Nahostproblem über alles
Das gebe es nun einmal nicht, hört man in Zypern auf die Frage nach griechisch-türkischen Mischehen, und zwar in keinem einzigen Exemplar. Für den Gegenbeweis sei an dieser Stelle ein Finderlohn ausgesetzt. Arabisch-israelische Mischehen dagegen gibt es, trotz der Paradoxien, in die sie führen. So etwa ist der Sohn einer Jüdin und eines Muslims zugleich Jude und Muslim, während der Sohn einer Muslimin und eines Juden weder das eine noch das andere ist. In den besetzten und in den autonomen Palästinensergebieten gibt es noch keine Ansätze eines Zusammenlebens, die jüdischen Siedlungen sind kein Modell von Koexistenz. Doch innerhalb der Staatsgrenzen Israels leben eine Million Araber mit israelischen Pässen, nicht viel weniger als ein Fünftel der Bevölkerung des jüdischen und dennoch in mehreren Hinsichten multiethnischen Staates.
Ob Präsident Arafat am 4. Mai den souveränen Staat Palästina proklamieren wird oder auch nicht – andere werden erläutern, welchen Unterschied das für die Zukunft machen wird. Im Nahostkonflikt, der auch in Zeiten des Friedenprozesses noch diesen Namen verdient, bringt das, was die Parteien einander entgegenstellt, die Verhältnisse noch nicht vor Augen. Erst was ihnen gemein und was im Lauf der Jahrzehnte vielleicht zur Quintessenz des Nahostproblems geworden ist, macht die Lage erkennbar. Es ist die erschütternde Tatsache, dass in Israel und in Palästina die Welt, das globale Geschehen und jenes in entfernteren Teilen des Universums gleich mit dazu, sich auf das Nahostproblem reduziert.
Es kommt daher, wenn für Fremde ein längerer Aufenthalt, gleichviel ob in Jerusalem, Gaza, Haifa oder Nablus, kaum durchzustehen ist. Es geht nicht um Dinge wie Monotonie oder Langeweile, die sich mit der Vorstellung eines Landstrichs ohne Aussenwelt verbinden. Die Sache ist die, dass es eine Aussenwelt gibt, und was der Fremde am Schauplatz des Nahostproblems nur schwer erträgt, ist dieses so beklemmende Gefühl vor der Frage, ob die zwanzig Millionen Einwohner von Mexico City, wenn auf ihre Stadt zum Beispiel eine Atombombe fiele, bei den sieben oder acht Millionen Einwohnern Israels und Palästinas Aufmerksamkeit zu wecken vermöchten. Lässt man sich dort von sich selber ablenken? Vielleicht betrifft die Frage die Eigenart heiliger Länder.
Dass der Nahostkonflikt seit der Wende von 1989 etwas aus dem weltpolitischen Zentrum abgedrängt wurde, verbessert die Lage nicht. Im Gegenteil, das Problem wird nur erratischer. In seiner Reduktion auf das Eigene fällt der Konfliktherd nicht nur aus dem weltpolitischen Raum, sondern auch aus der Zeit. Natürlich gibt es historische Zusammenhänge zwischen dem Nahostproblem und der Shoa. Doch Begebenheiten, die sich in keine Proportionen, keine Grössenordnungen fügen, entziehen sich auch den geläufigen Ordnungen historischer Ursachen und Wirkungen. Von der Geschichte des Jahrhunderts im Nahen Osten bleibt so als Fazit nur gegenwärtig, dass in gar keiner Frage übliche Massstäbe gelten können. Was aber sonst? Und doch taucht immer wieder die Frage auf, ob in der Geschichte Israels und den Geschicken des palästinensischen Volkes nicht die deutsche Judenvernichtung, nein, gewiss keine Fortsetzung, aber ein entlegenes Nachspiel findet. Der Eindruck bleibt offenbar, dass sich in der gemeinsamen, nahöstlich kompromisslosen Horizontverengung etwas, nein, nicht von der Shoa, aber von deren Singularität fortsetzt. Es dauert alles schon über ein halbes Jahrhundert, und die vierte Generation wächst heran, die nichts anderes kennt: Anstelle des Kosmos das Nahostproblem und nur es, nichts sonst - das ist ein singulär trostloser Anblick.