Religiöse Frage

Von Georg Brunold, du NO NEWS, 01.07.2001

Hat die Welt eine erste Ursache? Einen Anfang in der Zeit? Und die Seele? Kant sprach von solchen Fragen, welche die Vernunft sich selber aufgibt und die ihr deshalb unabweisbar seien, obschon sie daraus einzig die Gewissheit zieht, dass sie darauf keine gesicherte Antwort finden kann. Man nennt sie Glaubensfragen, religiöse Fragen. Die Vernunft verdankt ihnen die Einsicht in eine Endlichkeit des Erdenmenschen, die nicht in Jahren und Metern zu messen ist. Die Erfahrung ist älter als pointierte Formulierungen wie etwa das sokratische Wort vom Wissen, dass ich nichts weiß; und aus ihr kommt unsere Zurück- und Angebundenheit (religio): Es gibt Größeres als uns, nicht alle Dinge können wir ergründen etc.

Wo es keine geben kann, sind alle Antworten gleich gut- soweit es um die Wahrheit geht. Und es braucht mehr, als man denkt, damit sie einander zwingend widersprechen. Weshalb müsste denn, wie offenbar so viele glauben, der biblische Schöpfungsbericht mit der Wissenschaft kollidieren? Was hätte IHN, als er in sechs Tagen die Welt erschuf, hindern sollen, den Allmächtigen, sie mit einer Vergangenheit auszustatten? Auf diese Möglichkeit wurde mehrmals hingewiesen: Gott hat vor 6000 Jahren keine neue, sondern eine uralte Welt erschaffen, hat seiner Schöpfung 13 Milliarden Jahre Geschichte eingeschrieben, als Forschungsobjekt und unabgeschlossenes Langgedicht. Das bräuchte nicht einmal zu heißen, dass nicht alles wirklich stattgefunden hat.

Trotz allem wissen wir noch immer nicht, wie alles ganz am Anfang angefangen hat und wozu genau wir da hineingeraten sind. Der Spielverderber mag sagen, in Anbetracht solch ausgesuchter Tatbestände sei keine Antwort besser als alle Antworten zusammengezählt. Nur wollten wir doch seinem Missmut nebst der Wahrheit nicht auch alle Poesie und Fantasie – ja, eben die Schöpfung selbst – zum Opfer bringen. Dieses wahre Geschenk des Himmels. «Übernehmen Sie die Version, die Ihnen zusagt», empfahl Jallal Al-e-Ahmad auf die Frage, ob er an die Evolution oder an die Erschaffung der Welt glaube. «Zwischen diesen beiden – also zwischen der Annahme oder Spekulation (von der Evolution) und der Geschichte (von der Erschaffung) – entscheide ich mich für die Geschichte. Warum? Weil es Dichtung ist. Und die Grundlage der Dichtung abgibt.» – «Unannehmbar», raunten Rechtgläubige unter den Studenten, die Teherans fulminanten Geistesdiagnostiker, Satiriker und Pamphletisten – ein Zeitgenosse Sartres und Malraux' – interviewten. Es waren Khomeinis angehende Revolutionsgardisten.

Für Kirchen und andere politische Körperschaften, die das Arsenal der gültigen Antworten verwalten, wird aus religiösen Fragen Mord und Totschlag, Krieg. Denn da gilt als Glaube die Berufung, hier im Leben Ordnung zu schaffen, was ja tatsächlich jemand auf sich nehmen muss, bloß dass die Frage Wie das um so größere Schlamassel heraufbeschwört. Noch wo das Richtige und Rechte getan wird, geschieht es oft aus ganz falschen Gründen.

Aber auch Kirchen erfahren gottgegebene Grenzen ihrer Macht. Ein berühmtes Beispiel: Giordano Brunos Universum mit den unendlich vielen Welten war kein beobachtbares Arrangement von Gegenständen. Deshalb musste Bruno dafür sterben. Hätte er abgeschworen, wäre seine Idee in späteren Köpfen wiedergekehrt. Doch zu seiner Zeit hätte sie ihn ohne sein Martyrium nicht überlebt. «Bitte», konnte anders als Bruno Galilei sagen, «die Herren brauchen nur durchs Fernrohr zu schauen.» Deshalb konnte Galilei widerrufen, die Faktenlage sprach für sich. Eppur si muove. Sogar Kirchen, wenn auch gewiss nicht alle, sind seitdem religiöser, zurückhaltender geworden.