Milošević in Zahlen
Trümmerhaufen zeigen mannigfache Aspekte, man ermisst sie nicht auf einen Blick. Dennoch ist es ab und zu möglich, Aktualitäten auf einen Blick zu erfassen, nachdem Jahre von Zeitungslektüre keine Vorstellung davon zu vermitteln vermochten. Es geht um die Verhältnisse im ehemaligen Jugoslawien, wo vor zehn Jahren, am 8. Mai 1989, Slobodan Milošević́ zum Präsidenten Serbiens gewählt wurde. Es geht nicht um Ereignisse in diesem Jahr, sondern um deren Voraussetzungen. Im Mai, als das Fernsehen Flüchtlinge und die Zerstörungen durch Bomben zeigte, druckte das Londoner Wochenmagazin «The Economist» eine Karte mit 18 Zahlen: Die übliche Messgröße für die Wirtschaftskraft eines Landes ist das Bruttosozialprodukt pro Kopf der Bevölkerung. Den Basiswert des kleinen Index, bezeichnet mit der Zahl 100, gibt das Bruttosozialprodukt pro Kopf der Bevölkerung Sloweniens im Jahre 1988. Die Zahlen im hellen Kästchen geben die Vergleichsgrößen aus demselben Jahr. Die Zahlen im dunklen Kästchen geben die Vergleichsgrößen von 1997. In diesem Vergleich der wirtschaftlichen Kraft lag demnach 1988 Kroatien leicht über halbem Niveau Sloweniens, ebenso die zur serbischen Teilrepublik gehörende Wojwodina; Serbien, Montenegro und die künftige restjugoslawische Union lagen bei einem Drittel oder leicht darüber, ebenso Mazedonien; leicht unter einem Drittel lag Bosnien-Herzegowina, die serbische Provinz Kosovo bei einem Zehntel.
Bis 1997, nach den Kriegen in Ostkroatien und Bosnien-Herzegowina, hat sich die Schere weiter geöffnet, und dies, sieht man von Kroatien ab, rasant. Das Bruttosozialprodukt pro Kopf der Bevölkerung Mazedoniens ist von einem guten Drittel jenes Sloweniens auf weniger als ein Fünftel gesunken. Jenes Bosniens fiel auf ein Achtel, jenes Restjugoslawiens von einem Drittel auf ein Zwölftel. So beziffert sich die Ernte von zehn Jahren Milošević́́ vor dem Krieg im Kosovo und vor den Strafaktionen der NATO.
Was weiter das serbische Volk betrifft, so haben – wie aus der kleinen Karte hervorgeht – seine 1,2 Millionen Angehörigen in Bosnien-Herzegowina am stärksten unter den Folgen des Krieges zu leiden. Das magere Einkommen der 2,4 Millionen Bosniaken und Kroaten übersteigt das ihre um durchschnittlich die Hälfte. Man kann sich die Liebe des serbischen Volkes zu seinem Führer ausrechnen.
Es gibt, entgegen dem übermächtigen Eindruck, noch immer Serben, die eine eigene Meinung nicht nur haben, sondern auch äußern. Zu ihnen gehört Nastasa Kandić vom Humanitarian Law Center in Belgrad, die im März, April und Mai kreuz und quer durch Kosovo gereist ist, zeitweilig zusammen mit Flüchtlingen, und albanische Kosovaren in Sicherheit gebracht hat. Sie schreibt: «Wenn ich heute durch Serbien reise – neuerdings zunehmend auf Seitenstraßen – und mit den Leuten rede, merke ich, dass sie alle verstehen, was vor sich geht. Sie wissen ganz genau, dass die einzige Lösung für Serbien darin liegt, alle Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.»