise nur gut eine Handbreit vom Asphalt, und fast ist es, als wollte sie ihn über die Straße zur Stadt hinauskehren. Und da ist der Filzhut, am zweiten Tag schon, dort in der Schlange am Zeitungskiosk, genau wie damals, und darunter gewiss der Rundkopf mit seiner Hasenscharte, der Tristan Manasse in Angst und Schrecken versetzte. Ich werde mich dem Unbekannten, sage ich mir, nur auf Manasses panischer Flucht vor ihm nähern können, und richtig, nachdem er auch diesmal im Vorstadtzug nach Maadi nicht mehr ausfindig zu machen ist, obschon er sich vielleicht zwei Waggons weiter hinten, nein, nicht aufhält, sondern zwischen den Bauernköpfen nach vorn – und auf mich zu! – arbeitet, gibt es noch immer keine Sicherheit, ob sein Besitzer nicht am Ende doch er ist: Papagos. Das Alter ego, das nicht einmal ein motorisiertes Vehikel abzuschütteln hilft.
Gewiss nicht in dieser Stadt, dieselbe, auch nachdem vom alten Bahnhof in Bab el-Louq kein Stein mehr zu entdecken und der Zug vor gut zehn Jahren unter die Erde gegangen ist, auf etwas stabilere Geleise. Die Köpfe der dichtgedrängten Bauern im Waggon schießen nicht mehr so jäh auf und nieder, «lose baumelnd», dünkte Tristan Manasse, doch der Ausdruck ihrer zeitlosen Gleichgültigkeit, die sich ihm so sehr einprägte, hat sich dadurch nur vertieft. Es ist die Stadt, die aus der Wüste kam, ihre erodierende Skyline ist den irrenden Felszügen der Western Desert nachempfunden, und das Stück Zahn, das gestern herausgebrochen ist, hat mir etwas vom Geschmack des genius loci in den Mund gebracht. Die Rache dafür vielleicht, dass ich mich angesichts dieser Dachlandschaften einst mit dem Wort Karies behalf, und dies gar noch gedruckt. Da ist sie geblieben, in der Wüste, wo Gott dem Menschen und dieser seinem Schicksal näher ist. Unentrinnbar heißt ein Wort für diese Lage. Niemand hat sich verändert, seit ich vor Jahren das letzte Mal hier war, nur die Preise, die sie mir nennen. Einige sind nicht mehr da, sind, wie ich höre, gestorben; Sidi Ali mit fast 100 Jahren, der sudanesische Pförtner aus Dongola, oder Onkel Ayyad, der Kellner mit seinem mächtigen Leib und nur gut halb so vielen Jahren, aber für die, die da sind, haben sich meist auch jene – die Barmherzigkeit Gottes sei mit ihnen! – durch ihre Abwesenheit nur wenig verändert. Wie Tristan Manasses Ehefrau Adela in der Pension Malika Farida.
Da liegt sie in der Badewanne, lächelnd, ermordet von ihrem Ehemann. Nicht dass jemand auf den Gedanken käme. Tristan Manasse ist ein ganz unbescholtener und liebevoller Ehemann, und in der Außenwelt, der objektiv existierenden und amtlich beurkundeten, wo das Leben seinen Gang nimmt, hat kein Verbrechen stattgefunden. Nur im Buch, wo der Mörder den Hergang seiner Tat noch zwei weitere Male erzählen wird, denn «es gibt viele Wahrheiten: eine Wahrheit des Richters, eine des Angeklagten; und das lüsterne Publikum will die belanglose Sensation. Wenn ich nur wüsste, welcher Platz mir zusteht.» Er hat sie umgebracht – aus Mitleid. Mitleid: «das stärkste Band», sagt er, «das es gibt». Adela war unglücklich, über jedes Maß unglücklich. Ganz und gar unheilbar. Nicht wegen dem wundervollen, dem «prinzlichen» Küchenjungen, wie Manasse ihn beschreibt, «die ganze Küche», sagt er, «wurde ein wenig heller», wenn Zouba lächelte. Auch nicht wegen ihrer frühmorgendlichen Annäherungsversuche, zusehends flehentlicher, schon bald rutschend auf den Knien. Mit einer Mischung von Abscheu und Entsetzen floh er, der Fünfzehnjährige, die Vierzigjährige. Nein, Adela lebte am falschen Ort zur falschen Zeit und ohne die Spur einer Ahnung wofür. Und ein Ehemann, der sie schon so oft wiederbelebt hatte, sich von ihr nach zwanzig Jahren endlich alles gefallen ließ, sie unermüdlich aufzumuntern suchte und unendlich schonungsvoll bedauerte, aber sie – Gott, wie lange mochte das her sein – nicht mehr liebte – daraus allein wurde kein Leben. Er vermochte es nicht länger, dieses Unglück mit anzusehen. Sagte sie es nicht, sie wollte in die weißen Zauberberge in dem Bild, und da hat er sie also hingebracht. Jetzt, zum ersten Mal seit Jahren, lächelte sie. Erlöst.
Ein guter Mord heißt der deutsche Titel des Romans (Original Sin, 1946). Wenn es einen guten Mord tatsächlich geben könnte? Darf die Frage gestellt werden? Falsche Spur: «Was für unverschämte, dumme Lügen! Kein Mörder kennt sein wahres Motiv, den Grund, warum er die Kluft zwischen Vorhaben und Tat überschritten hat», sagt Tristan Manasse. Wir alle, jeder Mensch fantasiert seine Morde. «Aber», sagt Manasse, und man weiß noch nicht warum, «ich will es wissen.» Er bricht auf: «Die Straße war glühend heiß wie die Mittagssonne im Sommer, nur dass die Sonne nicht schien. Eine gleichmäßig graue Decke hing über der Stadt. (Überall Mörder.) Ich ging langsam, rang nach Luft und überlegte: Je länger ich unterwegs war, desto ...»
Selbst von den Abgesandten des Empire, das nicht mehr ist, scheinen in dieser Stadt einige dieselben geblieben zu sein. Frank Brown, der 1930 zum ersten Mal für ein Jahr nach Kairo kam, Australier, doch Brite desto entschiedener, schreibt noch immer seine Opernkolumne für «Al-Ahram Weekly». Das Goldene Horn und der Suezkanal mögen ihnen, den Hochseekapitänen, noch ein wenig zu nahe gewesen sein, als jener Roman in seiner Londoner Ausgabe von 1932 erstmals unter dem Titel Stamboul Train erschien. Die junge Jüdin auf der Flucht aus Deutschland, der Armenier, Sekretär eines orthodoxen Patriarchen, die Waffenschieber, Söldner eines levantinischen Tyrannen, zwei Eunuchen auf dem Rückweg aus Paris, dort wohl paradiplomatisches Wachpersonal oder vielleicht Kundschafter in einer Küche, ein dänischer Aventurier und, zwischen den Bulgarinnen und Türken, nicht zu vergessen, der Zypriote, vielleicht Papagos! Wer erinnert sich so genau, war es nicht ganz anders? «Babylon», sagt Frank Brown, und eben hier, in Kairo, war George Tabori 1943 stationiert, 29 Jahre alt, Nachrichtenoffizier in der ungarischen Abteilung der BBC, nach Stationen in Sofia, Istanbul und dem noch arabischen – sprich britischen – Jerusalem. Der Titel der ein Jahr später erschienenen New Yorker Ausgabe des erwähnten Romans sagt alles: Orient Express. Hätte er nicht Graham Greene zum Weltautor gemacht, er hätte sich auf dem Buchdeckel eines von George Taboris Romanen gefunden, und auch Greenes Motto von George Santayana wäre nicht fehl am Platz gewesen: «Alles auf der Erde ist lyrisch in seinem ideellen Wesen, tragisch in seinem Geschick und komisch in seiner Wirklichkeit.»
Schon seinen Vater hat Tristan Manasse umgebracht, ganz beiläufig lässt er es einmal fallen. Sonst hätte er, fügt er, ohne es weiter zu erläutern, hinzu, Adela niemals heiraten können. Doch ganz so war es nicht, er war nur nicht zur Stelle gewesen, als jemand den alten Spitzbart hätte hindern müssen, schwerkrank aus dem Bett zu steigen, um in seinem Uhrenladen die Uhren aufzuziehen. Er war zu dieser nächtlichen Stunde mit Papagos unterwegs gewesen. «Ich wusste», bekennt er, «dass mich Papagos finden würde.»
Kairo ist dieselbe «Siegreiche», wie sie heißt, aber nein, der Kosmopolitismus ist nicht derselbe in Tristan Manasses oder dieser heutigen Stadt und in Montreal, Canada, oder Auckland, New Zealand, wo er nicht wirklich einer ist, jedenfalls nicht, was wir davon mit den Augen sehen können. Kosmopolitismus ist nicht eine farbenfrohe Gesichtervielfalt von Südseeinsulanern, chinesischen Mongolen, Filipinos, Japanern und – zwischen schottischen Rotschöpfen unübersehbar – einigen Köpfen aus Guinea, Westafrika. Multikulturell kann auch eine freundliche, weltoffene Heimat sein. Der Kosmopolitismus dagegen ist dort eingekehrt, wo die Leute im eigenen Land, ja sich selber Fremde sind, wo sie, ihre Wurzeln längst abgestorben und verrottet oder verbrannt, nur mehr auf der Welt zu Hause sind. Der Orient, der vordere, uns nahe, den wir mit diesem Namen gewöhnlich meinen, ist ein solcher Ort. Cairo from One Edge to the Other steht im Schaufenster auf einem Buchdeckel, man merkt es, es kann nur ein Bildband sein. (Jedes Buch ist in Zellophanfolie verpackt – der Sand!) Aber zwischen Cheopspyramide und Azhar-Universität, der ältesten der Welt, sind nicht nur Mittelalter, Antike und fernere Zeiten nahe. Auch der Rauch der Zeitgeschichte ist hier noch nicht abgezogen, und wo der Zweite Weltkrieg nicht zu Ende ist, da ist der Nahe Osten und füllt täglich Zeitungsspalten rund um die Erde.
Es ist kein Nebenschauplatz eines fernen weltgeschichtlichen Vorspiels wie Haiti oder eines fernen Nachspiels wie Indochina. Dieser Orient ist die Bühne, wo die metaphysischen Auseinandersetzungen, die die von Menschenhand bereiteten Katastrophen des 20. Jahrhunderts untermalten, ein halbes Jahrhundert darüber hinaus fortdauern. Orient heißt Weltverschwörung, und seine Hauptstadt ist nicht das den Gläubigen für einige Generationen verlorene Jerusalem, sondern Kairo, wo aus tausend Minaretten seit tausend und noch mehr Jahren täglich fünfmal derselbe Gesang aufsteigt und sich niedersenkt, in alle Ritzen dringt, wo die Staatsmacht sich selber zu repäsentieren und daher die Ohnmacht des Gesetzes und das heißt ihrer Opfer und Ernährer zur Schau zu tragen hat. Die Lebenslage bleibt dieselbe zwischen den tausend Internetcafés, Stillstand ist tödlich, in allen Richtungen wird zur gleichen Zeit, und dies mit aller Energie, fort- und zurückgeschritten, und was um Rang und Namen ringt, flickt unausgesetzt an tausend Reputationen, im Land des Schwindels und der Etikette, die in keiner noch so gestandenen persönlichen Bekanntschaft von der Hochstapelei zu unterscheiden ist. Doch Tristan Manasse will wissen, sagte er, und muss es nicht mit Papagos zu tun haben, dessen Aufenthalt in der Stadt ihm das Leben zur Hölle macht? Im gesellschaftsfernen Akt, sich schreibend die ganze Wahrheit abzufordern, findet Manasse Rettung, und auf der letzten Seite wird ihm aus dem Hotel Metropol bestätigt, ja, sicher, vor drei Tagen ist Achilles Papagos abgereist, und nachdem eingangs in der Badewanne Adela lächelte, lächelt im letzten Satz nun er: «Ich legte den Hörer auf und stand im kühlen, dunklen Gang und lächelte, ich mit meiner größten Sünde, der Freiheit.»
Nicht einmal der Krieg merzt die Irrlichter der Freiheit aus, wovon schon Taboris erster Roman Das Opfer (Beneath the Stone the Scorpion, 1944) höchst dramatisch handelt. «Der Engländer sah elend aus», als Major Helmuth von Borst sich seines Gefangenen annimmt. In dem abgelegenen, stillen Tal kam er, in weichen Wildlederschuhen, am Fallschirm unverhofft vom Himmel gesegelt. Der Orient von George Taboris Romanen spannt sich auf zwischen dem Golf, wo bei Basra im Südirak die Hafenstadt Port Aarif liegen muss, dem Nil, der in Kairo die mediterrane Welt erreicht, und über die Dardanellen und Istanbul hinauf bis in jenes abgelegene serbische Tal unweit der Grenze Ungarns, eines Landes, das bei Tabori gewiss an den Orient grenzen muss. Major von Borst, im Orient im Einsatz und verheiratet mit einer Serbin, ist der Preuße von Kultur, studiert in Oxford, der in Abwägung höherer zivilisatorischer Güter die Naziherrschaft – «des Österreichers», wie er sich ausdrückt – bis dahin nicht nur hingenommen hat, sondern sich mit der ihm eigenen Tatkraft ihr zu Diensten hält. «Ich kenne Ihr Pflichtgefühl und Ihren Anstand», sagt er zu seinem Gefangenen. «Aber mein Befehl lautet: Wenn Sie mir Namen nennen, werden wir uns der Leute annehmen. Wenn nicht, sagt das Hauptquartier, wird das ganze Dorf erschossen. Und Sie dazu. Wir gehen keinerlei Risiko ein.»
Borst schmiedet dennoch eigene Pläne. Einen langen Abend stellt er Captain Fowler Fallen. Falls er nicht auspackt, soll in Borsts Abwesenheit die Ehefrau Nadja den Gefangenen zur Flucht ermuntern, ihm dabei ihre Hilfe anbieten. Damit der Flüchtige die Fährte legt, seinen Bestimmungsort zu erkennen gibt? Oder will Borst ihn auf der Flucht erschießen, um die schmutzige Angelegenheit los zu sein? Der mysteriöse Engländer, der von dem Angebot kaum Notiz nimmt, legt sich schlafen. Um Mitternacht kommt aus dem Hauptquartier in Budapest – ja, kein anderer, Borst kennt ihn gut – Hirtenberg, die SS in ihrer reinen, unvermischten Verkörperung. Als ihm William Blakes Gedichtband in die Hände kommt, aus dem Borst zuvor Fowler zu rezitieren geheißen hat, sagt Hirtenberg: «Ausgezeichnet ... Ich habe meinen Männern immer wieder gesagt, es gibt nichts Besseres für die Moral eines guten Offiziers, als die Gedichte des Feindes zu lesen. Das gilt besonders für den Geheimdienst. Gedichte verraten eine Menge.» Dann klärt er Borst auf über die wahre Identität seines Gefangenen, den nun er, Hirtenberg – aus ereignisreichen Monaten in Istanbul – kennt wie kaum ein anderer. Im abgelegenen Tal in Serbien nimmt die Geschichte daraufhin eine überraschende Wendung.
Orient heißt die Lage, für die keiner je gerüstet sein kann, wie im Krieg, wo George Taboris Romane spielen, oder im Nachkrieg, der im Orient nicht aufgehört hat. Der Gouverneur El Bekkaa verspricht sich Rettung nur noch vom Arzt auf einem der Schiffe, die im Hafen vor Anker liegen. In Port Aarif mag er keinem der Ärzte trauen (Tod in Port Aarif / The Caravan Passes, 1951). Er ruft Dr.Varga, den Chirurgen, der ihn von seinem Magenleiden befreien soll, an Land. Zuerst versuchen es der Sohn und die Ehefrau des Despoten, Varga zu bestechen, dann der Vizegouverneur, dann der britische Sonderabgesandte Bradshaw, der in Port Aarif die Elimination des auch für die Kolonialmacht untragbar gewordenen Gouverneurs in die Wege zu leiten hat. Die Bevölkerung, als bekannt wird, dass der Tyrann im Krankenhaus liegt, probt den Aufstand und schickt sich an, den Volkshelden Denef aus dem Gefängnis zu befreien. Alle sehen sie die lang ersehnte Stunde gekommen. «Überall lagen Fliegenleichen.» Dr. Varga, der das Festland hasst und meidet, weil es die Menschen gefangensetzt, ist seinem Beruf verpflichtet, dem hypokratischen Eid; und verliebt er sich tatsächlich in die britische Krankenschwester Pamela, mit der er den Gouverneur operiert? Sie verdient alle Hochachtung, ist nicht nur der missgebildeten Welt Port Aarifs erfolgreich fremd geblieben. Die stille Rebellin hat es ihrer Mutter abtrotzen müssen, der kolonialen Memsaheb, wie sie im Buche steht: «Lady Vaughan ignorierte Katastrophen, indem sie einfach die Stimme hob und das Thema wechselte.» Doch wie soll das in Port Aarif mit ihrer Tochter gut werden? «Nichts wiegt schwerer», zitiert Varga beim romantischen Picknick mit Pamela einen namenlosen Franzosen, «als die Frau, die man nicht mehr liebt» (und man denkt, er heißt Manasse). In Port Aarif kommt, nicht anders möglich, alles anders, als es sollte, und nur deshalb trotzdem, wie es sollte, aber doch nicht ganz so, und wie der Titel des Romans verrät, fließt Blut. ««Gute Arbeit», flüsterte Bradshaw.»
«Was will man auch mehr von einem Entertainment?» sagt Peter Zadek (Herr Manasse findet eine Leiche). «Wer nicht nach Bedeutung und Tiefsinn fragt, wird mit diesem Buch (Ein guter Mord) einen vergnüglichen, feucht-klebrigen Abend verbringen», sagt Peter Zadek, und nur ihm zuliebe ist er hier zitiert. Die Romane des jungen Tabori dagegen sind nicht nur ethisch-metaphysische Parabeln auf der Höhe des reifen Graham Greene, mit dem originären Impetus eines Existenzialismus, der – unfranzösisch, aber gleichfalls vor dem Hintergrund des großen Kriegs zu sehen – eine Verwandtschaft zeigt mit Albert Camus' L'étranger oder auch schon André Malraux' La condition humaine. Nur nebenbei gesagt, an die werten Kollegen im Fanclub: Tod in Port Aarif könnte das beste Buch Eric Amblers sein.
Worum es in allen diesen Büchern geht, ist – wie später in Taboris Theaterwerk – Erinnerungsarbeit. Der Plot gibt sich nicht mit einem Exempel antikischer Tragik zufrieden, mit der Inszenierung auswegloser Situationen menschlicher Entscheidung. Die Handlung gibt den Impuls zur Wiedergewinnung des Gedächtnisses. Nicht Tristan Manasse sagt es in seinem standhaften inneren Monolog, aber dafür ein anderer Mörder, der diesmal keiner ist, aber gerne einer wäre und sich außerdem für einen hält: «Das Kriterium der Menschlichkeit war das Wissen um die Sünde. Nur Tiere sind tugendhaft», philosophiert der Sonderabgesandte Bradshaw. Zum Wissen aber verhilft nur das Gedächtnis. «Und», so Bradshaw weiter, «in jeder Epoche gab es nur eine Handvoll Erwachsene. Es kann keinen Konsens geben zwischen dem, der Proust liest, und dem, der ihn nicht liest.» Tabori schafft das Kunststück spielend, eine Geschichte zu erzählen, ohne dass er seine Protagonisten auf den aktuellen, oft äußerst sparsam ausgestatteten Schauplatz zu bemühen hätte; die Abwesenden agieren nicht weniger lebhaft in Manasses oder Borsts Gedächtnis, der in seinem abgelegen Tal stets im ganzen Abendland und Morgenland von Oxford bis Üsküdar unterwegs ist. Aber darum geht es weniger als – wieder einmal – um Prousts Madeleine, den ehrwürdigen Prototyp der literarischen Funktionsweise unwillkürlicher Erinnerung. Tristan Manasse, Dr.Varga und Major Borst, alle, und das auf Schritt und Tritt, straucheln über verzogene Fugen der Vergangenheit: «Ich rannte den Korridor entlang, rannte, weil mir, als ich über ihn gebeugt war, die Nacht einfiel, als mein Vater mich und Cousin Otto vor fünfunddreißig Jahren uns umarmend in der Badewanne erwischt hatte.» So ist das. «Denn so arbeitet das Gedächtnis», sagt Tristan Manasse beim Friseur in Kairo. «Er legte mir einen Umhang um, stopfte ihn geschickt in meinen Kragen; das Tuch war feucht und sandig und scheuerte am Hals.» ·