Wer der Mensch in Wahrheit war...

Von Georg Brunold, du NO NEWS, 01.12.2001

Nicht mit allem, was die Menschheit erfunden hatte, verstand sie umzugehen. Die Wahrheit mit ihrem Mundgeruch und ihren zerrissenen Kleidern war nur eines unter anderen Beispielen. Hatten wir nicht, wie jener deutsche Philosoph uns trösten wollte, die Kunst oder wenigstens, wie Ernst O. es sah, das Saxofon, damit wir an der Wahrheit nicht zugrunde gingen? Aber nein. Wer waren sie? fragten die Menschen. Etwas an der Frage zog sie an, obschon sie nur Schrecken verheißen konnte, was, schien es jedenfalls Ernst O., leicht einzusehen war.

Dennoch war sie die letzte, höchste Frage noch für einen so geraden Mann wie Immanuel Kant – die Frage, um derentwillen das ganze Ringen um die Wahrheit stattfand. Kants Antwort jedoch, wenn Ernst O. recht verstanden hatte, richtete sich nicht danach, was der Mensch wirklich war, sondern ganz danach, was er sein sollte. Daran gemessen war er leider nichts als nur ein einziger horrender Mangel an gutem Willen oder, wie Merleau-Ponty sagte, juste un peu d'ombre, qui n'est que par la lumière. Die altbekannten Schatten aus Platons Höhle...

Wer aber waren sie in Wirklichkeit, die Menschen? Ob sie es nun wussten oder nicht, die Wahrheit – oder wenigstens ein Stück von ihr – blieb, dass sie oft nicht sein wollten, wer und was sie waren. Nicht Serben, nicht Bosniaken, nicht Kroaten oder Albaner etwa, sondern, ja – um bei ihrem Beispiel zu bleiben –, wohl allesamt lieber Amerikaner. Andere Beispiele wären leicht zu finden. Nicht sein wollen, wer man war, das war noch schlimmer als nicht haben wollen, was man hatte, sondern lieber etwas anderes. Es konnte den Betroffenen selber und anderen zum Verhängnis werden. Sie zogen nämlich gegen das, was sie nicht hatten und nicht waren, alsbald in den Krieg. War es aber nicht in Reichweite, dann eben gegen etwas anderes, was dazu nah genug war, auch wenn es ihnen selber zum Verwechseln ähnlich sah. Und wem die Welt kaputtging, schien es Ernst O., dem konnte sie nicht gründlich genug kaputtgehen. Im Krieg zudem erledigte sich wie von selbst die Frage, wer man war: Der Feind des Feindes war man, so viel wusste man, und das war genug, nun wollten Serben Serben sein etc., etc.

Auch zum Bewundern wollten die enttäuschten Menschen etwas haben. Stets war das Wunderbare, fast wie das Wunder selber, ein starkes Mittel gegen die Wirklichkeit. Für den Bewunderer blieb von ihr nur ein Abglanz, ein Irrlicht über der Glut des Hasses, der sich gegen sie richtete. Nun war man fast so stark wie dieser gleißende Hass. Ernst O. sah schwarz. Er selber wachte manchmal auf mit dem Gefühl, in seiner Haut sei ihm nicht recht wohl. Mitunter ahnte er, woher das Gefühl kam. Hatte er diesmal nicht versagt? Blieb nicht zu befürchten, dass er es wieder täte? Die Wahrheit aber hatte ihre Barmherzigkeit: Sie stand trotz allem noch bevor, gehörte der tausendundzweiten Nacht. Erst dannzumal würde sie – und zwar die ganze – unvergänglich der Vergangenheit angehören, der sich unaufhörlich wandelnden. Ernst O. war etwas schwül bei diesen Dämpfen, die ringsherum uralten Gruften entstiegen. Dabei war doch, nein, nicht alles, aber vieles – und sogar Wichtiges – schon jetzt ganz einfach wahr.