Dieses eine einzige Leben
Nein, zu dem Schluss war Ernst O. schon einmal gekommen, die Zeit gestattete dem Menschen nicht, als 85jähriger zur Welt zu kommen, sich mit seinem ganzen Wissen rückwärts zu bewegen und zu leben, bis mit der spurlosen Annullation seiner Zeugung an der Stelle des Anfangs das Ende eintrat. Etwas derart Tiefes hatte schon der tiefe deutsche Heidegger gesagt. Die Zeit war die unerbittlichste Bestimmung unseres ganzen Seins, und auf dieser Einbahnstraße, diesem Holzweg, galt mindestens eine Geschwindigkeitslimite: eine untere. Ein jedes Menschenleben käme in einem Jahr eventuell mehr als ein Jahr, in keinem Jahr aber weniger als ein Jahr voran. Es war dies ein Zug, den wir, obschon er niemals stehen bliebe, nicht verpassen könnten.
Unverbraucht, wie der Mensch zur Welt kam, war also für seine Unschuld wenn auch noch nicht das Strafmaß festgelegt, so doch die Strafe garantiert. Sterben, Ernst O. machte sich nichts vor, war das einzige, was jedem auf der Welt gelingen würde. Ansonsten häuften sich die Schwierigkeiten von Geburt an, und jeder Zugewinn an Weisheit konnte nur beweisen, dass unser einziger Antrieb unser Unvermögen blieb und die einzige Hoffnung, dass aus Misserfolg nicht weniger zu lernen wäre als aus dem Erfolg. Gleichviel – mit jeder Antwort wuchs die Zahl der Fragen, und wenn das nicht die Lösung war, so gab es jedenfalls keine andere.
Die Kraft unseres Verstandes, Ernst O. seufzte, nein, sie würde uns nie vollauf befriedigen. Aus dem Gestern war höchstens zu schließen, was auch morgen unterbliebe. Schlimmer stand es bei dem Untier Mensch nur noch um die Willenskraft. Nicht erst bei Taten versagte diese, sondern häufig sogar bei einem Verzicht. Nicht erst angesichts der Zukunft, sondern schon angesichts der Vergangenheit, die einen Verzicht so oft nur nahelegen konnte. Aus dieser Feststellung waren schon, auch davon hatte Ernst O. gehört, recht weitreichende Schlüsse gezogen worden. Wäre der Mensch, diese erbärmliche Kreatur, so lehrte Schopenhauer, bloß in einem Punkt ein anderer, als er ist, nämlich um eine Spur nur willensstärker, dann reichte dies zwar noch nicht hin, um an seiner skandalösen condition Korrekturen vorzunehmen. Doch des Menschen Einsicht reichte zum einzig würdigen Entschluss, seinem unabänderlichen Dasein ohne weiteren Verzug ein Ende zu bereiten.
Bloß – wann kam ein Entschluss, wenn es denn dazu kam, aus Einsicht? Und selbst der tapferste Entschluss wäre noch bei weitem nicht die Tat! Bei seiner ganzen Duldermiene! Der berühmte Pessimist Schopenhauer war unbekehrbar Optimist, zumindest innerhalb der eigenen Logik, die zwar nicht durch ihre steile – Ernst O. schien es, fast selbstmörderische – Konklusion, wohl aber durch ihre Kraftlosigkeit versöhnlich stimmen konnte. Dank ihrem vorgelebten Defätismus, dank dieser täglichen Kapitulation eines jeden vor sich selber, ging die Geschichte also weiter, wenigstens bei der Mehrheit. Auch in der Schweiz gab es einen Denker, einen der Gegenwart sogar, mit Namen Osi. Ernst O. fragte sich, ob Osi nicht dasselbe meinen musste, als er vor Jahren festhielt: «Denn in einer tieflagernden Grundbefindlichkeit unseres Lebensgefühls», Ernst O. hatte es sorgfältig notiert, Osi drückte sich so aus, «sind wir fest davon überzeugt, dass Geschichte ‹irgendwie› weitergeht und weitergehen muss, solange Menschen noch auf unserem Planeten vorfindbar sind.» Fukuyama und zugenäht! ‹Irgendwie› also doch! Solange... Und: «wir», sagte Osi. Und – denken wir doch! – «auf unserem...», ja, da hatte uns die Merde wieder, da waren wir alle beisammen, fast wie auf unserem eigenen – Grüezi! – Schweizer Planeten!