Bloß ein wenig Schatten – Was ist Rationalität?

Wer begreifen will, was «rational» und «Rationalität» bedeutet, das westliche Mass aller Dinge, hat sich die cartesische Welt, die Welt der neuzeitlichen Wissenschaft, in ihrer Herkunft zu vergegenwärtigen. Es geht ums Ganze, um die Natur des Kosmos, und ferner geht es um die prekäre Stellung, die darin die Kultur zu behaupten sucht. Immer aber geht es um die Wahrheit: Kampf dem Aberglauben! – Die cartesische Welt und das Licht der Vernunft.

Von Georg Brunold, Zeitschrift du, 01.02.1999

Neue Künste. Am 7. Januar 1610 richtete Galileo Galilei sein Fernrohr zum Himmel. Es war Nacht. Die Sterne rückten näher und erschienen größer. Das Fernrohr vergrößerte etwa fünffach, wie ein Opernglas. An der Frage, ob sie uns seitdem heller leuchten, scheiden sich die Geister. Doch Galileis Instrument hält uns zunächst für einige Augenblicke auf der Erde fest. Denn mindestens was irdische Geschicke angeht, liefert es den Beweis für ein durchaus ernst gemeintes Ringen um mehr Licht. Sein Fernrohr bezeugt nicht so sehr den unaufhaltsamen Aufstieg des reinen, denkenden Geistes, sondern die Errungenschaften dessen, was als Handwerk, als praktisch-technisches Wissen in den vorausgegangenen zwei Jahrhunderten eine entscheidende kulturelle Aufwertung erfahren hatte. Kolumbus hatte eine neue Welt entdeckt: Tomaten! Kartoffeln! Bohnen, Paprika, Ananas, Kürbis, Kakao, Tabak, Gummibaum und nie gesehene Tiere! Es war nicht so sehr ein Verdienst der Philosophen in den Klöstern und Universitäten. Architektur und Bergbau, Schiffbau und Navigation, Ballistik und Befestigungswesen, was man heute «die Industrie» nennen würde, waren es, die die wissenschaftliche Forschung in ständig neue Richtungen drängten. Namen wie Dürer, Michelangelo, Leonardo, Galilei, Kepler, Francis Bacon stehen dafür, für epochemachende Fortschritte in den mechanischen Künsten. «Künste» war damals die Bezeichnung für die Disziplinen der Wissenschaft, die lateinischen artes, die griechischen techne – Fertigkeiten, Techniken, noch wahre Künste eben.

Die großen Köpfe der beginnenden Neuzeit standen den hehren Stätten der Gelehrsamkeit, des überlieferten Buchstabens und der autoritären Schulmeinung fern und stießen nur zu oft auf deren erbitterte Opposition. Die Verbreitung ihrer Ideen hinderte das nicht, dank einer Erfindung aus der Mitte des 15. Jahrhunderts, der Erfindung des gedruckten Buches. Wie nachzulesen in Paolo Rossis schönem Buch Die Geburt der modernen Wissenschaft in Europa, waren schon um das Jahr 1500 in Europa rund 20 Millionen Bücher im Umlauf, und hundert Jahre später merkt Campanella in der Sonnenstadt zu dieser Informationsgesellschaft an, es handle sich um «die Zusammenführung der Menschheit in einem Stall». Das gedruckte Buch verbreitete nicht nur Buchstaben, sondern mittels Techniken wie Holzschnitt, bald auch Kupferstich und Radierung schuf es völlig neue Sichtverhältnisse im Universum von Botanik, Zoologie, Anatomie. Es transportierte Konstruktionspläne. Bei all dem handelte es sich nicht um Illustrationen, sondern um neue Mittel der Darstellung und Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse. Ein Charakteristikum der vormodernen Überlieferung war die Sorge um Geheimhaltung des Wissens, um sichere Aufbewahrung der Weisheitsperlen, die man der Ermahnung Jesu im Matthäus-Evangelium zufolge nicht vor die Säue werfen durfte. Die Verbreitung der Wahrheit war gefährlich! Erst das gedruckte Buch, das mit dieser Tradition radikal brechen mußte, verhalf dem Wissen zu der Öffentlichkeit, für die sich die Gründerväter der Moderne allesamt einsetzten. Auf der Grundlage des neuen Mediums verbreitete sich nicht allein dieses selber mit wachsender Geschwindigkeit, und noch bevor Galilei in jener Nacht die ersten zwei Jupitermonde entdeckte, waren Fernrohre in Paris schon Handelsware.

Ein unbedingter Glauben in das Heil der Technik charakterisiert vielleicht spätere Geisteslagen, weniger das Weltbild der Gründerväter der Moderne. In Francis Bacons Deutung des Dädalus-Mythos war es die Technik, ein Gestell, das der Pasiphae ermöglichte, sich von einem Stier begatten zu lassen und den Minotaurus zu gebären. Es war geläufig, daß die mechanischen Künste Lebenshilfen, zugleich aber «Instrumente des Lasters und des Todes» hervorbrachten; «denn Handwerke», so Bacon in seinem Essay Daedalus sive mechanicus, «haben einen doppelten und zweiseitigen Nutzen, indem sie eben sowohl zur Hervorbringung als zur Abwehr von Unheil und Zerstörung dienen». Für den Minotaurus entwirft der Mythos ein besonderes Gefängnis oder Irrenhaus, das Labyrinth. Postwendend stellt sich für Theseus das Problem, aus den Mäandern einen Ausweg zu finden, doch der Geist der Wissenschaft weiß nochmals Rat: mit Ariadnes Faden, der unser Leitfaden geblieben ist.

Galilei sah durch seine Linsen die gebirgige Landschaft des Mondes, und nach der steten Fortbewegung der Trabanten um den Planeten Jupiter beobachtete er, im Licht des Tages, bald die Rotation der Sonne um die eigene Achse. Ein neues Weltall sah er nicht, und das bekannte, das er in neuen Bildern sah, wurde dadurch vorderhand nicht leerer. Kurze Zeit zuvor noch war der Weltraum in die sogenannten Sphären unterteilt, konzentrisch ineinander ruhende Kristallkugeln, über die auf Schienen die Planeten um die Sonne kreisten. Doch diese lagen seit 1573, seit Tycho Brahes Werk De stella nova, in Scherben. Hätten wirklich sie das Firmament zusammengehalten, dann wären die Kometen – diese Wurfgeschoße Gottes zur Erleuchtung der Propheten – an ihnen abgeprallt, oder sie hätten sie zertrümmert. Auch die Rotation der Sonne ihrerseits, die seit 1543, seit Kopernikus' revolutionärer Schrift De revolutionibus orbium coelestium, im Zentrum des Universums stand, hatte 1609 Kepler in seiner Astronomia nova für notwendig erklärt. Denn das große Gestirn erfüllte die Weiten des Alls mit einer «immateriellen Spezies ihres Körpers, analog der immateriellen Spezies ihres Lichtes», und einzig ihre Rotationsbewegung konnte es sein, die in dieser mitrotierenden Spezies die Planeten um sich herumtrug. Womöglich kam die Intuition hinzu, daß eine rechte Kugel, wenn die Zeit nicht stillsteht, sich nur drehen kann.

Die Leere des Raums und die Gravitationskraft Isaac Newtons wurden im Fernrohr nicht sichtbar. Unter einer Kraft, die einen bewegten Himmelskörper zu einem unbewegten anderen in fixem Abstand halten soll, kann ein Kind sich nur ein Seil vorstellen, heißt es in Bruno Bettelheims Kinder brauchen Märchen. Wie seine französischen Zeitgenossen um Descartes war Galilei – im Streit um die Erklärung der Gezeiten – entsetzt über Vorstellungen einer Anziehungskraft des Mondes. Ideen einer physikalischen Fernwirkung fielen außer Betracht, und übereinstimmend erklärte man eine solche Anziehungskraft für «okkult». Eher noch waren die Gezeiten einem Druck des Mondes zuzuschreiben, den dieser wiederum vermittelst einer unbekannten, aber doch weniger «okkulten» Spezies auf die Erde ausübte.

Die Welt als Mechanismus. Bei den Aristotelikern des Mittelalters werden auch unbelebte Körper, zum Beispiel eben die Planeten, noch durch Engel oder andere spirituelle Wesen fortbewegt. Johannes Keplers Gegenstand sind noch die himmlischen Harmonien des Schöpfungswunders, des Mysterium cosmographicum, wie es der Titel seines ersten Werks von 1596 bezeichnete. Trotzdem verwahrt sich Kepler gegen die Annahme belebter Wesen im Universum und vergleicht dieses mit einem Uhrwerk. Doch bevor der Weltraum sich entleert, hat sich die neue Himmelsmechanik kraftvoll in die irdischen Begebenheiten eingemischt.

Die moderne Welt heißt zu Recht auch die cartesische Welt. Käme es darauf an, das Weltbild der neuzeitlichen Wissenschaft zu patentieren, wäre der herausragende Kandidat René Descartes (1596-1650). Die Regeln, denen die Veränderungen in der Natur folgen, nennt er die Naturgesetze, und in seiner 1664 posthum, über dreißig Jahre nach der Niederschrift publizierten Schrift Le Monde ou Traité de la lumière hält er fest, «daß ich hier unter Natur nicht irgendeine Göttin verstehe oder irgendeine andere Art eingebildeter Macht, sondern daß ich mich dieses Wortes bediene, um die Materie selbst zu bezeichnen». Diese neu begriffene, nun zu erobernde Natur wird in den Zentren für geraume Zeit die ganzen Kräfte der Wissenschaft absorbieren, bis in Europas fernem Hinterland – in Neapel wird es sein – der Geist und mit ihm die Kultur wiederentdeckt werden wird. Doch da die Aufklärung auch in Europa stets Geduld und Nerven brauchte, sind wir noch keineswegs in Süditalien angelangt. Der Weg zurück in die Kultur führt diesmal durch den Kosmos und die Natur, und daher wenden wir den Blick zurück ins All und ins tiefe Innere der Materie.

Der Weltenlauf vollzieht sich durch Veränderungen. Wie vollziehen sich Veränderungen? Für Descartes gilt, wie seit Aristoteles, daß alles seinen zureichenden Grund hat, daß nichts zufällig, spontan geschehen kann. Da alle Materie ihrem Wesen nach passiv ist, kann alle Bewegung im All diesem nur von außen, von Gott, mitgeteilt sein. Diese Bewegung setzt sich in der Welt nun fort, indem sich jeweils eine bestimmte Bewegungsmenge, die Ursache, in eine gleich große andere Bewegungsmenge, die Wirkung, übersetzt. Dasist, was wir bis heute als Kausalität verstehen. Die Bedingung, «daß Gott fortfährt, sie» – die Materie- «zu erhalten, wie er sie geschaffen hat», ist erfüllt dadurch, daß Gottes Beschlüsse unabänderlich sind. Daher ist die Gesamtmenge der Bewegung im All konstant. So der erste – theologisch begründete – Erhaltungssatz in der Geschichte der Mechanik.

Woraus besteht die Welt? Für Descartes, wie gesagt, aus Materie. Konnte es, so lautete seit den alten Griechen die Frage, verschiedenerlei Materie geben, verschiedenerlei körperliches Sein? Für Descartes bestand alle Materie aus Korpuskeln, unteilbaren Bausteinen, wie sie Epikur und Demokrit als die sogenannten Atome in die Wissenschaft eingeführt hatten. Nachdem Gott zuerst alle Materie in Würfel aufgeteilt hatte, schliffen diese sich durch Bewegung und Reibung ab, teils bis zu unendlich kleinen Kugeln, die, zu einer Flüssigkeit versammelt, in die feinsten Hohlräume einzudringen vermochten: das Licht. Die Teilchen des Wassers dagegen waren, so Descartes, «lang und schlüpfrig glatt wie kleine Aale, die sich, obwohl sie aneinander hängen und sich miteinander verflechten, niemals verknoten oder ineinander verheddern, so daß es möglich ist, sie jederzeit mit Leichtigkeit voneinander zu trennen». Diese Korpuskeln aber waren nicht dem Wesen nach, sondern nur in Gestalt und Bewegung voneinander verschieden. Descartes' Konzeption reduziert alle Materie und alle ihre Veränderung auf Größe, geometrische Gestalt und Bewegung, das heißt auf Quantitäten. Erforderlich ist nur mehr eine Übersetzung räumlicher Verhältnisse in numerische, in Zahlen. Den Schlüssel dazu liefert Descartes' analytische Geometrie. Sie ermöglicht die Mathematisierung der Physik, und diese mathematische Physik wird zum Modell der rationalen Wissenschaft.

Göttliche und menschliche Ratio. Die ratio, der griechische logos, für Cicero einst das Göttlichste, was es im Himmel und auf Erden gab, das Menschen und Götter verband, findet sich in der Spätantike, bei Boethius, der intelligentia – später intellectus – untergeordnet, da die ratio das Wesen nur der materiellen Dinge erfaßt, die intelligentia dagegen das Göttliche. Für Augustinus noch der Grund sowohl für das Wesen der Schöpfung als auch für deren Erkennbarkeit, tritt die ratio in der Scholastik des Mittelalters als menschliche Quelle der Erkenntnis in Gegensatz zur Offenbarung als göttlicher und zur Autorität der Überlieferung. Bei den Cartesianern versammelt und ordnet die ratio die Bestimmungen der Dinge, aufgrund deren sie unterscheidbar sind, verleiht ihnen die Wirklichkeit und Wahrheit, in der sie für den intellectus erkennbar sind. Auf deutsch wird aus der ratio die Vernunft oder der Verstand, je nach den terminologischen Feinheiten eines philosophischen Systems, und im gewöhnlichen Sprachgebrauch, der darauf zurückgeht, heißt das Wort «rational» verstandesmäßig, vernünftig, vernunftgeleitet.

Was sich mit Descartes' Universum anbahnt, wird später als die «Emanzipation der Naturwissenschaft» bezeichnet, ihre Trennung von Philosophie und gläubigem Schöpfungsverständnis. Das Geheimnis dieser neuen Wissenschaft ist die Quantität, die Zahl. Diese rationale Wissenschaft, die keine irdische Instanz außer ihr mehr kennt und sich keine Grenze zu setzen weiß, erklärt die Welt nunmehr alleine. Es bleibt nur ein Faktum, das sie nicht erklärt, nämlich das Dasein dieser Welt, das auf keine Veränderung innerhalb ihrer zurückgehen kann. Was das Dasein dieser Welt allein erklären kann, ist Gott.

Dennoch sollte Gottfried Wilhelm Leibniz fünfzig Jahre später Descartes des Materialismus bezichtigen. In der Tat, ist erst einmal die Welt gegeben, ist alles unter Dach und Fach. Auch lebendige Körper sind nicht von Seelen bewegt, sondern natürliche Automaten, Maschinen. Seile, Fasern, Balken, Hebel, Räderwerk und Gestänge allerart, Zisternen, Kanäle, Mühlen und Springbrunnen veranschaulichen fortan die Anatomie und die physiologischen Systeme, die wir als Organe kennen, das Nervensystem, die Funktionsweisen auch der Sinnesorgane, mittels deren die materielle Welt erkannt wird. Einstweilen ergaben sich aus dieser Lehre, wonach sich die Welt aus größeren und kleineren Maschinen zusammensetzte, allerdings wunderliche Konsequenzen, zumal nicht länger faßlich blieb, was man sich unter formenden, der Materie innewohnenden Kräften vorzustellen hatte, welche Körper ihrer Qualität nach zu verändern vermöchten. Als einzige Ideen von Entwicklung waren die zwei Begriffe der Ortsbewegung und des quantitativen Wachstums übrig geblieben, kraft dessen Embryonen zu ausgewachsenen Vertretern ihrer Art gediehen, unter der Voraussetzung, daß sie in der Ei- oder der Samenzelle der Mutter oder des Vaters – beide Versionen gab es – bereits vorhanden waren, wie in ihren Fortpflanzungsorganen wiederum ihre Nachkommen und deren Nachkommen und so fort, russischen Puppen vergleichbar. Entweder Eva oder Adam also hätten sämtliche Milliarden Menschen in sich getragen, die auf der Welt waren, sind und sein werden.

Solche Merkwürdigkeiten gehörten zum Preis der Einheit der physischen Welt. Deren gesuchte Formel war bald gefunden: im Gravitationsgesetz, das Isaac Newton, 1642, im Todesjahr Galileis geboren, in seinen Principia mathematica von 1687 formulierte. Newtons epochale Leistung bestand darin, sowohl das Verhalten fallender Gegenstände, den Lauf der Planeten als auch die Gezeiten durch ein einziges Gesetz zu erklären.

Was die mechanistische Naturauffassung der Neuzeit von nun an definiert, ist der universale Determinismus, dem alle Prozesse in der materiellen Welt, im Mikrokosmos wie im Makrokosmos, gehorchen. Bis zur letzten Jahrhundertwende bleibt dieser Determinismus die geltende Interpretation der Newtonschen Mechanik, das Weltbild, das aus dieser angeblich zwingend hervorgeht. Hinzuzufügen bleibt nur Kants Demontage aller theoretischen Beweise des Daseins Gottes, die bis zum Auftritt seiner kritischen Philosophie in abweichenden, aber stets für gültig erachteten Versionen reformuliert worden waren. Immanuel Kant (1724-1804), ein großer Hauswart im Gesamtgebäude der spekulativen Wissenschaft, war nach Kräften um die Rehabilitation Gottes in der praktischen Philosophie bemüht. Aber ein theoretisches Fundament hat die menschliche Weisheit Gott nicht mehr zu bieten. Was bleibt, ist das Bild vom Kosmos als eines in Herkunft und Daseinsgrund unbekannten Gesamtmechanismus, einer großen – ob eiskalten oder herzenswarmen – Maschine. Diese Maschine, die rationale Welt, ist von jetzt an die ganze Welt. Ohne Gott und ohne Einsicht in den Grund ihres Daseins. Die rationale Wissenschaft allein hat fortan Zugriff auf die Wahrheit.

Diese Maschine ist es im weiteren, die Natur, die uns im Zuge ihrer determinierten Abläufe auch unseren unaufhaltsamen Fortschritt diktieren wird: im Takte unserer Einsicht ins kosmische Geschehen. Diese Einsicht ist ihrerseits nur ein Rädchen in der großen Maschine, so daß sie, wie diese selber, nur notwendig fortschreiten kann. Der Progress schien sich in großen Schritten zu vollziehen, und bereits Leibniz (1646-1716) klagte, zu seinem Unglück lebe er in einer Zeit, da das Universum im wesentlichen zu Ende erkannt sei.

Eine neue Leere. Seit kurzem weiß man, daß Newtons Physik erst neu zu entdecken ist. Newton betonte, er habe wohl die Schwerkraft erkannt, nicht aber deren Ursache. Eine Erklärung für die Schwere habe er aus den Naturerscheinungen nicht abzuleiten vermocht. So «wie der Blinde keine Vorstellung hat von den Farben», schrieb er, «so haben wir keine Vorstellung von den Arten und Weisen, in denen der weiseste Gott alles wahrnimmt und erkennt». Der Raum war als leer erkannt, denn für Newton galt der Wilhelm von Ockham (1285-1346) zugeschriebene Grundsatz, wonach die Dinge nicht über das Notwendige hinaus zu vermehren sind: Entia non sunt multiplicanda praeter necessitatem. Leibniz und die Cartesianer wiesen Newtons neue Kraft, die Schwerkraft, und die Vorstellung von Fernwirkung weiterhin als «okkult» zurück. Newton seinerseits war ein erklärter Spiritualist, und für dieses Etikett bürgt nicht seine lebenslängliche Beschäftigung mit der Alchimie, sondern seine Physik, die erst in den letzten dreißig Jahren wieder von der cartesischen emanzipierten Naturwissenschaft befreit worden ist. Wie Ed Dellian in seiner Einleitung zur neuen deutschen Ausgabe der Principia von 1988 ausführt, steht Newton dem Indeterminismus der gegenwärtigen Physik näher als der cartesischen Himmelsmechanik, aus der autonome Ursachen und damit Gott – «cette hypothèse là», wie Pierre Simon Laplace sagte – verbannt waren.

Seit Kant ist viel gedacht worden über die Grenzen zwischen Beweisbarem und Unbeweisbarem, denn Kant zufolge sind zumindest gewisse unter den Fragen, die unsere Vernunft an die letzten Dinge richtet – oder diese an jene –, nicht nur unbeantwortbar, sondern um nichts weniger unabweislich. Die fortgesetzten heroischen Versuche einer endgültigen Scheidung von Sinn und Unsinn, denen oft aller Sinn zum Opfer fiel, haben seither die Fundamente der Wissenschaft kaum befestigt. Für den logischen Positivismus, die Wissenschaftsphilosophie des frühen 20. Jahrhunderts, waren sinnvoll, das heißt rational zu überprüfen, einzig und allein die Sätze der Physik. Alles übrige war Metaphysik, in einem in Verruf geratenen Sinn des Wortes, nämlich Unsinn, so wahr und unwahr und so strittig musikalisch wie die Phrasen, die man im Konzertsaal hörte. Eine Eingebung desselben hardware-orientierten Geists mag Mies van der Rohes Wort gewesen sein, die Blume des 20. Jahrhunderts sei die Glühbirne.

Der martialische Charakter dieser Wissenschaftsideologie hat viel zu ihrem Zusammenbruch beigetragen. Sie hat längst das Feld geräumt zu Gunsten aller erdenklichen Spielarten von Relativismus und Pluralismus. Die Philosophie, soweit sie sich nicht auf Ideengeschichte beschränkt, ist heute ein Tummelplatz, wo es endlich altklug zu und her gehen darf, wo nichts mehr wahr ist, dieser abgeklärte Bescheid natürlich ebensowenig, wo zudem alle allen stets um wer weiß wie viele Reflexionsstufen voraus sind, wie es schon der Stil gebietet, immer einmal mehr, da heute alle Menschen Kinder bleiben, computergestützt, und sich auch in der Theorie verstärkt dem Sektenwesen mit dem ihm eigenen Pluralismus öffnen. Der Geist des Abendlandes will sich dabei noch immer universell, das läßt er sich nicht nehmen; er versteht sich nach wie vor auf alles, pflichtgetreu, ist gleichzeitig überall in Raum und Zeit und will auch anderen helfen. Nicht nur die Raumfahrt, sogar Afrika hat er erfunden, und für die Eingeborenen erfindet er dort täglich neu das Rad.

Die eine Welt hat Platz gemacht für viele Welten. Das wird gerne mißverstanden, und es heißt zum Beispiel nicht, daß vertrauenswürdige Wissenschaftsphilosophen der Gegenwart wie Willard van Orman Quine oder Nelson Goodman je behauptet hätten, es gebe keine Wirklichkeit, keine Tatsachen, nichts dergleichen, und der Mann, der gestern vor dem College totgefahren wurde, sei nicht tatsächlich totgefahren worden. Allerdings behauptet niemand mehr im Ernst zu wissen, wie der Kosmos in aller Zukunft aussehen wird. Man hat dafür zu viele Erkenntnisse gewonnen. Die Wissenschaft war und ist die mächtigste und kreativste Kraft der westlichen Kultur, und in den hochentwickelten Gesellschaften hat sich dank ihr die mittlere Lebenserwartung nahezu verdoppelt. Descartessche und Leibnizsche Antworten jedoch hat sie keine mehr, und was die rationalistische Metaphysik des letzteren betrifft, so verdient Erinnerung wenigstens eine Bemerkung Bertrand Russells, wonach ein System, das nicht vollständig konsistent sei, kaum vollständig plausibel, ein System dagegen, das vollständig konsistent sei, durchaus vollständig unplausibel sein könne.

Den zeitgenössischen Naturwissenschaften wird oft ein unreflektierter und kaum zu erschütternder Glauben in die Technik und deren Fortschritt unterschoben, während doch gewisse Folgen der Technik den Grund dieses Glaubens bei einem breiteren Publikum nachhaltig in Frage stellen und dadurch Desorientierung und Aberglauben zu befördern drohen. Die wissenschaftlichen Revolutionen des Jahrhundertbeginns, Einsteins Relativität, Plancks Indeterminismus und Heisenbergs Unschärfe in der Atomphysik, Gödels mathematische Unvollständigkeit, haben dem deterministischen Kosmos der Cartesianer, dem rationalistischen Weltbild des Westens wenig anzuhaben vermocht. Man wird aber den zeitgenössischen Naturwissenschaften nicht länger vorhalten können, sie seien das Vehikel der ungebrochenen Überlieferung dieses eindimensionalen Rationalismus, der aus ihrer frühmodernen Vorzeit auf uns gekommen ist. Diese Ideologie muß andere Kanäle der Verbreitung gefunden haben, es waren schwerlich die Rechenstunden im Lehrplan, was ihr zu ihrer bis heute erdrückenden Wirksamkeit verhalf. Die Erklärung dafür ist wohl weniger in der Struktur der Materie und im Weltraum, geschweige denn in der Mathematik zu suchen als vielmehr in einem Gemenge aus protestantischer Ethik, weltlichem Vulgärutilitarismus – sprich: krudem Nutzendenken – und einer die Welt restlos entzaubernden ökonomischen «Rationalität», die in cartesischen Treuen das Wesen aller Dinge im Quantum erblickt. Arthur Schopenhauer schrieb, der Rationalismus habe das Christentum zu einer «Religion für komfortable und aufgeklärte protestantische Pastoren» verfälscht.

Vico und die Entdeckung der Kultur. Es gab noch etwas anderes. Das war der Mensch, auch wenn er durch ein Fernrohr schaute und dieses hoch zum Himmel hob. Quand le doigt montre la lune, l'imbécile regarde le doigt. Zeigt der Finger zum Mond, schaut der Dummkopf auf den Finger. Dieser Satz, nachgewiesen im Mai '68 als Graffito an einer Pariser Mauer, ist nicht immer nur wahr. Giambattista Vico schaute mehr auf Galilei als auf die Mondgebirge. Auch Vico, so viel verbindet ihn mit dem Unternehmen der entstehenden Naturwissenschaft, will natürlich den Aberglauben bekämpfen. «Denn», schreibt er, «wenn die Menschen einmal von einem furchterregenden Aberglauben erfaßt sind, beziehen sie auf ihn alles, was sie sich vorstellen, sehen und sogar was sie tun.» Und «die Hexen sind, während sie von furchteinflößendem Aberglauben erfüllt sind, zugleich in höchstem Maße wild und grausam, so daß sie, wenn es für die Weihe ihrer Zauberei erforderlich ist, ohne Mitleid liebenswürdigste, unschuldige Kinder töten und in Stücke hauen». Eine Generation nach ihm Voltaire im Dictionnaire philosophique: «Man beachte, daß die Zeiten des größten Aberglaubens immer die Zeiten der schrecklichsten Verbrechen waren.» Für Voltaire gab es «vielleicht nur einen verzeihlichen und sogar die Tugend fördernden Aberglauben», nämlich die großen Wohltäter der Menschheit neben die Götter zu setzen. Doch als besser empfahl er, sie zu verehren und danach zu trachten, es ihnen gleichzutun, nicht jedoch sie zu bewundern wie Herkules, «pour avoir couché avec cinquante filles dans une nuit».

Vico, geboren 1668 als Sohn eines Buchhändlers in Neapel, gestorben 1744 ebenda, wurde zu Lebzeiten nicht zur Kenntnis genommen. Ein prominentes Gedächtnis bewahrte ihm die Literatur, von Coleridge über Balzac und Dostojewski bis zu Joyce und Beckett, deren Interesse er erst als origineller Einzelgänger in der Poetik auf sich zog, dann auch durch seine Lehre von den corsi e ricorsi, der in Zyklen von Verfall und Aufstieg verlaufenden Geschichte. Nachdem ihm in der Fachwelt des 19. Jahrhunderts einzig unter italienischen Historikern und in Frankreich von Jules Michelet eine gewisse Bedeutung zugemessen wurde, erfuhr sein Lebenswerk Scienza nuova – in erster Fassung 1725 – seit der Jahrhundertwende Renaissancen, bei rechten wie bei linken Hegelianern, von Benedetto Croce bis zu Jürgen Habermas und darüber hinaus. Gefeiert wurde er inzwischen als früher Wegbereiter der modernen Soziologie, Anthropologie, Psychologie, in Deutschland zunächst vor allem als Erfinder der Geschichtsphilosophie, die wenig später von Voltaire ihren Namen erhielt.

Nebst italienischen haben inzwischen angelsächsische Autoren, angeregt vor allem durch Isaiah Berlins Vico and Herder (1976), Vico in ein anderes Licht gerückt. Er steht dem Vico fern, der in Georg Lukács' Die Zerstörung der Vernunft (1954) als Vordenker des Geschichtsmaterialismus marxistische Gnade fand – was daran erinnern kann, daß Materialismus auch als Geschichtsphilosophie nicht automatisch progressistisch zu sein braucht. Vico ist für Berlin nicht in eine Reihe zu bringen mit Descartes, Voltaire, Diderot, den philosophes des lumières, der französischen Aufklärung. Eher steht er einsam am Ursprung einer Bewegung, die die Gegenaufklärung heißen wird, in Deutschland über Herder zu den Dichtern der Romantik, zu Nietzsche, Spengler, Heidegger verläuft, einer Bewegung, die unter anderem einer folgenschweren Erfindung Pate stand: der Erfindung des Nationalismus, dieses Dampftopfs tief empfundener Unkultur. Man darf dabei eines nicht vergessen: Wenn ein großer, unabhängiger Geist wie Berlin sich für die Motive der Gegenaufklärer interessierte, so weil er den dominanten Kräften der Aufklärung Mitschuld an den Verbrechen des 20. Jahrhunderts zuschrieb. Berlin war kein Feind des Fortschritts. «Ganz sicher», schrieb er, «ist ein Zeitalter mit allgemein anerkanntem Gerechtigkeitsmaßstab für alle Menschen, in dem es keine Menschenopfer mehr gibt und rationale Methoden der Erforschung der Vergangenheit Mythen und Legenden ablösen, in einigen nicht zu übersehenden Hinsichten einer Kultur überlegen, in der Agamemnon seine Tochter als Gabe für die Götter abschlachten läßt oder die Menschen den Himmel für einen großen beseelten Körper halten, der seinen Ärger mit Blitz und Donner kundtut.»

Den Fortschritt überschätzen kann oft gefährlicher sein als ihn unterschätzen. Doch dieser Vorbehalt bedeutet nicht, den Fortschritt abzulehnen, und eine Forderung nach Korrekturen am Erbe der Aufklärung ist noch kein Bekenntnis zur Gegenaufklärung, die noch stets im Dienst des größeren Übels stehen kann. Ein Kopf wie Jorge Luis Borges, von Linken oft genug als Reaktionär verschrien, brachte es auf eine kurze Formel: Der Kommunismus seinem Wesen nach sei rational, der Faschismus sentimental.

Vicos Ausgangspunkt ist der Mensch, der schwache – ein Geschlecht, das, um sich selber zu regieren, mehr braucht als Vernunft und Freiheit. Im Gegensatz zum Vernunftglauben der Aufklärung braucht er Glauben, Ordnung, Tradition – konkreter: Religion, Familie, Eigentum. Wie Mark Lilla in seinem Buch G.B. Vico. The Making of an Anti-Modern schreibt, ist Vicos Echo lautstark im Gepolter eines französischen Gegenaufklärers wie Joseph de Maistre zu vernehmen, der hundert Jahre nach ihm seinen Zeitgenossen Religion, Autorität und Päpste verordnete, obschon Vico, im Gegensatz zu de Maistre nicht die Rückkehr zu den Scheiterhaufen propagierte. Zudem erkannte Vico, daß die moderne Wissenschaft sich nicht nur für den Fortschritt, sondern auch für reaktionäre Ziele mobilisieren läßt, daß sie ein wirksames Instrument abgeben kann, um im Menschen selbst das bißchen Vernunft, das er hat, zum Schweigen zu bringen. War es nicht dereinst die Vernunft, in deren Namen Robespierre, Stalin, Mao und Pol Pot vorgingen – republikanisch erst, dann sozialistisch wissenschaftlich?

Der vitale Impuls der Aufklärung geht von der Annahme aus, daß die Welt sich verbessern lasse. Aufklärung ist, nach der Formel Kants, «der Ausgang des Menschen aus seinerselbstverschuldeten Unmündigkeit». Und «Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen». Die negative Fassung ist nichtdurch eine positive zu ersetzen, denn das Gegenteil von selbstverschuldeter Unmündigkeit ist nicht einfach Mündigkeit. Vico kritisiert an Descartes nicht den rationalen Geist, sondern dessen Verabsolutierung, und Kants «Wahlspruch der Aufklärung»: «Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!» ist keine Aufforderung, diesen Verstand absolut zu setzen, sondern nur, ihn von seinen selbst auferlegten Beschränkungen zu befreien.

Zu seiner Bedienung aber hat dieser Verstand, und das ist Vicos Sorge, zunächst instand gesetzt zu werden. Dem Cartesianismus billigt Vico eine überwältigende Kraft zu: die Kraft, alles, was im Rahmen seiner Prinzipien nicht unterkommt und mit seiner analytischen Methode nicht beweisbar ist, zu Unsinn zu erklären, zu ideellem Müll, eben Aberglauben. Diesem unvergleichlichen Gewaltakt fällt auf einen Schlag das Wissen und die Weisheit der Jahrtausende zum Opfer. Der Mensch verarmt. Da er nicht in einer Welt von absoluter Evidenz und Transparenz lebt, sondern in einer Welt von Ungewißheit und im besseren Falle von Wahrscheinlichkeit und praktischer Verläßlichkeit, nimmt ihm die neue Wissenschaft der Cartesianer jede Orientierung. Die Wissenschaft allein hat Zugriff auf die Wahrheit, und gibt es einzig eine Wahrheit der Natur, gibt es nicht zudem eine Wahrheit der Kultur, dann gibt es wiederum, man hat es schon gesehen, nur Physik – cartesische Mechanik – auf der einen und Aberglauben auf der anderen Seite.

Doch selbst die moderne Wissenschaft verdankt ihr Licht und ihre Erfolge einem Erbe aus Jahrtausenden, ohne das ihr Auftritt undenkbar gewesen wäre. So geschieht es nicht aus purem pädagogischem Antrieb, wenn Vico sich der Bildung und Erziehung zuwendet. Denn gleichermaßen in der Entwicklung der Gattung wie des Individuums führt Vicos Weg zur Vernunft nicht in erster Linie wieder über die Vernunft, sondern über die beiden wichtigsten irrationalen Vermögen des Menschen: das Gedächtnis und die Einbildungskraft, die lateinisch imaginatio und griechisch phantasia hieß, bei Vico fantasia.

Die Alten, so Vico, hatten es verstanden, ihre Klugheit oder zumindest ihren Common sense den Söhnen weiterzugeben. Die Geometrie, die besser nicht zu sehr zum Verständnis des täglichen Lebens beigezogen wird, schulte ihr Vorstellungsvermögen; Rhetorik, Dialektik und Topik, die Künste der Rede und des Arguments, verhalf ihnen zu Beweglichkeit und Findigkeit in einer Welt, wo mathematische Beweise fehlen. Doch schließlich gründet auch das analytische Vermögen auf der Imagination, ohne die es verkümmern muß. Wie Kinder Märchen brauchen, braucht die Menschheit Poesie und Mythen. «Und durch dieses ganze Buch wird gezeigt werden», das ist das Programm von Vicos Scienza nuova, «daß, soviel die Dichter anfangs von der gewöhnlichen Weisheit empfunden hatten, ebensoviel die Philosophen später von der geheimen Weisheit begriffen; so daß man sagen kann, jene seien die Sinne und diese der Verstand des Menschengeschlechts gewesen.»

Vico's Science of Imagination nennt Donald P. Verene im Titel seines Buchs die Scienza nuova. Die Empfindungen der Sinne, so Verene, werden nicht zuerst in Gedanken festgehalten, sondern in Bildern. Den Input der Begriffsbildung hat das spontane Vermögen der fantasia zu erbringen; die Nahrungsquelle der Imagination ist die Voraussetzung der Abstraktion. Vico stellt Plato, dem Philosophen, Homer gegenüber, den Sänger, mit dem die Wissenschaft beginnt. Die ausgestaltete Idee des klugen Mannes ist Odysseus, aus der per Abstraktion die Begriffe seiner Tugenden gewonnen wurden. Wir sehen, «daß der wahre Heerführer zum Beispiel der Gottfried ist, den Torquato Tasso ersinnt», und dank dem Neapolitaner Vico erkennt man endlich den wahren Wert des Italowesterns und seiner unschätzbaren Anthropologie. Hume in seiner ganz der Aufklärung verpflichteten Natural History of Religion (1755) schrieb die Geschichte des Geistes als Aufstieg durch die Stadien seiner Unterentwicklung. Der Begriff des Mythos bleibt ein negativer: Mythen ersetzen wissenschaftliche Erklärungen, solange man über solche nicht verfügt. Was sie vom Aberglauben unterscheidet, ist höchstens ihre Unschuld, denn der Aberglauben ist stets gepaart mit einem Element von besserem Wissen, wider das er sich behauptet. Bei Vico birgt der Mythos eine Wahrheit: die Wahrheit des notwendigen Entwicklungsstadiums, die nur in ihm gegeben ist, die durch die Wissenschaft nicht ersetzt, sondern bestenfalls erschlossen, interpretiert wird.

Die Wissenschaft bedarf dabei wiederum der fantasia. Dank der Mythen werden die Prozesse der Begriffsbildung erschließbar, und die Imagination vollzieht sie nach. Alles Wissen beruht auf Gedächtnis, das nicht ein Behälter nur von Fakten ist, sondern der Motor auch der Imagination. Ohne Vergangenheit verstünden wir kein Wort unserer Sprache. Das erste Wort aber sprach Jupiter: «bababadalgharaghtakamminarronnkonn- bronntonnerronntuonnthunntrovarrhounawnskawntoohoohoor- denenthurnuk!» donnert er in hundert Buchstaben bei Joyce, in Finnegans Wake, und er wird es ein paarmal umgeschrieben haben – vielleicht war die gültige Fassung nicht die erste? Die Götter verschwinden, wie Verene sagt, wenn die Sprache der Götter verschwindet.

«Barbarei der Reflexion» Auch Vico empfahl der Jugend nicht nur Cicero, sondern auch das Studium der Natur. Aber es sollte nicht dazu dienen, sie zu beherrschen, sondern unseren Hochmut zu zügeln. Und die wichtigsten Erkenntnisse erhoffte er nicht von den Naturwissenschaften, denen ihr Gegenstand fremder sein mußte als der eigene Menschengeist. Dem Credo der Naturphilosophen hielt er entgegen, was als sein Prinzip des verum factum in die Ideengeschichte eingegangen ist: «Diese lange und finstere Nacht» – die Geschichte des Menschengeschlechts – «wird von einem einzigen Licht erleuchtet, von der Einsicht nämlich, daß die Welt der gesitteten Völker unbestreitbar von den Menschen selbst geschaffen worden ist.» Ist der Mensch der Wahrheit mächtig, dann im Reiche nicht der Natur, die nicht seiner Art ist, sondern höchstens der Geschichte – der Wahrheit dessen, was er selber hervorbringt. Descartes hingegen, der selber seiner Bildung alles verdankt und diese nun der Jugend vorenthalten will, indem er sie disqualifiziert – «Descartes tat, was Tyrannen immer tun, Tyrannen, die dank einem freien Geist groß geworden sind, doch nun, nachdem sie ihre Macht gesichert haben, zu schlimmeren Tyrannen werden als jene, die die Welt vor ihnen unterdrückten». Die cartesischen Bilderstürmer, dieses hohe Gericht der zeitlos unabänderlichen Vernunft, das jede Auseinandersetzung mit dem Unbeweisbaren verbietet, bürgen nicht nur für die Willkür ihrer Skepsis, sondern für eine Aufklärung im Zeichen neuer Intoleranz. «Barbarei der Reflexion» heißt dies bei Vico, und nicht die Abkehr von der Vernunft führt sie herbei, sondern die Abkehr von der Überlieferung im Namen der Vernunft, die keine Grenze kennt.

Die «Barbarei der Reflexion» ist die Preisgabe der wirklichen Welt zu Gunsten jener wahren Welt, wie sie ein absolutes, ein göttliches Subjekt erblicken würde. Da diese wahre Welt als einzige bleibt, erscheint es, als müßten auch wir zu solchen Subjekten erst werden, um das Tageslicht zu sehen. So unfaßbar wie alles, was uns in der Außenwelt begegnet, bleibt, was die empirischen Subjekte, die wir bis jetzt sind, von einem solchen absoluten Subjekt unterscheidet. Wie Maurice Merleau-Ponty mit Blick auch noch auf Kant anmerkte, kann es sich einzig um einen «Mangel an gutem Willen» handeln. In seiner Phénoménologie de la perception (1945), der vielleicht eindringlichsten Cartesianismus-Kritik unseres Jahrhunderts, legt Merleau-Ponty die Verhältnisse in wenigen Worten dar: «Die Welt erscheint nur als absurd, wenn eine Forderung absoluten Bewußtseins in jedem Augenblick die Bedeutungen zersetzt, von denen sie wimmelt, und umgekehrt ist diese Forderung selbst motiviert vom Konflikt der Bedeutungen untereinander. Nicht nur als philosophische Behauptungen, sondern als Erfahrungen sind absolute Evidenz und Absurdität einander äquivalent. Rationalismus und Skeptizismus nähren sich gleichermaßen aus einem von beiden uneingestandenermaßen vorausgesetzten faktischen Bewußtseinsleben, ohne welches sie selber weder gedacht noch erlebt zu werden vermöchten, von dem her aber weder zu sagen ist, alles habe einen Sinn, noch alles sei Unsinn, sondern allein: es gibt Sinn. In cartesischer Erleuchtung jedoch zeigt sich die wirkliche Welt, in der wir leben, wie in Platos alter Höhle als «juste un peu d'ombre, qui n'est que par la lumière» – bloß ein wenig Schatten, der nur dem Licht entstammen kann.

Dank diesem Schatten läßt es sich nun ungehindert im Trüben fischen, läßt sich alles, was sich der Kontrolle unserer Vernunft entzieht, und vieles andere mehr – auch alles Übernatürliche – zu Schrott und Müll deklassieren, der sich desto müheloser vergolden läßt. Wie Christoph Daxelmüller in seiner Sozialgeschichte der Magie, Aberglaube, Hexenzauber, Höllenängste, herausarbeitet, rekrutierten sich die Scharlatane nie zur Mehrheit unter alten Bauersfrauen draußen nahe der Natur, sondern in der Stadt, unter brotlosen Studenten und anderen Pseudowissenschaftlern. Der kommerzialisierte Aberglauben, fern davon, sich um die Heiligkeit, die überirdischen Qualitäten seiner letzten Dinge zu sorgen, trivialisiert, banalisiert, führt ohne Rücksicht die Entzauberung zu Ende. Und wenn er in die weite Welt ausgreift, verfährt er mit seinen Funden wie der Sextourist mit der Exotin.

Angesichts der Esoterikwelle erscheint es mehr als zweifelhaft, ob es die eisige cartesische Welt ist, woran wir Anstoß nehmen sollen. So mag auch diese fortbestehen – in unserer rätselhaften und so geheimnisvollen Welt: «Und Pangloss sagte hie und da zu Candide: «Alle Ereignisse sind in dieser besten aller möglichen Welten ineinander verkettet. Denn wären Sie nicht mit derben Fußtritten in den Hintern aus dem schönen Schloß fortgejagt worden um Ihrer Liebe zu Fräulein Kunigunde willen, wären Sie nicht der Inquisition in die Hände gefallen, hätten Sie nicht Amerika zu Fuß durchwandert, hätten Sie dem Baron nicht einen tüchtigen Degenstich versetzt und hätten Sie nicht alle Ihre Hammel aus dem schönen Land Eldorado verloren, so säßen Sie jetzt nicht hier und äßen nicht eingemachten Zedrat und Pistazien.»