Zauber der Mehrheiten
Auf der Welt wird in diesen Monaten gewählt. Kasachstan, Nigeria, El Salvador, Tunesien, Finnland, Nepal, Estland, Tonga und Qatar haben es hinter sich, die Türkei, Schottland und Fiji rüsten. Auch in der Demokratischen Republik Kongo hätte im April gewählt werden sollen, doch, wie es aussieht, wäre das etwas zu viel verlangt. Die Volkswahl ist wahrscheinlich in einer Mehrheit der Fälle der schönere Akt, als was die Gewählten folgen lassen. Doch wenn ihre gewählten Vertreter zu wünschen übrig lassen und sie nicht vorbildlich vertreten, zeugt dies noch nicht von der Mustergültigkeit dieser Mehrheit, was wiederum nicht heissen soll, dass nun die Repräsentanten besser ein anderes Volk wählten als dieses andere Repräsentanten. Auch wenn natürlich zu bedauern ist, dass in einigen Fällen das Volk bestimmte Repräsentanten mit der einzigen Absicht wählt, bestimmte andere nicht zu wählen.
Das Wort «Demokratie» hat den Nimbus eines Zauberworts. Mit guten Gründen. Aber das kleinste der Übel kann Züge eines solchen behalten. Der Mehrheitswille ist nicht automatisch Recht, und kommt es auf ihn allein an, kann er beschliessen, was immer er will - fast wie in Jugoslawien. Und bekanntlich ist zum Beispiel strittig, ob die Schweizer Demokratie, die dem Volkswillen keine materiellen Schranken setzt, als Rechtsstaat gelten kann. In den USA war zu beobachten, wie die majority in sexualmoralischen Fragen - obschon da und dort unbemerkt - umgedacht hat. Trotzdem ist, was die Meinungsumfragen ergeben, nicht zwangsläufig, was der Verfassung entspricht, und es wäre, wenn auch sicher nicht machbar, so doch legitim, beides auseinander zu halten.
Wenn in Staaten trotz freier und fairer Wahlen Mängel festzustellen sind, um wieviel mehr dann in Staaten, welche Wahlen nur als Farce kennen! Da kann doch nichts anderes zu erwarten sein... Derlei Gedankengänge, die diese Bezeichnung nicht verdienen, sind stets am raschesten zur Stelle, wenn das Urteil über einen Staat toleranter ausfällt, als es mit Rücksicht auf das betroffene Volk ausfallen dürfte. Die Freundschaft selbst von regierenden Demokraten folgt im Zweifelsfall gerne dem Interesse und gilt daher, wo sie Landesgrenzen überschreitet, oft mehr Regierenden als den Regierten.
Das gilt auch im Feld der «Entwicklungshilfe», die man heute - in Abbitte für die angemasste Überlegenheit - «Zusammenarbeit» nennt. Man darf nicht mehr erziehen wollen. Doch das Wichtigste an dieser Zuwendung bleiben ohne Zweifel die politischen Bedingungen, an die sie zu knüpfen ist. Was aber hat man zu verändern, damit alles am zuverlässigsten beim Alten bleibt? «Ach! Demokratie...», hört man in Afrika von Europäern mit besonders tiefem Verständnis. «Was, glauben Sie, wird sich ändern, wenn die Opposition die Wahlen gewinnt?!» Die reaktionäre Belehrung trifft sich mit der dürftigen Weisheit der Entwicklungspolitik, die zwar Wahlen fordert, aber weiter leider nichts. Denn das Ergebnis der Wahlen ist lediglich - als hätte es seiner bedurft - der Beweis, dass ein demokratischer Rechtsstaat, sogar wo der Mehrheitswille sich Geltung verschaffen darf, nicht aus diesem besteht, sondern aus einer Verfassung, einer funktionierenden Gewaltenteilung, Gesetzeswerken, einer rechenschaftspflichtigen Verwaltung, aus Institutionen. Politische Bedingungen sinnvoller Hilfe zu nennen erfordert nicht mehr Scharfsinn als die Erkenntnis, dass good governance eine Frage weniger des Wahlergebnisses als der Staatsordnung ist - und der Mehrheitswille heilig, aber wie anderes Heilige allein noch kein Garant gegen das Böse. ·