Almodóvar. Und Spaniens Ankunft in Europa
Editorial zum Heft über Pedro Almodóvar.
Wäre der Raum, worin das All sich aufhält, völlig leer, dann wäre da Musik. Unberührt von allem, vom einen bis zum anderen Ende. So sagen einige. Aber nicht in Spanien. In Spanien wäre da statt dessen ein Gehämmer, und zwar ein Gehämmer, wie mit seiner bezwungenen und zermalmten Wut und Pressluft kein Hidalgo anders hämmern könnte, nämlich funkenstiebend, doch frenetisch und dazu mit einem Drehmoment, wie im ganzen Erdenrund, so muss man glauben, nur ein einziges Weibsbild und dann höchstens eine Spanierin die High Heels in den beinharten, sonoren Urgrund bohren kann. Welch fulminante Erbitterung und Weißglut der gestauten Tränen, die aus der Enttäuschung dieses Rückgrat so rigide in die Höhe spannt! Spanien ist ein Land der Ewigkeiten und dabei an sich «ruhig, solange die Bombe nicht in die brisante Seele schlägt», wie Wolfgang Koeppen schrieb. «Eine andere Sonne scheint jenseits des Tunnels. Ein anderes Licht dringt durch die Fenster. Wir sind in Port Bou. Wir sind in Spanien. Die Luft ist scharf und rauchig. (...) Da Spanien ein frommes Land ist, fragt man sich, ob der Teufel um seine Grenzen streicht. Genau genommen ist man am Ende seiner Reise. Hier wollte man hin. Hier ist man nun. Es stimmt wie alles Erreichte etwas melancholisch. Der Zug, der einen herbrachte, fährt nicht weiter. Kein Zug aus Europa fährt weiter.» Und hätte sich da nicht dieser Graben Spanien in ganzer Breite, zu schweigen von der Tiefe, dazwischengeschoben – ja, dann wäre selbst Portugal fraglos, lange vor dem EU-Beitritt, ein Land in Europa gewesen.
Spanien hat wohl immer diesseits des Mittelmeers und diesseits des Atlantiks gelegen, an jenem Ende unseres Kontinents, wo die Sonne der Alten Welt im Meer der Finsternis – so der arabische Name – unterging. Doch die Stammhalter Iberiens waren während fast zwölfhundert Jahren nicht bei sich, sondern in der Fremde zu Hause. Dreiviertel Jahrtausend hatte es sie gekostet, aus dem eigenen Land die Herrschaft des Orients zu vertreiben, und anschließend, für weitere gut vierhundert Jahre, waren die energischsten Kräfte im Kielwasser des Genuesen Kolumbus im Einsatz, in der Neuen Welt. Was mit dem Genozid an zwanzig Millionen Eingeborenen angefangen hatte, blieb ein kostspieliges, zeitraubendes und gefährliches Unterfangen, das Beschränkung und äußerste Konzentration auf die Ausbeutung der wertvollsten Ressourcen gebot: im Bergbau das Gold, in der Karibik die Perlenfischerei, auf den Plantagen der Zucker. Nicht nur in den überseeischen Besitzungen hatte der Goldrausch des 16. und 17. Jahrhunderts jeden Gedanken an eine Zukunft endgültig ausgemerzt. Den Preis dafür bezahlte das Mutterland, wo die transatlantische Ambition nachhaltig die autochthone Wirtschaftsbasis aushöhlte und eine bleierne Stagnation zurückließ, aus der sich für mindestens weitere zwei Jahrhunderte kein Ausweg mehr abzeichnen sollte. 1898 schließlich, zu einer Zeit, als die Rivalenmächte alle noch neue Kolonien erwarben, gingen im spanisch-amerikanischen Krieg – man nennt ihn bündig el desastre – die Philippinen und die letzten westindischen Besitzungen verloren.
Übrig blieb, nach dem berühmten Diktum von Ortega y Gasset, dieses Problem namens Spanien, dessen Lösung fortan Europa heißen sollte. Falls denn Europa je etwas von einer Lösung hatte, für sich selbst oder gar für andere – das Rezept fügt sich ein in die weit zurückreichende Tradition der vornehmsten spanischen Obliegenheit. Während 770 Jahren Reconquista, von der Schlacht von Covadonga im Jahr 722 bis zum Fall Granadas 1492, verlief die Front im weltgeschichtlichen Kampf des christlichen Abendlandes gegen die afrikanisch-orientalisch-islamische «Berberei» quer durch die Iberische Halbinsel.
Der Triumph über das Kalifat hatte seine Ambivalenzen. Kastilien hatte Toledo und Córdoba gerettet wie einst vielleicht die Goten Rom oder die Normannen Sizilien. Immerhin war das Land – im übrigen bald auch judenfrei – nunmehr integral katholisch: Im Sinne des Papsttums und genauso des Großinquisitors Torquemada hieß das allumfassend, universal, und dieses Universum – und damit Europa – verteidigte noch der Galicier Franco mit seiner marokkanischen Legion gegen die Republik oder den Anarchismus und den Bolschewismus. In diesem Land, wo die Ruinen des voraufgeklärten Feudalismus noch dem 20. Jahrhundert trotzten und die große bürgerliche Revolution nicht ankommen wollte, war jeder Mann mit Schulbildung zweifellos ein Revolutionär, doch ebenso sehr ein Aristokrat, um nichts weniger tief verwurzelt in seiner religiösen und nationalistischen Tradition, und bis heute so weit ein Torero, dass er einen guten paso von einem schlechten zu unterscheiden versteht.
Der Grad der Europabegeisterung bemisst sich an der zurückgelegten Wartezeit und der verbleibenden Distanz zum Ziel. Noch in den siebziger Jahren war von Europas modernen Errungenschaften südlich der Pyrenäen nicht allzuviel aufzuspüren, und bevor Hollywood in diesem – doch, Spanien hat etwas davon – Ostcalifornia eintraf, war die «westliche Welt» präsent in Form von Luftbasen und Flottenstützpunkten der USA, die eine Generation zuvor das Erbe der europäischen Welteroberungsträume angetreten hatten. Gerade zwanzig Jahre sind es her, seit in Gestalt des Felipismo doch der aufgeklärte Absolutismus in Spanien Einzug hielt. Von einem Tag auf den anderen, schon ein paar Jahre lag das jetzt zurück, war an jedem gewöhnlichen Zeitungsstand das für jedermann erschwingliche Pornomagazin zu haben, und 1986 war es soweit. Ganz Spanien hatte ein zusätzliches Verkehrsschild. Im blauen Rechteck der Kranz der goldenen Sterne, nicht nur über dem Ortsschild jederGemeinde auf dem europäischen Boden der Halbinsel, sondern ebenso auf afrikanischem Grund, am Eingang nach Ceuta und Melilla, mit dem Schriftzug der Erlösung: Municipio de Europa.
Die Vergangenheit war damit zu Ende, und nun kam die Zeit der Gegenwartsbewältigung. Mit Pedro Almodóvar, einem Mohren offenbar, wie es der arabische Name sagt, und mit Homer, mit Sophokles, mit Dante, Cervantes und Calderón. Movida hieß die Aufbruchsbewegung im Madrid der achtziger Jahre: «Ich lebe heute», sagt Almodóvar, «und was heute geschieht, ist zwangsläufig etwas Neues.» Kann sein, man hat kein Recht, das kategorisch auszuschließen, nicht wahr, Originalität muss nicht von der Stange sein. Wie aber sollte Spanien, das Land der Ewigkeiten, in seiner Jetztzeit unterzubringen sein? Almodóvars Kino ist jedenfalls nicht auf den letzten Stand gebrachter Bilderrealismus, alles andere. Es ist in Szene gesetzte Mythologie, zuweilen Mysterienspiel, Passion geradezu, in seinem spanisch unverwechselbaren Aufzug oft sehr bühnennah, und gehorcht jener Poetik der Imagination, die Giambattista Vico für die Moderne wieder geltend machte, indem er daran erinnerte, dass jede Wahrheit, falls es soweit kommt, den Verstand durch die Organe der Sinne erreicht. «Die Wahrheit wird meistens gesehen», hatte schon 1647 der spanische Jesuit Baltasar Gracián geschrieben, «nur ausnahmsweise gehört.» Worum es geht im Leben, Krieg und Frieden: Die Tugenden und ihr Gegenteil, Menschenmaß und Menschenunmaß, sind seit Plato und Aristoteles dieselben. Der Dichter setzt sie ins Handgreifliche um, verkörpert und kombiniert sie in den Protagonisten, seinen Helden, Unhelden und Antihelden, und in der Konstellation sind sie zu prüfen und erfahren, überlebensgroß und unauslöschlich. (Oder mit dem liebsten Wort unserer zeitgemäßen Medien-Kanaille, die Almodóvar so unerschrocken und fast schon wieder heilsam auf den Punkt bringt: «zugespitzt!»)
Es ist dieselbe archetypische Anthropologie der Dichtung, die Odysseus, Polyphem, Circe und die Sirenen schuf, Ödipus, Antigone und Elektra, die Hölleninsassen Dantes, den Orlando furioso des Ariost oder eben – spanisch darf es auch sein – Don Quijote aus der Mancha und Sancho Pansa. Nicht zu vergessen Il buono, il brutto e il cattivo, nicht zu vergessen Harmonica, Django und Silenzio, Leones und Corbuccis großer Italowestern, der die Ilias und die Äneis auf den bisher letzten Stand gebracht hat, bis wiederum ein Spanier aus der Mancha kam und mit der Torera Lydia, mit Kika, mit seiner Mutter und seinem speziellen Gespür für metropolitanes Gegenwartsleben in die Arena stieg.
Großstadt ist ein Element der Epen, beinahe wie die Wüste, und oft dem Melodramatischen zugeneigt. Die Gewalt, die in ihr stets einen leichten Schlaf hat, ist in Almodóvars Filmen die der Rührung, der so überaus zuverlässigen, weniger die von Kick und Thrill, und so begegnen wir im Land der Ewigkeiten zwar noch immer gern und häufig Pistoleras, aber endlich doch des anderen Geschlechts, Frauen endlich! Sie sind es, die Almodóvar zuvorderst treiben. Um so eiserner, versteht sich, diese Unentrinnbarkeit! Diese recht eigentlich überbordende Fatalität, eine Tragik so antikisch abgrundtief wie der blaue Himmel nur an einer einzigen Stelle hoch – und nirgends kann das sein als über Madrid. Und am Boden eine durchgreifende Abrechnung mit den Klischees und Exzessen unserer visuellen Trash-Kultur.
«du» ist eine Zeitschrift und alles in ihr Gedruckte stillgestellt. Vor dem Bildertanz der Leinwand waren wir durch frühere Versuche wiederholt gewarnt. Aber in diesem Falle gab es keine Wahl. Nach sechs Jahren geflissentlicher Abstinenz haben wir uns wieder ins Kino gewagt, tollkühn, unbelehrbar und hingerissen. Nur zu, die beiden jüngsten Kolleginnen der Redaktion haben in Almodóvars spanischem Frauenfieber ein Bad genommen, und ihnen gehört der Dank für dieses Dossier: Annette Scharnberg, unserer liebsten Krawallschachtel aus dem kühlen Hamburg, und Fanni Fetzer, auch sie, wer wollte daran zweifeln, mit dem Zeug zu einer kommenden Almodóvar-Frau. Jedenfalls erscheinen beide seitdem unverwundbar wie beinahe Siegfried in den Nibelungen. Caramba!