Grollender himmlischer Friede
China ist groß, vor allem seine Bevölkerung. Sie weiß es, und um nichts kleiner, im Gegenteil, sind ihre Frustrationen. Sie hat es zu wenig gebracht, außer zu viel Unrecht, das ihr, so belehrt sie ihre politische Führung, pausenlos von fast der gesamten übrigen Welt widerfährt. Da aber mindestens ebenso groß wie der Riese selber auch dessen Stolz sein muss, kann dieser durch die Verletzung nur wachsen. Der Misserfolg und das Scheitern können Ausmaße annehmen, dass man daran unmöglich noch selber Schuld tragen kann, es kann nur von außen zugefügt sein. Man beobachtet das in anderen Weltgegenden ebenfalls, in Afrika, Lateinamerika und – in ausnehmender Klarheit – in der arabischen Welt. Sein eigener Feind kann man schließlich nicht sein.
In China sind die nur allzu dringenden Reformen seit über zwanzig Jahren blockiert, und in Peking kann das nur heißen, dass China die letzten zwanzig Jahre ein Opfer – natürlich das prominenteste – der verschworenen Mächte des Westens war. Wie die Bombardierung der chinesischen Botschaft in Belgrad zielsicher bewiesen hat, verfängt dieser zumeist zähneknirschende, bei Gelegenheit jedoch aufheulende Nationalismus auch in Kreisen, bei denen sonst wenig Sympathie für das Regime und die Partei zu vermuten ist. An den chinesischen Kommunismus, dessen Vertretungen nur vorsätzlich bombardiert werden können, glauben in China am wenigsten die, die mit der besonderen Aufgabe seiner Verteidigung betraut sind, und so hat die Partei die Verdammten dieser Erde in China nur zu sich selber zu bringen verstanden – in die trotzige Eintracht des Ressentiments.
Nun aber hat sich über Nacht eine Plage anderer Art vor dem Tor zum himmlischen Frieden breitgemacht, mit dem Namen Falun Gong. Mit dieser Bewegung, die sich als zeitenthoben und daher apolitisch ausgibt, die keine Revolution, sondern die Abkehr von weltlichen Dingen predigt, hat China nichts anderes ereilt als die eigene Geschichte, die Jahrtausende alte Tradition der Sekten und Geheimgesellschaften. Das Faktum allein, dass das Oberhaupt Li Hongzhi seinen Tagesbefehl aus New York erlässt, versetzt die chinesische Führung noch nicht in die Lage, den Feind glaubhaft als amerikanisch zu identifizieren. Die Infektion bleibt hausgemacht. Und falls der Kult nicht selber für seinen politischen Charakter aufkommt, dann hat dafür spätestens der Repressionsapparat mit seinem Verbot gesorgt. Das Regime hat damit einen Feind gekürt, der es beängstigen muss. Die Sekte verfügt über mehr Personal als die Partei, und viele ihrer 60 bis 70 Millionen Anhänger, heißt es, sind Mitglieder der Partei.
Das Jahr des fünfzigsten Geburtstags der Volksrepublik, in dem sich das Massaker vom Tiananmen-Platz zum zehnten Mal jährte, hat trotz Falun Gong an freundlichen Aussichten wenig zu bieten. Dem gewaltfreien Geist des «buddhistischen Gesetzes» – so der Name Falun Gong – ist zu misstrauen, die autoritäre Disziplin der Sekte trägt wenig fortschrittliche Züge. Die politische Führung auf der anderen Seite wird sich durch die wachsende innere Bedrängnis kaum veranlasst sehen, ihrem Volk gegenüber die Außenwelt freundlicher darzustellen. Über der Straße von Taiwan liegt eine steife Brise, und wer zum anderen China Beziehungen aufnimmt, wird wie Mazedonien bestraft mit einem chinesischen Veto gegen die Stationierung eines kleinen Uno-Sicherheitskontingents. Chinas Protegés bleiben Parias (sprich weitere Opfer des westlichen Weltimperialismus) wie Burma oder Nordkorea. Der Dalai Lama wird im Exil ausharren und China seinerseits bis auf weiteres außerhalb der Welt, von deren Bevölkerung ein Fünftel in China zu leben hat.