Toleranz ist keine Form von Liebe
Auch Indifferenz könnte eine staatsbürgerliche Tugend sein, namentlich dort, wo es sich dabei um eine knappe Ressource handelt, wie öfter etwa auf dem alten, geistesgetränkten Kontinent Europa. Nicht dass hier die politische Kultur unter einem Übermaß an Partizipation litte. Doch hat etwas Leute erst einmal auf die Idee gebracht, in diesem oder jenem politischen Streitpunkt von sich und anderen eine Meinung zu erwarten, dann haben sie Meinungen sogleich in jeder erdenklichen Frage, ob weltbewegend oder nicht so sehr, und zwar auf das Allerentschiedenste. Ein Alptraum ist eine Gesellschaft, wo jede Frage jeden und jede zur Kombattantin befördert. Von der lieben, als Defätismus, Unverantwortlichkeit oder Charakterschwäche diffamierten Indifferenz kann man da nur noch träumen.
Der Begriff «Toleranz» dagegen ist positiv besetzt. Das heißt nicht, dass er besser verstanden würde. Im Gegenteil, Toleranz wird weitherum missverstanden als großherzige Art von emotionaler Neutralität – wir erinnern uns: Indifferenz. Gedankenlos wird als Toleranz oft eingefordert, was die Gesellschaft an gesunder Indifferenz vermissen lässt. Und aus dem Feuilleton einer großen Lokalzeitung erfährt man, zum Wesen der Toleranz gehöre bekanntlich Gegenseitigkeit, Toleranz stoße auf ihre Grenze an der Intoleranz des Gegenübers. Gewiss, auch solcher Unsinn wird toleriert.
Doch Toleranz fängt dort an, wo Neutralität und Indifferenz ein Ende haben, und sie wird erst dadurch zu dem, was sie ist, dass sie sich auf ihr Gegenteil erstreckt. Dazu wurde sie in Europa, dem Kontinent der Aufklärung und der Religionskriege, einst erfunden. Tolerieren kann man bis heute nur, was man missbilligt, was man in gewissen Fällen nur für den eigenen Gebrauch ablehnt, in anderen Fällen aber auch als Rezept für die Allgemeinheit zurückweisen muss, zum Beispiel eben zahlreiche Spielarten von Intoleranz. Toleranz ist Missbilligung, die darauf verzichtet, wirksame Konsequenzen zu ziehen, und dieser Verzicht empfiehlt sich durch die Einsicht, dass es sich im Interesse der Mehrheit nicht lohnt, ja sogar abträglich wäre, gegen das missbilligte Verhalten einer Minderheit gesetzliche Maßnahmen zu ergreifen; dass es statt dessen – nebst dem fortgesetzten Versuch, gütlich zu überzeugen – nur ein Mittel gibt, die Belastung für das Gemeinwohl zu minimieren: nämlich Toleranz.
So toleriert ein freiheitlicher Rechtsstaat die aktive Präsenz von Feinden der Demokratie, solange sie nicht zur Gefahr werden. So toleriert er die Verkündigung einer religiösen Botschaft, die ihrerseits Menschenrechte missachtet und das Recht auf freie Religionsausübung negiert. So tolerieren Bürger Rassismus und Fremdenfeindlichkeit von Mitbürgern. So toleriert man auf der Zürcher Bahnhofstraße Serbenumzüge. Nicht um ihrer selbst willen wird Intoleranz toleriert, nicht weil sie irgendeine Berechtigung hätte, sondern um der Toleranz und einer Kultur der Freiheit willen, die Schaden nimmt, sobald die Intoleranz einer Minderheit der Allgemeinheit und ihren Organen ihrerseits ein intolerantes Verhalten aufzuzwingen vermag. Erst wo als Antwort auf ihresgleichen Intoleranz nicht mehr vermeidbar ist – im Rechtsstaat führt das im Extremfall zum klassischen Ausnahmezustand –, hat sie, die Intoleranz von Staats wegen, ein Recht geltend zu machen. Doch dieses Recht stützt sie allein auf ihr Ziel, das politische Gemeinwesen in einen Zustand zurückzuführen, welcher Intoleranz – selbst als Reaktion auf ihresgleichen – nicht länger erfordert und rechtfertigt. So viel zur Erinnerung an den modernen, liberalen Toleranzbegriff, der nicht postmodern bedeutet, das eine gelte so viel wie das andere oder niemand habe Recht und dafür jeder.