«Break the impossibility habit!» Seoul Development City
Freiheit! - nicht wie im Norden. Im Jahr vier Tage Ferien, und mit 28, so versichern 23jährige, sollen sie glücklich im Ehehafen vor Anker und an Land gegangen sein. Die verbleibende Zeit ist mit koreanischer Effizienz - und zwar mit Spass! - zu nutzen...
Es gibt nur dieses einzige Wort, das auf beiden Seiten der Trennscheibe verstanden wird. Ich konzentriere mich, und wie ich es von Koreanern höre, sage ich: «Seoul», mit stimmlosem S und geschlossenem, langem O, mit gespitztem Mund heißt das in meinem Fall, und großen runden Augen. «Seoul» – sofort bekomme ich mein Ticket. Das eine Wort hilft weiter. Die Zahlzeichen sind unsere, «00-01-23 12:50» steht zuunterst auf dem Ticket, und weiter oben steht, eine der pittoresken koreanischen Zeilen unterbrechend, «W 9300», so dass ich ohne weiteres mit einer Note zu 10000 Won bezahlen kann. Das übrige geht ohne mich, ohne weiteres gesprochenes Wort zumindest, alles steht auf dem Ticket. In der Schalterhalle gibt es keine Anschriften in lateinischen Lettern. Doch es bleibt mir nicht einmal die Zeit, um für einen Augenblick stehen zu bleiben und, in der etwas vorgestreckten Hand das Ticket für jeden sichtbar, hilfesuchend um mich zu blicken, eine Frau hat mich bereits zum einen der zwei Ausgänge auf den Carparkplatz geführt, und von dort bringt mich ein Uniformierter zum Perron Nr. 8. ... 12:30, 12:40, 12:50, 13:00 ... Nach Seoul fährt alle zehn Minuten einer, große Reisecars der Marken Hyundai oder Daewoo, acht, elf, vielleicht sogar vierzehn Passagiere an Bord. Ich selber bin aus Seoul gekommen und habe dort so viel begriffen, dass ich auch das Hinreiseticket nach Kangnung nicht drei Tage vorher hätte kaufen müssen.
Nicht nur Seoul, auch die Kleinstadt Kangnung ist ein Magnet, mit ihren 230000 Einwohnern und einigen wenigen, an sich unauffälligen Wolkenkratzergruppen, ein Rimini an der koreanischen Pazifikküste. Wand an Wand das immer gleiche Restaurant in industriellen Fertigbauelementen, dieselbe traumhafte Küche in kilometerlangen Batterien, viele der Lokale selbst in dieser Jahreszeit geöffnet. Doch trotz des vorzüglichen Wellengangs ist nichts mit Surfen, auf die Nadelbäume längs der Strandpromenade ist in der Nacht Schnee gefallen. Die spärlichen Morgenspaziergänger tragen Wollmützen und Handschuhe, einige über Mund und Nase Masken aus weißem oder hellblauem Verbandsmull. Aus dem Café Sinfonie im zweiten Stock des Hotels Richard Strauss braust Also sprach Zarathustra in den grauen, leidlich grandiosen Morgenhimmel hinaus. Gäste an diesem Januarsonntag fahren vermutlich zum größeren Teil noch heute heim nach Seoul.
Um 12:45 sitze ich im Car. Es ist gut geheizt, höchstens etwas zu gut, der Reisekomfort einwandfrei auch während der zehn Minuten Aufenthalt auf der Raststätte, die Pissoirs für Groß und Klein abgestuft auf entsprechender Höhe, wundervoll die gefüllten Teigtaschen, die Fischspieße, die in Ei gebackenen Auberginenplätzchen, gereicht an allen den aneinandergereihten Imbissbuden im selben durchsichtigen Plastikhandschuh, und dies mit der rechten Hand, während die unbehandschuhte Linke für den Zahlungsverkehr zuständig ist. Der Expressway, sechsspurig und vom saubersten Schwarz in der verschneiten, aber ansonsten nicht allzu kompromisslosen Berglandschaft, führt den Car wie auf einem Schienennetz, über eine Weiche auf die Überholspur jetzt, dann wieder zurück, und der Fahrer, nicht in Uniform, sondern im dunklen Anzug mit Krawatte und weißen Handschuhen, hat die Aufsicht über das Geschehen. Vorne, in einem festinstallierten Korb neben dem Ausgang, eine Notration Wasser mit einer Stange Plastikbecher.
Bei der Ankunft wird ein Fremder, der nicht mehr einfach «Seoul» sagen kann, da er in Seoul nun schon ist, womöglich eine weitere kleine Schwierigkeit zu meistern haben. Denn ohne etwas mehr Koreanisch gibt es in Kangnung keine Möglichkeit zu klären, wo genauer in Seoul die Carfahrt enden wird, in Tong Seoul oder in Kyongbu oder in Sangbong, in Yongdong oder Honam, einer der beiden Stationen Kangnams, oder in Nambu. In Yongsan und in Shinch'on wahrscheinlich nicht. Die Express-Bus-Terminals liegen teils weit von einander, sicher eine gute Stunde in der Subway – so heißt Seouls U-Bahn.
Doch wer Seoul zuvor schon einmal betreten hat, wird nichts fürchten. Die Koreaner, die ihrerseits, die breite Masse wenigstens, in Fremdsprachen nicht brillieren, beweisen dem Fremden dafür um so beflissener, dass es auch ohne geht. Erstens sind Koreaner entgegenkommend, und zweitens zeichnet Seoul sich vor vielen anderen Städten dadurch aus, dass die große Mehrheit der Probleme hier zum Gelöstwerden da ist. In Seoul werden täglich 27,20 Millionen Personentransporte erfolgreich abgewickelt, darunter 7,93 Millionen von 8443 Bussen auf 371 Linien, aber mehr noch, nämlich 8,78 Millionen, von der Subway. In Seoul ist «Subway» heute ein koreanisches Wort und kaum weniger hilfreich als in Kangnung das Wort «Seoul». Das Tor zu dieser weitläufigen, gut unterhaltenen Unterwelt wird sich finden. Gewiss, die Stationen haben Namen, die sich ein Fremder nur schwer merken kann. Doch anders als in Peking zum Beispiel sind sie numeriert, und wie die Nummern auf der neuen Linie 5 erwarten lassen, erfordert die Orientierung in Seouls Subway-Netz demnächst Vertrautheit nur mehr mit dem Dezimalsystem. Die erste Stelle 5 steht für die Linie, die weiteren zwei Stellen bezeichnen, aufsteigend von West nach Ost, die Stationen. Oder ist es möglich in Seoul, dass eine derart plausible Verallgemeinerung dieses Prinzips für das gesamte Netz noch nicht beschlossene Sache, sondern erst in Erwägung ist?
«Seoul» – das Wort allein bringt einen hin, oder zumindest sicher zurück nach Seoul. Das ist Magie, und magische Wörter gibt es nicht ohne magische Bedeutung, nicht einmal wenn es Namen sind. «Nein», sagt die Fotografin Cho Sun Hee, «warum? Und der Name Paris? Hat der eine Bedeutung?» Junge Seouler hören es nicht mehr, aber ein Fachmann sagt, der Name Seoul sei eine altertümliche abgeleitete Form des Worts shabol und bedeute Stadt, große Stadt, Hauptstadt. Die Stadt Seoul, so darf man sagen, trägt ihren Namen zu Recht, nicht bloß weil sie schon 600 Jahre Haupstadt ist. Die Menschen neigen seit langer Zeit dazu, sich in Städten zu sammeln, beinahe überall auf der Welt. Noch gibt es Länder, wo nur etwa zehn Prozent der Bevölkerung in Städten leben. Doch rund die Hälfte der Menschheit lebt heutzutage in Städten. Das Leben dort ist meist leichter und meist sicherer. Es ist zudem, wie offenbar sehr viele finden, unterhaltender. Damit ist längst nicht alles aufgezählt, was für die Städte spricht, und zur Anziehung, zur Attraktion und Gravitation der Stadt, kommt in vielen Weltregionen eine Abstoßung durch das Gegenteil der Stadt hinzu, das Land. In Südkorea allerdings, wo über 80 Prozent der Bevölkerung in Städten lebt, ist mittlerweile das Land ebenfalls stark von der Stadt geprägt, erscheint fast als ein Teil dieser: 20 Nationalparks und 19 Provinzialparks, von denen mit koreanischer Zuverlässigkeit, und dies sachgerecht, Gebrauch gemacht wird. Auf Seouls Stadtgebiet mit seinen vier Bergen, von denen drei sich etwa 300 Meter über die Stadt erheben, gibt es zwar ebenfalls 1405 Stück Grünfläche im Gesamtumfang von 154 km2 oder beinahe 15 m2 pro Einwohner, aber davon sind fast zwei Drittel ohne Pflege, kein Ort der Erholung. So findet die Stadt mit ihren 2,2 Millionen Motorfahrzeugen – dreimal so viele wie vor zwölf Jahren – innerhalb ihrer Grenzen doch nicht ausreichend frische Luft. Bis vor einem halben Jahrhundert war Korea ein reines Agrarland. Heute beträgt der Anteil der Landwirtschaft an Südkoreas Wirtschaft noch 5,7 Prozent, und die praktizierenden Bauern sind fast alle über sechzig. Muss demnach Seoul nicht etwas jünger sein als Koreas Landbevölkerung?
Seoul, wie man es heute vorfindet, ist in der Tat sehr jung, aus anderen Gründen, ein Unikum weltweit. 1953, nach dem Ende des Koreakriegs, hatte Seoul rund eine Million Einwohner. 1992, auf dem Höchststand, waren es elf Millionen, in der Hauptstadt selber, nicht eingeschlossen ihre elf Satellitenstädte, durchschnittlich vom Bevölkerungsvolumen Zürichs. Im Großraum Seoul leben gegen 35 Prozent der 46 Millionen Südkoreaner, etwa 16 Millionen. Laut einer Liste der Londoner Wochenzeitung «The Economist» gehört Seoul zu den zehn größten Städten der Welt. Südkorea, das darf man nicht vergessen, ist kaum größer als Ungarn oder Portugal, weniger als zweieinhalbmal die Schweiz, und damit, von einigen Stadtstaaten und Inseln abgesehen, das Land mit der weltweit zweitgrößten Bevölkerungsdichte nach Bangladesch, noch deutlich vor den Niederlanden. Aber eine Verzehnfachung der Bevölkerung einer Stadt in vierzig Jahren, dafür findet sich nur ein einziger Vergleich: Chicago, wo sich in den sechzig Jahren von 1870 bis 1930 die Bevölkerung von 300000 auf 3,5 Millionen rund verzwölffachte.
1962 lag das durchschnittliche Jahreseinkommen in Südkorea bei 87Dollar, wie heute in Moçambique, dem ärmsten Land der Welt, 1970 bei 254 Dollar, etwa wie heute in Mali oder Tschad (immer zu Wechselkursen von 1985). Fällt heute der Name Seoul, sollte niemand an urbane Monstren der Art von Mexico City, Kairo oder Bombay denken, giganteske Entwicklungspannen, ins Unermessliche gewachsen allein durch Landflucht und sinkende Kindersterblichkeit. Denn bis 1999, binnen 37Jahren, ist Südkoreas Durchschnittseinkommen um das Hundertzwanzigfache gewachsen, was ungefähr einer Verdoppelung alle fünf Jahre entspricht. Seoul ist heute Hauptstadt eines OECD-Staates, mit 6,3 Millionen Telefonleitungen und im Besitz sicher zumindest eines Drittels der 17,4Millionen Mobiltelefone in Südkorea. Mit 10500 Dollar pro Kopf und Jahr nähert sich Südkorea dem Niveau Portugals und Griechenlands. Im Straßenbild Seouls, wie könnte das nach allem anders sein, erinnert nichts an das Entwicklungsland der fünfziger und sechziger Jahre.
Was von der beispiellosen Entwicklung zeugt, ist im Gegenteil die Absenz fast jeglicher Vergangenheit. Gewiss, nach den 35 Jahren der japanischen Besetzung und dem Korea-Krieg, war von Koreas 600 Jahre alter Hauptstadt, die zwischen 1950 und 1953 viermal die Hand gewechselt hatte, wenig übrig. Doch das Seoul, das man als Resultat dieses urknallartigen Entwicklungsschubs – «Big Bang!» wahrhaftig – heute vorfindet, ist unvergleichlich neuer als alles, was man an Städtebau etwa in Deutschland sehen kann. Nicht etwa wären es nur die anderen, asiatischen Dimensionen zum Beispiel der siebzehn Straßenbrücken über den Han River, der von Osten nach Westen fließend die Stadt in ihre zwei Hälften teilt und sich dabei natürlich nicht mit der Breite einer Themse oder Seine zufriedengibt, sondern schon eher etwa mit dem Bosporus verglichen werden muss. Auf diesen sechs- bis zwölfspurigen Expressways im freien Himmel über dem Wasser ist nirgendwo ein Gehsteig für Spaziergänger auszumachen. Es kann einen beinahe ein Gefühl befallen, wie man es vielleicht bereits aus Japan kennt, Osaka zum Beispiel, wo der Weg in die Stadt über endlos sich hindehnende Hafenanlagen, durch ganze Knäuel von Brückenschlaufen dreiviertel Stunden lang hoch am Himmel entlangführt, ehe der Flughafenbus erstmals unten auf dem Erdboden anlangt. Ich wiederhole die Frage mehrmals, doch von einem halben Dutzend Seoulern weiß niemand zu sagen, ob es möglich ist, ihren Fluss auf wenigstens einer dieser siebzehn Brücken zu Fuss zu überqueren. Nicht nur diese Brücken sind zur größeren Hälfte weniger als zwanzig Jahre alt, vier weitere Straßenbrücken sind im Bau, und zudem gibt es fünf Eisenbahnbrücken, in Seoul sind auch von 18000km Wasserleitungen nur gerade 3000km mehr als 15 Jahre alt.
Wer mehr wissen will in dieser Art, braucht sich nur in die City Hall zu begeben, wo er im Public Information Bureau des Seoul Metropolitan Government mit koreanischer Perfektion und umfassendem Zahlenmaterial versorgt werden wird. Südkoreas Hauptstadt funktioniert in jeder ihrer Regungen weit effizienter als München oder Frankfurt, gar nicht zu reden von London, Paris oder Mailand, von der Ankunft bis zum Abflug – kein Vergleich zwischen der Abfertigung in Zürich-Kloten und den traumhaften Zuständen auf dem Flughafen Seoul-Kimpo, der bei 620 Flügen (einem pro Minute) täglich 100000 Passagiere bedient. Übrigens ist auch die Verbrechensrate der Megacity Seoul tiefer als die Deutschlands oder der Schweiz.
Seoul macht also in mancher Hinsicht einen guten Eindruck. Von der sogenannten Asienkrise ist in ganz Südkorea weit und breit nichts zu sehen, die Währung, die die Hälfte ihres Werts verloren hatte, und Koreas Börse haben sich erholt, die Arbeitslosigkeit von 1998 mit Höhepunkten um 9 Prozent ist bis letzten Spätherbst auf 5,7 gesunken, und die Zentralbank meldete für 1999 ein Wirtschaftswachstum von 8,8 Prozent. Einen guten Eindruck machen, im Kleinen wie im Großen, um alles in der Welt, so oft sich Gelegenheit bietet, das liegt den Leuten in Seoul am Herzen, und darin haben sie es zu einsamer Meisterschaft gebracht. Schon bei meiner ersten Fahrt in der Subway, ich stand, hatte mir eine ältere Frau die Mappe abgenommen und sie, bis sie mir ihren Sitzplatz vermachte und ausstieg, zusammen mit ihrer Handtasche auf den Knien gehütet. Nein, hatten Bekannte in Seoul mir am Abend darauf versichert, das habe sie nicht für den Fremden getan, das sei ganz normal. Auch jetzt wieder, nachdem ich, zurück aus Kangnung, in Tong Seoul die Subway-Station Kyangbyon, Nr. 14, gefunden habe, kümmert man sich um mich, zuerst um mein Gepäck, dann um einen Sitzplatz. Ein Koreaner kann auf der Bahnhofstraße Zürich lange seinen Stadtplan studieren, ehe ein Passant ihm seine Hilfe offeriert. Nicht so ein Schweizer in Seoul. In der koreanischen Hilfsbereitschaft ist außer Pflichtschuld auch die Kontaktfreude zu spüren und stets eine Prise Neugier, jener verbindlichen Art, bei der die Frage aus der Sache kommt, und nicht vom Verlangen nach einer kleinen Zerstreuung. Sich die Zeit vertreiben können Koreaner alleine.
Vielen, so kann man nicht umhin zu vermuten, muss noch aus ihrer Jugend ein Schrecken in den Knochen sitzen. In Seoul studieren an 43 Universitäten und 15 weiteren Fachhochschulen 443000 Studenten. Und wie! Am schlimmsten ist es bis zur Hochschulzulassung. Im Korea der republikanisch-egalitären Ära sind noch immer gewisse Aspekte von Stand von Bedeutung, und Bildung genießt ein ungleich höheres Prestige als in Europa heute. Koreas Studenten müssen nicht nur einen guten Eindruck machen, sie müssen zudem bestehen. Ausbildung und Studium der Kinder lassen sich koreanische Eltern alles kosten, sie arbeiten sich dafür buchstäblich krumm. Das färbt ab. Las man nicht immer wieder von den hohen Selbstmordraten unter Studenten in Japan, die in Korea noch höher sein sollen? Zur Zeit der Asienkrise von 1997/98 las man von Koreanern, die sich zwar nicht mehr zur Arbeit, aber doch täglich minuziös zur selben Stunde auf den Weg begaben oder aber ganz von zu Hause wegblieben, weil sie niemandem sagen konnten, dass sie ihren Job verloren hatten. Ein koreanischer Versager ist jedenfalls kein beneidenswerter Mensch, am wenigsten in seinen eigenen Augen.
Haben sie aber eine Stelle, und ist für die Ausbildung des Nachwuchses gesorgt, dann machen die Koreaner den allerbesten Eindruck, und dies mit ihrer Küche. Das Essen in Seoul ist dermaßen vorzüglich, dass dafür ebenfalls kein Preis zu hoch sein kann. Womöglich aber kann ihnen fürs Essen deshalb kein Geld zu viel sein, weil sie davon überzeugt sind, dass sie eben damit, mit dieser Hochkultur eines Gaumens, der über alles materielle Streben erhaben ist, wie gesagt den allerbesten Eindruck machen? Daran allein kann es nicht liegen, denn für sie selber, die sie im Jahr vielleicht vier Tage Ferien und in allerhand Entbehrung Übung haben, soll – selbst wenn sie keinen guten Eindruck machen müssen – der Verzicht auf eine ihrer drei täglichen Mahlzeiten eine höchst erschreckende Aussicht sein. Wie durch ein Wunder oder kraft einer koreanischen Fügung jedenfalls ist zudem alles an diesem Essen der Gesundheit äußerst zuträglich – außer dem Alkohol, dem Koreaner ebenso wie andere Asiaten zusprechen. In Seouls Straßenverkehr können daher Alkoholkontrollen nur allgegenwärtig sein, und das Gesetz schreibt 0,0 Promille vor.
Also behalten Koreaner meist ihre Zielstrebigkeit, Geschäftsmäßigkeit auch nach Feierabend, wenn man sich amüsieren geht, bei. Die multifunktionalen Straßencafés im Universitätsviertel Shinch'on sind zugleich Bibliothek, Video-Kino, Jazzclub – eigentliche Konglomerate, inspiriert vielleicht durch die umstrittenen großen Vorbilder in Koreas Wirtschaft. Our Slogan is: «Break the impossibility habit!» steht über der Tür, und wie bestätigt wird, heißt das ungefähr: Macht überall alles möglich! Nicht erst die Zukunft, bereits die Gegenwart gehört den links – und hat Seoul nicht bereits recht viel von der weltweit anbrechenden Hyperrealität? «N» steht für «Net», und zur N-Generation gehören in Seoul die nach '77 Geborenen. In Shinch'ons fast schon epidemisch sich vermehrenden Internet-Cafés verknüpft die N-Generation, situationsgerecht und auf engstem Raum, das Notwendige mit dem Angenehmen und mit dem Unwiderstehlichen, erledigt die E-Korrespondenz, sucht vielleicht sogar einen anderen Job, chattet mit der N-Welt, macht e-dating, Partnersuche heißt das, in Hawaii, Kalifornien oder London. Oder die N-Generation spielt online, sehr gerne zum Beispiel Kriegsspiele, und das heißt – anders als beim Video- oder Computergame – gegen reale, lebendige Gegner in aller Welt. So graben Internet-Café und online-game den koreanisch-japanisch-kalifornischen Spielautomatenpalästen das Wasser ab.
Aber nicht nur das. Denn in der Nähe der Hongik University gibt es schließlich auch das Blues House, von Huh Chung, und vom Bus Terminal Tong Seoul führt die Linie 2 des Subway auf direktem Weg dahin. «Slow down», sagt Chung, er spreche nur sehr wenig Englisch. Chung ist einer der Studenten, die wir vor gut zwölf Jahren, kurz bevor in Europa der eiserne Vorhang riss, am Fernsehen in Seoul demonstrieren sahen, die gegen jene unvergesslichen Polizistenheere wieder und wieder Schlachten schlugen und unter deren Führung schließlich Südkoreas letzter Militärdiktator Chun Doo Hwan aus dem Amt befördert wurde. Bei seiner gewaltigen Sammlung kann Chung im Blues House nur sein eigener DJ sein, Blues von 1910 bis in die neunziger Jahre, von der japanischen Besetzung bis zu Südkoreas Eroberung der Demokratie. Wer aber sind an diesem Abend die vielleicht dreißig Gäste? Ergrauende Mittelschullehrer? Weit gefehlt: bestimmt mehr als zur Hälfte N-Generation, oder vielleicht ein, zwei Jahre vor '77 geboren. Bis heute hat man in Südkorea nicht so viel Zeit wie junge Europäer auf allen Stationen des Lebenswegs. Die biografische Bestimmung ruft, die man in Korea bis heute fraglos noch hat. Mit 28 hat man verheiratet zu sein, normalerweise, darin stimmen schon 23jährige überein. Dann zwei Kinder, aber bitte nicht beide Töchter! Wie andernfalls sollte Seouls Dynamismus sich wie bisher aus sich selber nicht nur erneuern, sondern steigern? Darauf aber scheint in Korea alles anzukommen, weiterhin. Warum nur? Woher dieser einzigartige Rigor, ja Furor?
Vor der japanischen Okkupation war Seoul 500 Jahre Hauptstadt eines Reiches gewesen, in dem die Philosophie des Konfuzius alle Bereiche von Gesellschaft, Politik und Kultur beherrschte. Es ist dies jene fernöstliche und vielleicht älteste Spielart des Rationalismus, die sich das Universum und alles Sein zunächst zwar nicht nach westlichem, cartesischem Modell als Gesamtmaschine aus Stangen und Zahnrädern zu denken gelernt hat, sondern als allumfassenden Verwaltungsapparat, als Kosmos formalisierter Loyalitäten und Hierarchien, in dem nicht die Mechanik, sondern die Disziplin regiert. Das westlich-kritische Verhältnis jeglicher Autorität gegenüber mag dem Konfuzianismus fremd sein; was er aber mit der abendländischen Aufklärung teilt, ist der Glaube, dass die Welt vom Menschen verändert werden kann, kraft Vernunft und guten Willens, kraft Streben nach Erkenntnis und kraft Pflege der Tugenden, vom Schlechteren zum Besseren und zum breiten, gemeinen Wohle aller.
Zu den 500 Jahren der konfuzianischen Disziplin kommen 5000 Jahre Prüfungen und Härten eines Bauerndaseins, dem Koreas natürliche Gegebenheiten alles abverlangten und wenig Geschenke bereiteten. Im Osten ein Nachbar wie Japan, im Westen ein Nachbar wie China, Krieg gegen beide immer wieder – wer muss da am Ende, wenn er noch lebt, nicht schlechterdings unbezwingbar sein? BESETO steht für den Wirtschaftsgürtel Beijing-Seoul-Tokyo, wo sich zu einem guten Stück die Zukunft Nordostasiens entscheiden wird, und dieselbe geschichtsmächtige Konstellation, die Korea während Jahrtausenden kulturell befruchtete, jedoch immer wieder auch aufzureiben drohte, hat die südkoreanische Hauptstadt schließlich ins Zentrum befördert. Was also noch mehr? Oder haben die Koreaner nicht insgeheim doch nur ein Ziel, nämlich am Ende die Japaner zu überflügeln? «O nein», sagt Shim Jae Hoon heiter, «bitte nicht! Das zu versuchen könnte nur heißen, Nordkorea zu imitieren!» Doch wie er ausführt, sagen andere, nicht ganz ohne Ernst, nur auf diesem Weg sei der Hass gegen die Japaner zu begraben, und erst danach könnten die wohlstandsgestärkten südkoreanischen Seelen womöglich doch eine leichte Entspannung und einige Ferientage zusätzlich ins Auge fassen. Wie dem auch sei, einstweilen atmet Seoul ganz den Geist unserer Zeit, da man bei führenden Mächten ohnehin überall dieselbe globalisierende Auskunft erhält, in der EU ebenso wie in den USA: Die wirtschaftlichen Aussichten sind glänzend, aber je besser es uns geht, um so härter müssen wir ran.
Währenddessen vergisst in Korea niemand, und schon gar nicht in Seoul, dass da ein Krieg zu beenden ist. Und wenn man in Seoul oft dem Eindruck erliegen mag, in Südkorea gäbe es vor allem Seoul und außer – beziehungsweise ohne – Seoul gar nicht so viel, so zeigt sich eben darin ein bedenklicher Aspekt dieser gewaltigen urbanen Konstruktion: Seoul liegt nur vierzig Kilometer, in Reichweite schwerer Artillerie, von einer Grenze, hinter welcher in einem total ruinierten Land ein Regime ohne Zukunftsaussichten eine der größten stehenden Armeen der Welt unterhält – eine Armee, die unter der Demilitarisierten Zone hindurch Tunnel von Norden nach Süden treibt, drei davon wurden in den siebziger Jahren entdeckt, 1990 ein vierter, groß genug für Panzer und Lastwagen, Durchmarschkapazität eine Division pro Stunde... ·