Die Unschuld, die Bomben baut. Drei Tage mit Philip Roth
Auch an diesem heißen Junitag in Newark, der Stadt seiner Kindheit, spricht Philip Roth nicht so viel von sich selber. Sein Thema ist sein Land Amerika und dessen Geschichte. Kleiner Streifzug mit einem Forscher im Moralland.
«Meine Autobiografie bestünde fast gänzlich aus Kapiteln darüber, wie ich allein in einem Zimmer sitze und vor mir auf eine Schreibmaschine starre. Angesichts der Ereignislosigkeit dieser Autobiografie läse sich Becketts Der Namenlose schon fast wie Dickens.» So Philip Roth 1981 zu Alain Finkielkraut, und in dieser Sache hat sich seither nichts geändert, außer dass jenes Gespräch bestimmt nicht Roths einzige Gelegenheit blieb, darauf hinzuweisen. Mit dem soeben beschriebenen Lebensalltag macht ja auch sein Romanwerk wiederholt vertraut – der Schriftsteller Lonoff in The Ghost Writer (1979; Der Ghostwriter), ausführlicher Deception (1990; Täuschung) und dort, ja, wer wohl, wenn nicht Roth höchstpersönlich! «Täuschung» – der Titel ist exakt der richtige zu diesem Zweck, und in Roths Büchern ist ja ohnehin alles autobiografisch, nicht wahr, jedes Wort, wie er bei einem Interview zu seinem Siebzigsten im März bekräftigt hat, «und haben Sie jetzt noch eine andere Frage?» Genüsslich zitierte Roth schon in dem Gespräch mit Finkielkraut Virginia Woolfs The Voyage Out (Die Fahrt hinaus), worin eine Figur, die ein Buch schreiben möchte, sagt: «Keiner macht sich etwas daraus. Einen Roman liest man einzig, um herauszufinden, was für ein Kerl der Verfasser ist und, falls man ihn kennt, welche von seinen Freunden er darin unterbringt. Der Roman selber, seine ganze Konzeption, wie du die Sache siehst, wie du fühlst und was du damit in Zusammenhang bringst, das interessiert unter einer Million nicht einen einzigen.»
Roth ist Schwerarbeiter und lebt in einem Landhaus, irgendwo im Westen von Connecticut, ein Mönchsdasein. Seit 1991 hat er sieben Romane veröffentlicht, und wenn er an einem schreibt, wie selbstverständlich auch in diesem Augenblick, dann lässt er ihn niemals auch nur eine Woche im Stich. Das würde ihn sonst, sagt er, einen oder zwei Monate kosten. Nicht weniger konzentriert erledigt er das übrige, Medienarbeit beispielsweise, und hat er einmal zugesagt, so hieß es sehr bestimmt aus seiner näheren Umgebung, dann ist Roth nicht nur halb dabei, dann macht er es ganz. Über manches spricht er lieber als über sich selbst, und wie sich bald erhärten wird, gilt das sogar für sein Werk. Zugeknöpfter als andere Menschen wirkt er, was alles übrige angeht, keineswegs. Im Gegenteil, und bei unserem Ausflug nach Newark tritt er ganz und gar nicht als ein Mann des Protokolls auf. An der Chancellor Avenue School, wo er lesen und schreiben lernte, beschwert sich die Schulleiterin, dass wir unangemeldet aufgekreuzt sind. Sie hätten sonst etwas vorbereitet im großen Theatersaal, wo Roth vor demnächst sechzig Jahren als Kolumbus auf der Bühne stand. Das war erst ein Anfang, wenn auch ein verpflichtender vielleicht, das Thema jedenfalls, und nehmen wir's vorweg: Roth ist ein Patriot, also – mit einem erinnernswerten Wort von Chinua Achebe – ein Mensch, der sein Land liebt, und nicht ein Mensch, der sagt, er liebe sein Land. Was Roth angeht, so scheut er keine Mühe, Amerika zu erklären, nicht einmal an diesem Junitag auf dem glühend heißen Asphalt Newarks – alles deutet darauf hin, dass ihn sein Lebenswerk an keinem Esstisch ganz in Ruhe lässt.
Der Patriot
An der Summit Avenue Nummer 81, einen Steinwurf von der Schule entfernt, steht das Haus, in dem er im damals überwiegend jüdischen Außenbezirk Weequahic seine ersten neun Lebensjahre verbrachte. Sein Name ist hier unbekannt, und nur dass den einen dieser fünf Besucher drei der vier übrigen fotografieren, zeugt von einem Ausflug aus besonderem Anlass. Die Landlady, eine schwarze Dame seines Alters, führt ihn gerne in die Räume seiner frühen Kindheit, wo er sich zum ersten Mal wiederfindet, seit er sie vor 61 Jahren verlassen hat. Doch ab der Haustür ohne Begleitung. Wortführer der Gruppe ist nicht etwa Charles Cummings, ein Freund Roths und offizieller Stadthistoriker, der, seit vierzig Jahren in Newark, den Weg noch heute findet. Auf seine Vorsprache hin war das Amt des Mayor bereit, außerdienstlichen Polizeischutz abzustellen, nicht ohne die nötigen Bewilligungen erteilt und Versicherungsfragen abgeklärt zu haben, wonach jede Haftung für unser Wohlergehen seitens der Stadt ausgeschlossen ist. Stets geht der Meister selbst voraus. Auch mit dem alten Afroamerikaner, der auf einer Krücke den Rasenmäher schiebt, hat er, als er wieder aus dem Haus kommt, mehr zu reden als seine Begleiter, die draußen vor der Tür auf ihn gewartet haben.
Hobby's Delicatessen schaut immer noch auf Branford Place hinaus wie bereits zur letzten Jahrhundertmitte, und nun doch: «No! Philip Roth!» – welche Überraschung für Ronni Brummer, der den Feinkostladen führt. Auch hier, downtown, noch eine Gestalt aus der Schulzeit, und das wiedererkannte Gesicht ruft Roth den einen und anderen Namen ins Gedächtnis, der es nach dem Abgang von der Weequahic High School in Newarks Unterwelt zu Berühmtheit brachte. Aber nein, lacht Ronni Brummer, davon hat er nie und nichts gehört, dass ihr Banknachbar zahlreiche Männer um die Ecke gebracht haben soll. Lange her ist's, auch für ihn, der hier ausgeharrt hat, vielleicht noch länger als für seinen unverhofften Gast.
Bei unserem ersten Treffen vier Monate zuvor, noch vor dem amerikanischen Einmarsch im Irak, erteilte Roth mir eine Privatlektion zu der Anomalie, die ihm zufolge gegenwärtig das politische Leben seines Landes prägt: «Ein konservativer Präsident aus dem Süden, das gab es nicht mehr seit John Tyler in den achtzehnvierziger Jahren», der zwar als Kandidat der Whigs ins Amt kam, aber dann als früher Verfechter der States'-Rights-Bewegung und damit als reaktionärer Vorläufer der Sezessionisten in die Geschichte einging. Präsidenten aus dem Süden waren immer Demokraten, während Konservative aus dem Norden und Osten oder allenfalls noch, wie Reagan, aus Kalifornien waren. Gewiss, auch die Bush-Familie hat ihre neuenglischen Wurzeln in Connecticut, an der Ostküste, doch nicht mehr dieser junge Bush, und wenn der vielleicht kein richtiger Texaner ist, sagt Roth, dann jedenfalls auch sonst nichts. Die europäische Schulmeisterei mag er dennoch nicht. «Wenn Sie an Europas Anomalien im vergangenen Jahrhundert denken, nicht wahr. Schauen Sie in diesem Land herum! Nirgendwo werden Sie ein Denkmal von McCarthy finden. Noch jedesmal bis jetzt hat das amerikanische Volk aus seinen politischen Verirrungen zurückgefunden, und zwar aus eigener Kraft, auch wenn es einige Zeit dauern konnte und diesmal vielleicht wieder dauern wird.» Roth ist Amerikaner, und darum, Amerikaner zu sein und auch sein zu wollen, darum dreht sich sein ganzes Werk von Goodbye, Columbus (1959: dt. derselbe Titel) bis zu The Human Stain (2000; Der menschliche Makel).
16 Bahnminuten von Manhattan
Aber auch jetzt in Newark spricht er kaum von sich, sondern von dieser Stadt, und ich beziehe, sechzehn Bahnminuten von Manhattan, einen weiteren Schnell- und Intensivkurs in amerikanischer Geschichte. Gegen eine halbe Million Einwohner hatte die Stadt, als der achtzehnjährige Roth sie 1951 verließ. Hundert Jahre zuvor hatte sich der Staat New Jersey zur Basis der amerikanischen Industrialisierung entwickelt, mit dem Zentrum Newark, ehe das große Abenteuer seine Schwergewichte westwärts, nach Chicago und in den Staat Illinois, verlagerte. Hier in Newark lieferten sich alle Immigrantengenerationen ihre Kämpfe um die wirtschaftliche Vorherrschaft, Engländer, deutsche Juden, Italiener, Juden aus Europas Osten, bis die Stadt in unmittelbarer Folge der Bürgerrechtsunruhen von 1967, den schwersten im Osten der Vereinigten Staaten, auf einen Schlag über ein Viertel seiner Bevölkerung verlor. Zehn Jahre lag sie wirtschaftlich im Koma, die Innenstadt so gut wie tot, und unzählige Ruinen aus jenen Tagen sind bis heute nicht abgetragen. Da wäre auch Levovs Handschuhfabrik in American Pastoral (1997; Amerikanisches Idyll) wahlweise in zahlreichen niemals wiederbelebten Baulichkeit unterzubringen. Heute hat Newark noch rund eine Viertelmillion Einwohner, davon 80 bis 85Prozent afroamerikanisch, in Weequahic 98 Prozent. Ich bin zum ersten Mal im schwarzen Nordamerika, fühle mich zu Hause fast wie in der Hauptstadt Kenyas, meinem Domizil in den frühen neunziger Jahren, und «yes, you must be right», sagt Roth, «it all looks pretty much Nairobic». Vorstadt ist hier auch zwischen den historischen Bauten im Zentrum, was die Supermarkets, Sportsware Shops und Bijouterien angeht, viele geführt von denselben Indern wie in Ostafrika. Nur sehen dort die jungen Männer weder alle wie Arnold Schwarzenegger aus oder verwenden darauf immerhin viel Zeit, noch ist bis heute ein vergleichbarer Anteil von ihnen im Drogenhandel aktiv. «Der Staat hat diese Leute aufgegeben», sagt Roth, «vor allem natürlich diese Regierung jetzt.» Rund 50000 Studenten sind an den fünf Universitäten und anderen akademischen Lehrstätten eingeschrieben, doch die meisten von ihnen pendeln.
Eine Stadt, die gewissermaßen über Nacht ein Viertel der Bevölkerung verliert – selbst in einem Krieg ist das ein außerordentliches Vorkommnis, und «vergessen Sie nicht», sagt Roth, «bei einem Krieg normalisiert sich die Lage nach dem Ende gewöhnlich binnen wenigen Jahren». Der Koloss USA walzte noch in seiner jüngsten Geschichte über tiefgreifende innere Umbrüche hinweg, von denen Europäer in aller Regel denkbar wenig zur Kenntnis genommen haben. Wenn Roth in seiner amerikanischen Trilogie zur Jahrhundertwende nach Newark zurückgekehrt ist, dann, wie er sagt, weil die Stadt selber nie mehr zu sich und in ihre Geschichte zurückgefunden hat. «Was hätte ich da verloren, wenn die Stadt sich dem Weltlauf konform fortentwickelt hätte?» In den Brüchen der Zeit hat Roth seinen Stoff gefunden, die amerikanische Zeitgeschichte nämlich, nachdem er für ziemlich lange Zeit doch näher bei sich selber verweilt hatte. In seiner amerikanischen Trilogie haben ihn seine Hauptfiguren nach Newark zurückgebracht: 1997 in American Pastoral in die vierziger Jahre und in die Zeit der Bürgerrechtsunruhen und des Vietnam-Kriegs; 1998 in I Married a Communist (Mein Mann, der Kommunist) in die Depression der dreißiger Jahre sowie die folgenden beiden Jahrzehnte des Kriegs und der antikommunistischen Inquisition McCarthys; und in The Human Stain mit dem halbwüchsigen Coleman Silk wiederum vor allem in die Zeit der eigenen Adoleszenz in den vierziger Jahren.
Wegbereiter der Blumenkinder Schon der Autor seines mittleren Werks, in dessen Zentrum die Zuckerman-Trilogie (1979-1985) steht, braucht nicht auf jener Anklagebank auszuharren, auf der viele diesen immer wieder festzubinden versuchten. Sein Erzähler und Wiedergänger Zuckerman als großer «sexueller Abenteurer»... Wer die Trilogie in einem Zug liest, behält Zuckerman nicht in erster Linie als solchen in Erinnerung, sondern als jungen Mann, der für den Konformismus seiner Herkunftswelt nicht geschaffen ist und sich dabei mit mehr und ernsteren Problemen schlägt. Wenn schon: «Roth – dieser jüdisch-amerikanische Autor, endlos mit sich selbst beschäftigt...» Gewiss, in Roths mittlerem Werk nehmen gleich mehrere Schriftsteller breiten Raum ein, und einer davon, in Facts (1988; Tatsachen), in Deception, in Patrimony (1991; Mein Leben als Sohn) und in Operation Shylock (1993; dt. derselbe Titel) tritt sogar unter dem Namen Philip Roth auf. Nur bleibt die Frage, inwiefern er selber das sein sollte (oder nicht), noch in diesem Fall die unergiebigste, mit der die Romane sich traktieren lassen. Nicht um die Rückschlüsse, die aus dem Werk auf sein privates Leben zu ziehen sind (oder nicht sind), geht es. Es geht um Beruf und Berufung eines amerikanischen Schriftstellers in der amerikanischen Gesellschaft, wobei der prominenteste von Roths Schriftstellerprotagonisten, von 1979 bis heute am Werk, eben Nathan Zuckerman heißt und nebenbei in der Tat Jude ist.
Schon Portnoy's Complaint (1969: Portnoys Beschwerden), der Roman vom Onanisten auf der Psychonalytikercouch, mobilisierte unvermeidlich einen Sinn für Literatur, für den es sich bei den Beschwerden des Protagonisten Alexander Portnoy einzig um eine Krankheit des Verfassers handeln konnte. Das Böse ist im Auge des Betrachters und lässt nichts anderes zu. Doch der hochpräzise Erfolg eines Buches, das in den USA Rang 1 der Bestsellerliste erklomm, in Australien mit einem Einfuhrverbot belegt und dessen Titel seitdem immer wieder von amerikanischen Senatoren als die endgültige Metapher für Anstößigkeit und Obszönität im Mund geführt wurde, ist nicht dadurch befriedigend erklärt, dass ein Schriftsteller die eigene Unterhose auszieht. Offenbar war Roth mit Portnoys Obsessionen nicht allein, obschon er sich in den Jahren darauf zu einer Wegbereiterrolle bekannte – und etwas gerührt dürfte man durch seine ironisch kriegerische Rhetorik in einem Interview der «American Poetry Review» von 1974 schon sein: «Der massive Angriff der späten sechziger Jahre auf das sexuelle Brauchtum kam fast zwanzig Jahre, nachdem ich selbst am Strand den Boden unter den Füßen gespürt und um einen ersten Brückenkopf auf dem erotischen Heimatland zu kämpfen angefangen hatte, das von Feindeshand niedergehalten wurde. Ich sehe manchmal meine Generation von Männern als die erste Welle entschlossener D-Day-Invasoren, über deren wund und blutig getretene Gerippe später dann die Blumenkinder an Land schritten und triumphal auf das libidinöse Paris vorrückten, von dessen Eroberung wir nur träumten, als wir auf unseren Bäuchen landeinwärts robbten und ins Dunkle schossen. «Daddy», fragt die Jungmannschaft, «was hast du während dem Krieg getan?» Ergebenst rege ich an, sie könnten Dümmeres tun, als Portnoy's Complaint zu lesen, um das herauszufinden.»
People in Trouble
Seitdem ist einige Zeit ins große Land gegangen, und schon im Puppenspieler Mickey Sabbath (Sabbath's Theater; 1995, dt.derselbe Titel), einem zwischen den Beinen außerordentlich bestückten Picaro, der wahrhaft über allerhand Zivilisationsschranken hinweg die Bruchstücke seiner Existenz einsammelt, pflegte man keinen maskierten Roth mehr zu erblicken, der sich ganz seinen narzisstischen Obsessionen ergeben hätte. Ein Mann mit steifem Schwanz, so sagte de Sade, ist weit davon entfernt, anderen nützlich sein zu wollen. Weder brauchen wir das ganz zu vergessen, noch geht es dabei um Roth persönlich. Doch räumen wir für einmal nur die Möglichkeit ein, dass es Roth als dem «Professor der Begierde», wie es der Titel eines weiteren seiner unterleibszentrierten Romane sagt (The Professor of Desire; 1977), noch weniger um sich selber ging als dem mittlerweile seiner Prostata und Potenz verlustig gegangenen, inkontinenten Nathan Zuckerman der Amerikanischen Trilogie, dem es ab 1997 nun doch mit aller Entschiedenheit um seine Welt geht, nämlich eben die USA der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (wo doch auch die sexuelle Revolution offenkundig eine gewisse Rolle gespielt und Spuren hinterlassen hat, da ja, wie man in der Zeitung liest, über 90 Prozent der gegenwärtigen amerikanischen Videoproduktion durch die Pornografie okkupiert ist).
Noch und noch hat Roth schlicht und fasslich genug wiederholt, wovon sein Werk von Anfang an gehandelt hat und bis zum Ende handeln wird: nämlich von people in trouble, von Menschen in Schwierigkeiten. Politically correct ist er dabei niemals vorgegangen. Hat man ihm nicht vorgeworfen, in der Gestaltung eines Charakters wie der Lucy Nelson von When She Was Good (1966; Lucy Nelson oder Die Moral) trete seine ganze Feindseligkeit dem weiblichen Geschlecht gegenüber an den Tag? «Ich hasse es», erklärte er 1984 der Kritikerin Hermione Lee, «dass ich das selber sagen muss, aber ein solches Porträt ist nicht frei von Bitterkeit. Mit Bitterkeit meine ich nicht, was mitfühlende Buchrezensenten «Mitgefühl» nennen. Ich meine, es geht um das, was wirkliche Wut ist, nämlich Leiden.» Leiden entstellt bekanntlich Menschen. People in trouble: Dass er in mehreren Lebensabschnitten selber dazu gehörte, macht sein Werk gewiss nicht ärmer. Aber um Nabelschau handelt es sich nicht, wenn sein Erzähler Nathan Zuckerman in The Anatomy Lesson (1984; Die Anatomiestunde) über zweihundert Seiten den pharmazeutisch hervorgerufenen Fall einer neurologischen Totalhavarie ausbreitet, auf dem Rücken liegend, außer Gefecht und dies umfassend, obschon sich dieser verzweifelte Bericht aus der lebenslänglichen Erfahrung eines geschädigten Rückens speist und dem Leser eine Erfahrung weitergibt, mit der man weit besser nur aus zweiter Hand konfrontiert wird.
Um Nabelschau handelt es sich nämlich nicht einmal dann, wenn Zuckerman mit einem Kritiker wie Milton Appel seine Schlacht schlägt, in dem jedermann Irving Howe erkennt: «Milton Appel ist nicht in diesem Buch, weil Irving Howe mich einmal in einem Artikel demoliert hat», erklärte Roth 1985 dem Kritiker Ian Hamilton. «Milton Appel ist in diesem Buch, weil Schriftsteller zu sein zur Hälfte bedeutet, aufgebracht zu sein. Und recht zu haben. Wenn Sie bloß eine Ahnung davon hätten, wie recht wir haben. Zeigen Sie mir einen Schriftsteller, den nicht die Wut packt, wenn er falsch wiedergegeben, falsch gelesen oder nicht gelesen wird und der nicht sicher ist, dass er recht hat.» Literatur ist kein Hobbygärtnern, und in einem Romanwerk von zwei Dutzend Büchern ist also nicht einmal ein Kritiker durchweg tabu.
Die Gefühle kennt man schon mit zehn!
Seit über vierzig Jahren war er sich nie zu gut, um über sein Werk Rede und Antwort zu stehen. Die Interviews mit ihm füllen mittlerweile Bände, selbst von seinen fünf Jahren Psychoanalyse war oft genug die Rede, und man kann auch da nachlesen, statt ihm dieselben Fragen immer wieder aufs neue zu stellen. Tatsächlich spürt man, wie sich etwas spannt in ihm, wenn er selbst zum Thema wird, auch wenn es nur die Charaktere in seinen Büchern sind – und sein Verhältnis zu ihnen. «I am a captive audience», sagt er, in der Tat ein angeschnallter Zuhörer, als ich im Wagen, auf unserer Rückfahrt nach Manhattan, darauf zu sprechen komme, und ich denke an die äthiopischen Bettler, die sich in Addis Abeba immer beim Rotlicht ans Taxi heranmachen. Nein, emotional sei dieses Verhältnis nicht, sagt er mit großer Bestimmtheit. Tatsächlich nicht? Was hatte doch beim letzten Treffen noch sein enger Freund, Nachbar und Bordmechaniker Ross Miller gesagt, der Literaturprofessor, der seit zwanzig Jahren alle seine entstehenden Texte als erster liest (und der jetzt auf unserer Rückfahrt nach Manhattan den Wagen steuert)? Eine zuweilen bis ins Pathologische gehende Empathie für seine Charaktere sei es, so Miller, was den großen Romancier ausmacht. Wie sie, ja, da haben Sie recht, zum Beispiel bei Graham Greene zu beobachten sei, wogegen etwa bei V. S. Naipaul von Empathie so gut wie gar nichts auszumachen sei. Ob er denn nicht mit Mickey Sabbath für Drenka fühle, versuche ich es bei Roth noch einmal. «Ach, die Gefühle kennt man schon mit zehn!» sagt er, etwas ungeduldig.
Statt dessen habe er, sagt er, alle Hände voll mit allem möglichen anderen zu tun. Eine Stimme habe er ihnen allen zu geben, und das sei noch das wenigste (was man ihm nach allem glauben mag). «Meine einzige Autorität ist eine ästhetische», sagt er. Dabei tritt er im selben Roman als Strafverteidiger, Ankläger und Richter auf, und dies meist in einer ganzen Reihe von Fällen gleichzeitig. Rein – ja, «pure» – hat Roth sein Verhältnis zu seinen Charakteren eben genannt. «Pure? – Und das erlauben Sie sich?» Das ist in der Tat ein starkes Stück, ist es doch nichts anderes als diese Reinheit, eine Menschheitsgeißel von ungeahnter Hinterhältigkeit, die Roths gesamtes Werk zu einem eigentlichen Weltgericht geraten lässt. «Pure! –» verfolge ich ihn tags darauf schonungslos, obschon er bereits bachnass zum Porträtfototermin in seiner Agentur eingetroffen ist. Immerhin 22 Blocks, gegen zwei Kilometer, sind es von seinem Apartment an der 79th Street bis zur Agentur an der 57th Street; doch seinesgleichen und mit siebzig Jahren erst recht geht auch bei 38 Grad Celsius zu Fuß. «Objective», sagt er beschwichtigend und behauptet immer noch, er sei kein Philosoph. Ich bin nicht überzeugt und sage es ihm, doch es bleibt dabei: Seine einzige Autorität sei eine ästhetische.
Handwerk des Erzählers
So lässt er mich mit seinem Werk allein. Ich erinnere mich an einen Essay des jungen Borges, der auf deutsch Die abergläubische Ethik des Lesers heißt: «Menschen, die von diesem Aberglauben befallen sind, verstehen unter Stil nicht die Wirksamkeit oder Unwirksamkeit einer Seite, sondern die augenfälligen Fertigkeiten des Autors: seine Vergleiche, seine Akustik, die Beiläufigkeiten seiner Interpunktion und seiner Syntax.» Sie «nennen eine Seite schlecht geschrieben, wenn sie nicht mit Überraschungen hinsichtlich der Verbindung von Adjektiv und Substantiv aufwartet, auch wenn sie im großen und ganzen ihre Aufgabe erfüllt». Als Beispiel dieses Aberglaubens knöpft sich Borges seinen Landsmann Paul Groussac vor, und man verzeihe die ausführliche Wiedergabe, aber die Sache istelementar und den Missverständnissen kaum beizukommen. Das Lehrstück ist Don Quijote von Cervantes: «Wenn die Dinge so geschildert werden sollen, wie sie sind, müssen wir uns eingestehen», so Groussac, «dass gut die Hälfte des Werks auf die Form hin betrachtet klapperig und reizlos ist, weshalb die Rivalen von Cervantes mit ihrem Hinweis auf die «dürftige Sprache» in vollem Maße Recht behalten. Ich beziehe mich hier... auf die im großen und ganzenkraftlose Struktur dieser Nachttischprosa.» Borges dagegen: «Nachttischprosa, Konversations-, nicht Deklamationsprosa schreibt Cervantes, und eine andere hat er nicht nötig. Ich möchte meinen, dasselbe lasse sich von Dostojewski, Montaigne und Samuel Butler behaupten.» Etwas griffiger noch: «Es ist sträflich, auch nur eine der von Góngora fabrizierten Zeilen abzuändern (versichern die Herausgeber, die den Originaltext wiederherstellen); dagegen gewinnt der Don Quijote im Kampf mit seinen Übersetzern postume Schlachten und Überlebt jede verwahrloste Textausgabe.» Noch im «hindostanischen Geist des Quijote steckt mehr Leben als in den ängstlich beflissenen Wortklaubereien der Stilisten.»
Nur durch solche Überlegungen wird mir erklärlich, weshalb The Human Stain auch in französischer Sprache lesbar ist. Ein Buch, das außerdem den Prix Médicis für das beste Buch des Jahres 2002 erhalten hat. (Plötzlich erscheint der französische Antiamerikanismus nicht mehr ganz so unerweichlich, scheint wie andere kollektive Hirngeburten Schwachstellen aufzuweisen, obschon in Frankreich, um genau zu sein, der Prix Médicis nicht für das beste Buch, sondern für das beste ausländische Buch des Jahres vergeben wird. Beim Porträttermin in seiner Agentur wird er mir ein Exemplar geben, La tache ist der schlichte Titel, «Der Flecken», und unaufgefordert will er das Exemplar signieren, vergisst das aber mangels eines Kugelschreibers sogleich wieder, und schließlich fehlt darin auch die Widmung an r.m. – Ross Miller.)
So dürfte man sich eigentlich nicht zu sehr wundern, wenn Roth vom Stil ebenso abschätzig spräche wie Julien Green, der sagte, Stil sei etwas, was er hasse, ein Kunstgriff nämlich, dazu ersonnen, dem Ärmlichen, Banalen der Erfahrung und des Gedankens aufzuhelfen, und auch Roth traut man einen wahrhaft spartanischen Satz wie den Greens zu: «Was für Gedanken beschäftigen diese Frau?» Um als nächsten Satz anzuschließen: «Sie schien weder glücklich noch unglücklich zu sein.» Wie Charlie Parker, sagt der Bordmechaniker Ross Miller, beherrsche Roth mittlerweile jede Melodie, was immer er auch höre. Ja, gewiss, doch eben nicht an der Akustik seiner Sprache liegt das, sondern an dem, was er und seine Charaktere zu sagen haben. Das heißt nicht, dass man deshalb in die gängigen Klagen über Roths sprachliche Nachlässigkeiten einzustimmen noch gar ihnen großes Gewicht beizumessen hätte. «Keine Frau, keine Geliebte, kein Geld, keine Beschäftigung, kein Zuhause... und jetzt auch noch, zur Krönung des Ganzen, auf der Flucht.» Das ist, inklusive der drei Punkte in Roths Satz, kein Ausrutscher, sondern nur noch einmal ein Gruß an Dos Passos. Oder: «...wenn es alles das nicht gäbe: Krieg, Wahnsinn, Perversität, Krankheit, Idiotie, Selbstmord und Tod, dann wäre er jetzt wahrscheinlich sehr viel besser dran» – das ist auch nur, was Voltaire zufolge Pangloss, der Philosoph und Hauslehrer, hie und da zu Candide sagte.
Doch tatsächlich finden Roths Charaktere in der Hitze der Gefechte über weite Strecken nie die Muße, sich eine kohärente, sie als Charaktere prägende Sprache zurechtzulegen. Bei Roth kommt es vor, dass eine seiner Gestalten etwas sagt, der Erzähler anfügt, wie sie es sagt, und dann ausführlich erklärt, was sie damit genauer meint und meinen sollte. Der Leser hat nicht die Zeit und Luft, sich darüber aufzuhalten. Vor allem bei seinen Frauengestalten, bei Drenka oder Faunia, bei Mickey Sabbaths Ehefrau Roseanna sind kaum Ansätze einer ihnen eigenen Sprache zu entdecken, und die Sprache seiner männlichen Protagonisten – ein schönes Beispiel ist Coleman Silk in The Human Stain – gewinnt in manchem Fall an Wirkung, je mehr sie der des Erzählers gleicht, der allerdings (Charlie Parker) viele Tonlagen und Register beherrscht. In ihren inneren Monologen geben Roth die Charaktere, die er ausheckt, sich einbrockt und dann auszubaden hat, mehr als genug zu denken und bedenken, doch es bleibt unüberhörbar des Erzählers eigenes Gehirn, das all ihre Gedanken ausgestaltet und ordnet. Allemal ist der Leser auf Trab gehalten, und gewiss kann es nicht in erster Linie der Glanz des Ausdrucks sein, was dem Text den treibenden Rhythmus, den absorbierenden Fluss und die traumwandlerische Sicherheit gibt. Es ist der muskulöse Griff und die Agilität des Gedankens – nein, nicht des geistreichen, sondern des geistesgegenwärtigen. Immer war der große Romancier ein Meisterpsychologe, und wenn Roth sagt, er habe die Gefühle schon mit zehn gekannt, dann ist auch das kein Indiz dagegen. Seinem Werk aber gebührt jenes hohe Kompliment, das Evelyn Waugh einmal Graham Greene zugedacht hat: Einen Roman von Greene könnte man gelesen und darin alles aufs deutlichste im Gedächtnis behalten haben, jedoch ohne noch zu wissen, in welcher Sprache man ihn gelesen hat.
Zur Architektur von Roths Romanen ist vollständigkeitshalber nur zu erwähnen, dass sie – der beste Beweis ist I Married a Communist – eine solche nicht nötig haben. Die Geschichte von Iron Rinn alias Ira Ringold, kommunistischer Rundfunkstar, gestürzt durch die McCarthy-Inquisition und moralisch vernichtet von seiner Ehefrau, einer Celebrity vom Broadway, erzählt Nathan Zuckerman einfach so, wie er sie zu hören kriegt: auf seiner Terrasse an sechs Abenden, von Iron Rins Bruder und seinem, Zuckermans, ehemaligem Lehrer Murray Ringold, mittlerweile neunzigjährig und seinerseits ein Erzählvirtuose beinahe vom Format der Scheherezade in den tausendundein Nächten. The Human Stain bringt die Hauptfigur Coleman Silk wenigstens in der ersten Hälfte nicht nur als erinnerte Gestalt, sondern, wenn auch als Zweiundsiebzigjährigen, in Fleisch und Blut vor Augen, doch wiederum nur um uns in der Folge den Toten näher als zuvor den Lebendigen zu bringen; und die Erzählung folgt sicher nicht den Windungen des Plots, dessen Tragik die Grundstimmung abgibt.
Ein Archäologe
Worauf Ross Miller immer wieder seinen Finger hält, ist die entscheidende Bedeutung der Orte, an denen sich eine Geschichte sedimentiert hat und ausgraben lässt. Roths Romane sind Recherchen, und vielleicht hätte er nichts dagegen einzuwenden, wenn man seine Arbeit mit der des Archäologen vergliche, für den die historische Wissenschaft stets mit der Geografie zu beginnen hat?
Romanarchitektur oben oder unten, Roth ist ein begnadeter Organisator, dem keine Lage anspruchsvoll genug sein kann, ein Bauleiter, wenn man will, oder Generalunternehmer, man spürt es, wenn man mit ihm in Newarks Straßen unterwegs ist, vielleicht auch, wenn es denn gar nicht anders ginge, geradezu ein Opernhausdirektor, und hat er sich nicht als Ehemann Claire Blooms jahrzehntelang intensiv in Inszenierungs- und andere Broadway-Fragen vertieft? Organisator – ist nicht das der wahre Job des Romanciers? Dieses einzig wahren Betriebspsychologen... Wen denn auf der Welt, außer einem Romancier, könnte seine Funktion tatsächlich zu dieser größten aller bekannten Berufsleistungen verpflichten: aus seinem Personal wenn nicht das Beste, so immerhin das Maximum zu machen? Außer in längst vergangenen Schlachten, wo noch alle Mann zu Fuß unterwegs war, kommt dergleichen nur im Sport noch vor.
Ebensowenig jedenfalls wie ein Philosoph, der seine Gestalten existentiellen Lehrgängen unterzieht und sie damit volltrichtert, mag Roth ein Theologe sein, auch wenn er und der Puppenspieler Mickey Sabbath es nicht lassen können, «aber doch in einer mehr spielerischen Weise, nicht wahr», setzt sich Roth zur Wehr, Gott persönlich mit dem einen oder anderen Farbtupfer auszuschmücken. In den USA ist Gott gegenwärtig, und geben sich die letzten Dinge nicht immer wieder von einer höchlich wundersamen Seite? Und, da ja oben von Don Quijote die Rede war: Gibt es in den USA nicht am Ende gar noch Ritter, und war nicht auch der Hidalgo dem Philosophieren ebensowenig abhold wie der Theologie? Ganz ähnlich wie der hart und erbarmungslos bestückte Mickey Sabbath und ohne dass Cervantes' Werk dadurch abstrakter oder auf irgendeine andere Weise anämischer wurde. Aber handeln Theologen nicht vor allen anderen Dingen von Menschlichem: nämlich von Moral? Und handelt nicht Roths ganzes Werk durchweg von einem: nämlich von Schuld? Fast denkt man zuweilen, bei Roth fände sich nur noch ein zweites großes Thema: nämlich die Unschuld – und der ihr eigene Wahnsinn und die Bomben, die sie baut.
Warum nur sind wir so verrückt?
Sie führen ins Zentrum seiner Welt: «In Amerika war es der Sommer, in dem der Brechreiz zurückkehrte, in dem das Witzemachen, die trüben Mutmaßungen, die Theorien, die sich überbietenden Weisheiten des Volksmunds kein Ende nahmen, in dem man die moralische Verpflichtung, seine Kinder über die Tatsachen des Erwachsenenlebens aufzuklären, zugunsten des Wunsches aufgab, ihnen alle Illusionen zu lassen, es war der Sommer, in dem der Kleinmut der Leute schlichtweg erdrückend wurde, in dem eine Art von Dämon auf die Nation losgelassen wurde und die Leute sich in beiden Lagern fragten: «Warum nur sind wir so verrückt?» ... Es war der Sommer, in dem sich das Chaos, die Verwirrung, die Sauerei zum millionsten Mal als soviel raffinierter erwies als diese Ideologie oder jene Moral.»
In ebendiesem Sommer erhält Zuckerman Besuch von seinem Nachbarn Coleman Silk, aller Welt bekannt als der jüdische Gräzist, der es als Dekan am neuenglischen College von Athena zu hohem Ansehen gebracht hatte und schon entsprechenden Ehrungen entgegensehen konnte, ehe ihn vor einigen Jahren eine angebliche Anspielung auf die ihm unbekannte Hautfarbe zweier in seinem Seminar zwar eingeschriebener, aber dort nie erschienener Studenten schließlich alle seine Ämter kostete. Ob es sich bei den beiden um spooks handelt, hatte er sich erkundigt, was mit einer laut Wörterbuch veralteten Nebenbedeutung auch Schwarze meinen konnte, und die beiden waren schwarz und klagten gegen den Professor. Den Romancier Zuckerman will nun Silk dafür gewinnen, die Geschichte zu schreiben, wie dieser Skandal in seinen Nachwirkungen seine Ehefrau unter die Erde gebracht haben soll.
Das mustergültige Leben...
Die Geschichte stellt sich allerdings als eine ganz andere heraus, wie nämlich der «lilienweiße» Silk einst als Zwanzigjähriger, beim Eintritt in die US Navy, mit seiner Familie und Herkunftswelt in East Orange bei Newark gebrochen hatte, um mit seinen außerordentlichen Talenten in der Folge dem von der amerikanischen Gesellschaft als ihre demokratische Erfindung verordneten pursuit of happiness nachzuleben – dies als selbst von seiner eigenen Ehefrau und Familie unerkannter Afroamerikaner und mit allem beruflichen und persönlichen Erfolg, von dem ihm seine Laufbahn zu träumen erlaubte. Und zu Fall gebracht hat ihn nicht etwa die paranoide political correctness ebendieser Gesellschaft; im Gegenteil ist es deren selbstgerechte Arg- und Ahnungslosigkeit, die ihm keinen Ausweg ließ und die ihn, nachdem er schließlich einem Mord zum Opfer gefallen ist, postum noch einmal moralisch erledigt – unwissend nach wie vor. Weil er, ohne einen weiteren Gedanken daran zu verlieren, spooks gesagt hat... Und weil er später, nach seinem erzwungenen Abgang und dem Tod seiner Frau, eine Affäre mit einer ungebildeten Frau von der Hälfte seines Alters eingegangen ist. Er, der einst seine Mutter verleugnet hat, die sich davon nicht mehr erholte und deren früher Tod für den Rest des Lebens auf ihm lastete. Spooks – welch monströse Banalität in diesem Schlussakt des einsamsten aller existenziellen Meisterstücke.
Seine schaurige Lehre macht auch Seymour Irving Levov, der «Schwede» in American Pastoral. «Er hatte gedacht, Ordnung sei der vorherrschende Zustand und Unordnung gebe es nur am Rande. Er hatte es falsch herum verstanden.» Und für sein amerikanisch mustergültiges Leben erntet er kaum einen besseren Lohn als Coleman Silk, obschon er zwar nicht selber ermordet wird, dafür aber mit aller einem einzelnen Menschen möglichen Liebe, Pflege und Vorbildlichkeit – und nicht mit Eitelkeit – das Monster einer mordenden Tochter großgezogen hat, die zwar nicht wie Ira Ringolds Alptraum einer Stieftochter öffentlich Harfe spielt, in ihrer Geistesverfassung jedoch nur mit Theodore Kaczynski, dem Unabomber, und Timothy McVeigh, dem Attentäter von Oklahoma City, zu vergleichen ist. Außer Seymour Levovs Bruder Jerry weiß es keiner in seiner Familie; ebensowenig in der Abendgesellschaft in seinem alten englischen Landhaus, wo der moralische Ruin – in dieser amerikanischen Mittelstandsgesellschaft allgegenwärtig – einen seiner trivialen Alltagserfolge feiert. Wie wäre die ästhetische Autorität die letzte Instanz in einer solchen Art von Konfrontation? Oder angesichts der Niedertracht und des mörderischen Ehrgeizes einer akademischen Kollegin wie Delphine Roux, deren (beinahe unschuldiges) Komplott in The Human Stain sich nicht gegen das Individuum Coleman Silk richtet, sondern gegen das, was einmal für die kulturelle und moralische Substanz einer höchstangesehenen Gesellschaftselite gehalten wurde.
...und die skrupellose Tugend
Die Ambivalenz einer Tugend, die frei von Skrupeln groß geworden ist und die wir exemplarisch von Graham Greene – man denke an den The Quiet American (Der stille Amerikaner) – kennen, hat früh als ein zentrales Motiv in Roths Werk Eingang gefunden: schon in When She Was Good, 1966, mit Lucy Nelson – wahrhaft, wie man so sagt, «ein armes, unschuldiges junges...» Der Seufzer Querrys, des Protagonisten in Greenes A Burnt-out Case (Ein ausgebrannter Fall), könnte von Roth (oder wenigstens Zuckerman) sein: «Oh, unschuldig... Da haben Sie wohl recht. Gott schütze uns vor aller Unschuld. Die Schuldigen wissen wenigstens, was sie tun.» Doch nicht erst die Blindheit, mit der die kompromisslose Tugend ihre Vollstrecker schlägt, richtet das Unheil an, wie Coleman Silk erfahren muss, der an dieser Schwäche gewiss nicht krankt. Schon die Rezepte ihrer moralischen Vortrefflichkeit selber führen eine Gesellschaft ins Desaster, die der eigenen Unvollkommenheit nicht innewerden mag. «Das ist der menschliche Makel», sagt in The Human Stain Coleman Silks Geliebte Faunia, und sie sagt es «weder angewidert, noch verächtlich, noch verurteilend. So ist es eben – das ist es, was Faunia auf ihre eigentümliche lakonische Weise sagen wollte.» Und deshalb findet Faunias geliebter Vogel, die Krähe Prince, aus der Voliere des Vogelschutzbundes nicht mehr unter ihre freilebenden Artgenossen in den Berkshires hinaus. «Die Berührung durch uns Menschen hinterlässt einen Makel», der «mit dem Dasein untrennbar verbunden» bleibt, erklärt der Erzähler Zuckerman, und ist hier seine Autorität einzig die ästhetische von Roth? Der so viele Geschichtsbücher liest...
Wie dem auch sei: Der Makel «hat nichts mit Ungehorsam zu tun. Er hat nichts mit Gnade oder Rettung oder Erlösung zu tun. Er ist in jedem. Eingeboren. Innewohnend. Prägend. Der Makel, der schon da ist, bevor irgendeine Spur davon zu erkennen ist. Der Makel, der so wesenseigen ist, dass er kein Zeichen braucht. Der Makel, der dem Ungehorsam vorausgeht, der den Ungehorsam schon in sich trägt und jedes Erklären und Begreifen übersteigt. Darum sind alle diese Reinwaschungen ein Witz. Ein barbarischer Witz noch dazu. Die Fantasie von Reinheit ist ekelhaft. Sie ist Wahnsinn. Was ist das Streben nach Reinheit anderes als noch mehr Unreinheit? Alles, was sie über den Makel sagte, war nur, dass er unvermeidlich sei. Genau das natürlich war Faunias Lehre aus dem Ganzen: aus den unvermeidlich vom Makel behafteten Geschöpfen, die wir sind.» (Mit Professor Silk will der Erzähler es dem Leser erklärt haben, diese griechisch-tragische Unentrinnbarkeit, und schreitet unverzüglich zum olympischen Götterhimmel fort; und man kommt nicht umhin sich zu erinnern: Auch Roth gab Kurse an Universitäten, bis er sechzig war. «Wo kann man besser über Bücher diskutieren?» sagt er, und es klingt nicht einmal entschuldigend.)
Wir brauchen nicht nur seine ästhetische Autorität
Philosoph, Theologe, Psychologe, Archäologe – Welt, Gott, Seele und unsere Behausungen und Werkstätten: Jenes große, historische Experiment USA, wo das Leben und der berühmte Traum noch immer neu erfunden werden, ist mit ganzer Kraft und erbarmungslos im Gang. Daraus bezieht Roth, der Romancier, seinen unerschöpflichen Stoff. Kritiker streiten sich darüber, ob er nun zu den größten Sprachartisten zu zählen sei: sicher hat er weit mehr und anderes zu tun, er sagte es selber, denn in seiner Gesellschaft herrscht Mangel weder an Vielfalt der Teilhaber noch an unvorhergesehenen Wendungen in ihrem Schicksal. Plot und Handlung seien die Baumaterialien, liest man irgendwo bei Graham Greene; während das Werk – die literarische Konstruktion – die Charaktere seien. Diese aber seien nichts Geringeres als Gestalten, die verdammt und erlöst werden könnten. Sehen wir Greene doch das Katholische in seinen Werken nach, da es auch ihm um Seelen und nicht um gotische Fensterbogen geht; und bei Roth lernt man an einem Beispiel wie The Human Stain, dass das große Werk die Geschichte ist, in der die Menschen sich mit vereinter Anstrengung fortbewegen und die sie ohne zu viel Gotteshilfe machen, die vergänglicheren Gärten und endgültigeren Höllen, die sie sich eigenhändig ausstaffieren. Jüngstes Gericht ist immer und überall auf Erden und im Leben, das eines in Gesellschaft ist. Amerika ist vieles, aber immer das moralland – anytime and all the time, wie die atemlose Animation von CNN uns einbläut –, und nicht weniger ist Roths Autorität – zu jeder Zeit und die ganze Zeit – eine durch und durch moralische, wir brauchen nämlich nicht nur seine ästhetische. Was täten wir ohne die Siebzigjährigen und Älteren, ohne den neunzigjährigen Murray Ringold. «Irgendwann treten alle Irrtümer einmal zutage», sagt er, «nicht wahr?»