Arm um jeden Preis

Von Georg Brunold, du NO NEWS, 01.12.2000

Vergleichsweise zügig schreitet die Angelegenheit in Perus Hauptstadt Lima voran: Die Lizenz zum Betrieb der projektierten kleinen Schneiderei am Stadtrand ist nach 289 Tagen à 6 Stunden Einsatz erteilt. Kostenpunkt: 1232 Dollar oder 31 Mindestmonatslöhne. Nach sechs Jahren, elf Monaten und 207 Amtsterminen folgt die Baubewilligung, die erste Hürde auf dem Weg zum Kauf des in Staatshand befindlichen Grundstücks. Wer in der Republik der Philippinen, wie meistenteils üblich, auf öffentlichem Grund sein Haus gebaut hat und dieses daraufhin rechtsgültig erwerben und besitzen will, hat sich auf 168 Termine bei 53 Amtsstellen und eine Verfahrensdauer von 13 bis 25 Jahren einzustellen. Der Erwerb eines Stücks ägyptischen Wüstenbodens führt über 77 Termine 5 bis 14 Jahre lang durch 31 Amtsstellen.

Ein Forscherteam des in Lima domestizierten «Insitute of Liberty and Democracy (ILD)» hat sich dieser jahrzehntelangen Feuertaufe unterzogen und so viel zum Normalbefinden auf unserem Planeten in Erfahrung gebracht. Nachzulesen sind die denkwürdigen Ergebnisse in The Mistery of Capital, dem neuen Buch des ILD-Präsidenten Hernando de Soto. Einige weitere Zahlen daraus: In Brasilien gehen von der gesamten Bautätigkeit 60 bis 70 Prozent illegal vonstatten. In ganz Lateinamerika gibt es bei drei von vier Gebäuden keine beurkundeten Eigentumsverhältnisse, und bei Wohnhäusern liegt der Anteil ohne Besitztitel bei mindestens 80 Prozent; in Ägypten bei 83 Prozent auf dem Land, bei 92 Prozent in den Städten. In Mexico City gibt es bei 167’000 registrierten Kleinbetrieben rund 300’000 unregistrierte, die mindestens 8 der 20 Millionen Einwohner ernähren. In den Entwicklungsländern sind nach globalen Schätzungen 50 bis 75 Prozent der Arbeitenden im informellen Sektor tätig und erwirtschaften je nach Land von einem Fünftel bis zu zwei Dritteln des Sozialprodukts. De Soto: «In fact it is legality that is marginal, extralegality has become the norm.»

Zwei Drittel der Menschheit sind, so de Soto, arm, nicht weil sie sich keine Häuser bauen oder kein Gewerbe treiben würden. Im Gegenteil, das tun sie fast ausnahmslos, mit ganz bewundernswerter Unermüdlichkeit und übermenschlicher Geduld. Arm sind sie, weil sie an ihren Häusern und Betrieben, an ihren Mitteln von Produktion und Reproduktion, keine verbrieften Eigentumsrechte geltend machen können. Statt dass sie ihre Aktiven als Kapital fixieren und dieses als kreditwürdige Unternehmer gewinnbringend einsetzen könnten, bezahlen sie für ihre Unsicherheit – und den Mangel an jeglicher Infrastruktur – mit informellen Abgaben aller Art, die oft die Steuern, die der Staat nicht einzutreiben in der Lage ist, bei weitem übersteigen. «Totes Kapital» nennt de Soto diese offiziell inexistenten Vermögenswerte und beziffert sie mit weltweit 9300 Milliarden Dollar. Das entspricht dem 93fachen der gesamten westlichen Entwicklungshilfe an die Dritte Welt seit 1990 – oder den globalen Rüstungsausgaben für rund 10 Jahre.

Die Aufgabe des Staates in Entwicklungsländern wäre es, den informellen Sektor zu integrieren. Alle Probleme würde er damit vielleicht noch nicht lösen. Statt dessen bekämpft er die Schattenwirtschaft und nennt es Kampf gegen die Korruption. Gewiss, diese wird zu Recht oft als das Problem bezeichnet. Nur geht sie in Wahrheit von eben diesem Staat aus, ... und ihre Bekämpfung ist von ihr nicht zu unterscheiden. Und wenn sie für die Betroffenen offensichtlich nicht die Lösung ist, so ist für diese jedenfalls keine andere in Sicht. Ärger als dieser Staat, der statt der Krankheit den Patienten bekämpft, ist nur, was derselbe Staat zurücklässt, wenn er – wie da und dort in Afrika – am Ende ganz zusammenbricht.