«Realismus» und George W. Bushs Postrealisten
Für bestimmte Außenpolitiker besteht die Welt aus Staaten, deren Regierungen sie scheinbar alle unter Kontrolle halten, mit gleichermaßen unumschränkter Macht, als wäre l'État überall Louis. Was ihnen zufolge die Interessen von Staaten definiert, sind an erster Stelle die Bedrohungen, die von anderen Staaten ausgehen – und zwar nicht allein in Gegenwart und Zukunft (der vorzubeugen ist), sondern auch nur «potenzielle», sozusagen Eventualbedrohungen (die naturgemäß von Fremdem ausgehen und nirgends auszuschließen sind). Besagte Politiker hießen etwa Henry Kissinger und hatten über Bismarck dissertiert, die Denkschule dieser sogenannten «Realisten» ist alt, geht über Hobbes zurück bis auf Thukydides. Auch sie sind politischen (oder militärischen) Bündnissen nicht gänzlich abhold; doch Verlass ist darauf nur, soweit sie auf nackte Zwänge – des Überlebens nämlich – gebaut sind. Aufgepasst, fügen sie an, und ihr stärkstes Argument klingt unwiderlegbar: Auch die zweifelsfreie Diagnose ihrer Paranoia wäre allein noch kein Beweis, dass wir in Wirklichkeit keine Feinde haben.
Dennoch handelt es sich nicht nur um eine allzu pessimistische, sondern – schlimmer! – seit einiger Zeit zugleich um eine blauäugige Sichtweise (was nicht erst al-Qaida bewiesen hat). Allzu pessimistisch: Entgegen den Prämissen der «Realisten» ist die Staatenwelt der Gegenwart kein Naturzustand, wo alle nur der Gelegenheit zur gegenseitigen Auslöschung harren würden. Viele Staaten kooperieren in gemeinsamem Interesse, das nicht durch Bedrohung inspiriert ist. Zudem gibt es heute internationale Institutionen, die besser als ihr Name und bei allen Mängeln fraglos ihrer Inexistenz vorzuziehen sind. Eine zu arglose Sichtweise zugleich: Nur im seltenen Fall entzündet Gewalt sich heute zwischen Staaten, wo Friede, nicht Krieg der Normalzustand ist. Weit weniger im Inneren einer wachsenden Zahl von Ländern, die der Kontrolle ihres Staates zu entgleiten drohen. Eben davon – von der Ohnmacht, nicht der Macht von Staaten – gehen zunehmend auch internationale Bedrohungen aus. Verstärkt durch irregeleitete Interventionen.
Kissinger rief eben noch Bismarcks Regel in Erinnerung, wonach Unilateralismus nie gleich alle übrigen beteiligten Mächte gegen sich aufbringen dürfe. Doch schon als Gerald Fords Verteidigungsminister blockierte Donald Rumsfeld Kissingers Bemühungen um die strategische Rüstungsbeschränkung (SALT II). Als Reagans Sonderabgesandter knapp zehn Jahre später war Rumsfeld Ansprechpartner Saddams, der mit seinen westlichen Verbündeten seinen Angriffskrieg gegen Khomeinis Iran führte. Nachdem Freund Saddam sich 1990 als Feind geoutet hatte (wie später die Taliban), blieb als arabischer Alliierter östlich von Suez nur Iraks vormaliger Geldgeber Saudi-Arabien, aus dessen islamistischem Untergrund letztes Jahr die Angriffe gegen die Twin Towers und das Pentagon geflogen wurden.
Unter Bush senior noch eine Minderheit, beherrscht heute eine neue, keineswegs mehr «realistische» Generation das Pentagon und hat im Weißen Haus die Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice (die Bush junior erklärt, wo Kosovo liegt). Im Nahen Osten bleibt ihnen als Freund Ariel Sharon. Richard Perle und Douglas Feith, derzeit enge Mitarbeiter Rumsfelds, empfahlen schon 1996 Premier Netanyahu, den Oslo-Friedensprozess aufzukündigen und Israels Anspruch auf die Westbank zu bekräftigen. Was den künftigen Irak angeht, mag Tony Blair dafür sorgen, dass er nicht zu sehr dem Partner gleichen wird, den man unter Freund Saddam schon einmal hatte – dereinst vielleicht mit einem islamistisch-revolutionären Nachbarn Saudi-Arabien.