Wohin mit der Führungsmacht?
Henry R. Luce war es, der Gründer und Verleger von «Time Life» und «Fortune Magazine», der dem 20. Jahrhundert seinen Namen gab. «Unsere Zeit ist da», so schrieb er 1941, noch vor Pearl Harbor, «dass wir zum Kraftwerk der Ideale von Freiheit und Gerechtigkeit werden», von dem aus «diese Ideale sich in der ganzen Welt ausbreiten», und «in diesem Geist» – dem Geist von «purpose and enterprise and high resolve» – sind «wir alle aufgerufen, jeder nach seiner Fähigkeit, jeder im weitesten Horizont seiner Vision, am ersten großen Amerikanischen Jahrhundert mitzubauen.»
Es liegt hinter uns, dieses nach seiner neuen Führungsmacht geheißene Jahrhundert. Sein Anfang wird gerne auf den Panamerikanischen Kongress von 1889 angesetzt, als in Washington Präsident Benjamin Harrison und Außenminister James G. Blaine zum ersten Mal die Großmachtambition der USA verkündeten. Man erkennt in der Datierung die Rücksicht auf sein Ende mit dem Fall der Mauer 1989, der Europa nach einem Jahrhundert kapitalen Versagens ein Stück weltpolitischer Verantwortung zurückgegeben hat.
Europa bemüht sich um seine «neue Identität». Im letzten Jahr war wieder viel davon die Rede, vermehrt auch, was seine und die globale Sicherheit betreffen soll. Doch nachdem in den neunziger Jahren sein Beitrag – auch im eigenen Hause – sich in Grenzen hielt, tritt der alte Kontinent unter derselben Führung ins kommende Jahrhundert ein, und mit der Unentbehrlichkeit seines Partners jenseits des Atlantiks bleibt die bange Frage, was und wohin dieser will mit seiner großen Macht. Das Bild ist wenig beruhigend. Was alle Lager in Washington außenpolitisch eint, ist der Widerwille, der amerikanischen Entscheidungsfreiheit Schranken setzen zu lassen. Diese Freiheit, von Mal zu Mal absolut, anerkennt weder eine internationale Strafgerichtsbarkeit, noch verzichtet sie auf Antipersonenminen. Unter den drei außenpolitischen Akteuren der USA verlieren sich zwei in Parteienquerelen, das Weiße Haus nicht weniger als der Kongress. Während allein das Pentagon um globale Präsenz bemüht ist und in seinem Rahmen eine Art Außenpolitik macht, erteilen die Republikaner dem Atomwaffen-Teststopp-Vertrag eine Abfuhr, und Bill Clinton missbraucht die WTO-Konferenz in Seattle für einen Wahlkampfauftritt zugunsten seines Mitstreiters Al Gore.
Führung dagegen beinhaltet Engagement, und Engagement gibt es nicht ohne Verbindlichkeiten. Wirtschaftlich stärker denn je, sind die USA vielleicht als einzige Macht der Welt auf Partner nicht angewiesen. Wen aber will eine Macht führen, die sich gewohnheitsmäßig gegen internationale Abkommen stellt und – mittlerweile schon aus Prinzip – sich weigert, in internationalen Körperschaften ihren finanziellen Verpflichtungen nachzukommen?
Es ist zu befürchten, dass Europa einer Supermacht nachtrauern wird, die noch eine Führungsvision hatte. Wäre einem neuen Jahrhundert des verschärften amerikanischen Unilateralismus nicht notfalls sogar eine Prise des oft als missionarisch verschrienen Geistes vorzuziehen, den die Weltmacht einst, noch vor ihrem Antritt, sich selber verschrieb? «Das ganze Geheimnis der Stärke eines Lehrers», so Ralph Waldo Emerson 1834, «liegt in seiner Überzeugung, dass die Menschen bekehrbar sind. Und sie sind es. Sie wollen Erweckung.» Emerson, Amerikas erster politischer Philosoph, war einunddreißig. Obwohl er das Priesteramt schon verlassen hatte, ging es ihm darum, «to get the soul» – die Seele – «out of the bed, out of her deep habitual sleep». Statt dessen wird, wer in der NATO das Sagen hat, durch weitere transatlantische Fusionen der Rüstungskonzerne entschieden werden.