Deutsches Wissen und kein Nichtwissen
Was kann ich wissen? fragte ihr großer Philosoph Immanuel Kant. Na! Was denn nicht? Weitaus das meiste jedenfalls; und die deutsche Intelligenz kann nicht nur, sie weiß schon, nicht erst seit gestern, schließlich ist die kritische Frage dieses redlichsten aller Köpfe über zweihundert Jahre alt. Doch ist da nicht trotz allem unverkennbar diese Spur von Minderwertigkeitsgefühlen? Anders als bei den Italienern etwa, dieser Avantgarde des Schlimmsten, handelt es sich um einen eingestandenen Komplex: Man traut sich selber einfach nicht ganz, und man spricht das aus. Nicht nur, dass Deutsche niemals wieder Krieg führen dürften. Auch wo es um Stammzellen und therapeutisches Klonen geht: Anders als bei Nachbarnationen, wie zum Beispiel jener auf den britischen Inseln, sehen Deutsche im eigenen Land allenthalben «Dammbrüche» voraus, und davor – ja, recht eigentlich vor sich selber – müssen sie sich schützen, hat bei ihnen doch die Euthanasie schon einmal Karriere gemacht. Sogar für sie selber, paradoxerweise, liegt noch immer etwas Beruhigendes darin, wenn die Deutschen sich selber ein wenig ungeheuer sind.
Was soll ich tun? So nach der theoretischen bei Kant die praktische Frage. Auch hierauf wird man in Deutsch- land sicher viele Antworten wissen, denkt man an den berüchtigten, den übergroßen Reformbedarf. Doch die Frage bleibt vorderhand zurückgestellt zu Gunsten einer anderen, scheinbar entfernt mit ihr verwandten, in deren Beantwortung die Deutschen offenbar bei weitem noch nicht ausgeredet haben: Was sollen oder sollten wenigstens, nein, nicht wir, sondern zunächst die anderen alles nicht tun? Was überall falsch gemacht wird und unbedingt zu unterbleiben hätte, hierüber gibt ganz Deutschland massenhaft höchst nuancierte Auskunft, und jene, die sich ohnehin am liebsten stets im grundsätzlichen Widerspruch zum Bestehenden aufhalten, finden hier ein komfortables Übungsfeld. Zudem eine Arznei gegen den besagten Inferioritätswahn. Die Rede ist von den Deutschen, nicht von den Amerikanern, aber der deutsche Blick auf die Amerikaner hat wahrhaftig einiges zu leisten. Nicht wahr, dieses totale amerikanische Unverständnis der gesamten Welt, Amerika selbst mit eingeschlossen! In Deutschland kennt man nur das Gegenteil davon, eine unumschränkte Kenntnis derselben Welt. In Amerika übrigens ist das ganze Volk mit der Regierung eins. Nicht so in Deutschland; die offizielle transatlantische Bündnistreue flankiert dort eine kritisch deutsche, das heißt unfehlbare Gewissheit, wonach amerikanische Politik – ganz egal, was sie seit der Befreiung Deutschlands tut oder lässt – in jedem Fall nur die schlimmstdenkbare sein kann.
Es ist, als wollte man es nicht anders haben, und die Schadenfreude, die untrügliche, übertönt das Mitleid für die Opfer der meist unbefriedigenden amerikanischen Weltpolizeieinsätze. Misserfolgsprognosen sind billiger, und Hauptsache, man hat recht behalten. So sehr den USA beides nur von Nutzen wäre: Nein, falls sich Kritik mit Freundschaft verträgt, dann nicht in Deutschland. Wenn den Amerikanern ausnahmsweise – siehe Kosovo, siehe Afghanistan – etwas nicht exakt wie vorhergesagt missrät, dann setzt die Irritation darüber auf der Stelle das Gedächtnis außer Kraft. Was indessen – davon einmal abgesehen, was er in Deutschland alles hätte nicht tun sollen – sollte George W. Bush seit dem 11. September 2001 tun? Nicht dass er es wusste, aber wer denn? Und in der Tat: Was soll ich, was sollen wir tun? Sokratisch ist die deutsche Haltung in der Frage nicht zu nennen. Oder weiß in Deutschland jemand, dass er nämlich nichts weiß?