Liebste Zukunft
Für C. S.
«Glaubst du, die Menschen könnten sich ändern?!» So fragte unlängst wieder einmal ein guter Freund. Es war nicht eigentlich eine Frage. «Das glaubst du nur», fügte er prompt selber hinzu, «die Menschen können sich nicht ändern!» Die Einsicht, man hört es ihr an, gehört ins Kapitel des Grundsätzlichen. Der gute Freund gibt sich hie und da grundsätzlich, noch wo er Trost und Zuspruch gönnen möchte. Doch die Menschen können nicht nur nicht, sie müssen sogar sich ändern. Das ist noch nicht alles, denn – nur um der Wahrheit willen – ist anzufügen, dass sie zudem geändert werden, von außen, von ihrer Mitwelt, recht schonungslos, nachhaltig und fortgesetzt, auch ohne dass sie können. Wem könnte das verborgen bleiben, wenn er sich nur für einige Augenblicke mit offenen Augen der Vergangenheit zuwendet und auf sich selbst zurückblickt.
Doch versuchen wir einmal uns vorzustellen, dieser, den wir im Rückblick vor uns sehen können, zuweilen sogar hören, könnte seinerseits in die entgegengesetzte Richtung, in seine Zukunft, schauen und sich mit uns ein wenig unterhalten. Wie manchen, wenn er dazu in der Lage wäre, müsste nicht ein Grausen packen und unversehens der bestimmte Wunsch sich umzubringen? Nicht nur weil seine Ambitionen etwas durchaus anderes von ihm verlangen und sogar erwarten lassen, als die Zukunft ihm womöglich bereithält. Die Welt ist um eine Spur dunkler. Nicht nur er nämlich, auch sie würde sich ändern. Und dabei hätte er gar keine Möglichkeit zu verstehen, wie und warum es denn sollte geschehen können, dass nicht nur seine Lage nicht wiederzuerkennen wäre, dass überdies die dermaßen sich ändernden Umstände auch aus ihm selber buchstäblich einen andern machen würden, der er weiß Gott nicht ist. Wer aber möchte im Ernst ein völlig anderer sein?
Fänden die Leute sich vor die Wahl gestellt, in die Zukunft schauen zu können oder aber aus freien Stücken dies zu lassen, dann wäre es wohl nur eine eher kleine Minderheit, die widerstehen könnte. Für die meisten wäre die Versuchung übermächtiger noch als damals beim Auszug aus Gomorrha für Frau Lot, den verbotenen Blick zurück zu wagen. Das eine oder andere können wir ja doch voraussehen, und diese Mehrheit – das gehört dazu – würde, bevor sie selbst zu einem Heer von Salzsäulen erstarrte, an der klügeren und besonnenen Minderheit furchtbare Rache nehmen, und dies ohne die Zukunft erst abzuwarten.
Wollen wir also nicht doch einmal aufatmen? Nicht immer sind es unsere Fähigkeiten, was uns auszeichnet, stark und unverwundbar macht – und uns zum Verhängnis wird. Das weitaus wertvollere Gut ist oft ein Unvermögen. Die Zukunft, die wir nicht vorhersehen können, bleibt sich so in gewisser Weise immer gleich, während nur die Vergangenheit sich ständig ändert. Mit der Zukunft tun wir, was wir wollen, und wir verschulden uns sogleich bei ihr. Manchmal erwecken wir schon fast den Eindruck, als gäbe es sie nicht, die Zukunft. Gleichviel – in sie verbannen wir unsere Probleme, und genauso wünschten wir uns, manchen unter unseren Zeitgenossen in sie zu verbannen, lieber als in die Vergangenheit, wo er den Schaden ja doch schon angerichtet hätte. Die Gegenwart, der eingangs erwähnte gute Freund kann da nur beipflichten, wäre stets leichter ohne diesen oder jenen Teil von ihr. Aber wie immer es damit im einzelnen bestellt sein mag, eines bleibt gewiss: Wir werden – und wer möchte das nicht! – uns erst in der Zukunft ändern. Stoßen wir ins Horn, und fassen wir sie an, die liebste Zukunft! Nur sie allein kann uns vor ihren Schrecken bewahren.