Täter und Opfer

Von Georg Brunold, du NO NEWS, 01.03.1999

Für viele Zeitgenossen, schien es Ernst O. kürzlich wieder, teilte sich die Menschheit in zwei Kategorien auf, in Täter und Opfer, und war die Zuteilung erst einmal vorgenommen, dann war die Welt zu Ende erkannt, inklusive was daraus folgte. Die Täter oder Aggressoren waren zu tadeln, unter emotionaleren Leuten mit Abscheu zu strafen, und den Opfern war man verpflichtet.

Ernst O. war nicht in jeder Angelegenheit von einem Impetus bestimmt, der sich so bündig aus den Zehn Geboten ableitete, wie sich die Summe vier aus zwei plus zwei addierte. Eher noch als diesen oft gar nicht so frommen und nicht immer von Respekt geleiteten Moralisten glich er jenen Gläubigen, die die Wahrheit offener ins Auge zu fassen vermochten, weil ihr Glaube die Entzweiung mit der bösen Welt etwas abgemildert hatte. Und eine vertrackte, perfide Beziehung wie die zwischen Tätern und Opfern gehörte für ihn zu jenen Sachverhalten, die einen innezuhalten zwangen und um sie herumzugehen, wenn man ihren Vorderanblick etwas besser verstehen wollte.

Ernst O. hatte an manchen Leuten diese scheinbar natürliche, charakterbedingte Affinität beobachtet. Sie neigten, wann immer sie zwei Konfliktparteien vor sich hatten, instinktiv mehr der Seite der Täter zu als der der Opfer. Dieser Hang war sehr diffus. Er gründete nicht in einem reaktiven Hass gegen sein Ziel, das seinerseits einmal Urheber von Unrecht und Leid gewesen wäre. Solche Leute wählten ihre Gegner mit demselben Belieben aus, mit dem sie selber sich von der Welt behandelt fühlten. Es gab wahrlich nicht zu wenige von diesen Naturen, die von einer höchst allgemeinen Unbefriedigung geprägt waren, als hätte das Leben ihnen - und ihnen anders als anderen - niemals etwas Angemessenes offeriert. Dabei kam es oft, schien es Ernst O., gar nicht so sehr darauf an, wie ihnen das Leben tatsächlich mitgespielt hatte, sondern mehr darauf, mit welchen Ansprüchen oder Erwartungen sie angetreten waren. Aber wie dem auch sein mochte, diese Unzufriedenheit - ob es in den Genen lag oder erworben war - hatte sich längst in ein Bedürfnis verwandelt, andern wenn nicht gleich eigenhändig Leid anzutun, so doch wenigstens zuzuschauen, wenn es ihnen zugefügt wurde. Man durfte solche Leute keinesfalls auf diesen Zug hinweisen, wollte man nicht das Risiko eingehen, ihn auf der Stelle zu verstärken.

Ernst O. hatte keine Verwandtschaft mit diesem Menschenschlag. Selbst in Phasen, als er unglücklich, ja recht verzweifelt war, hatte er es nie so weit gebracht, dass er mit seinem bisherigen Dasein insgesamt unzufrieden gewesen wäre. Dennoch hatte er nicht die geringste Neigung, Opfer zu verklären. Nicht dass er der frivolen - und erschreckend verbreiteten - Gehirnerweichung erlag, alle Beteiligten an einem Krieg gleichermassen für «bad guys» zu erklären. Aber keinen Augenblick war er sich darüber im Unklaren, dass manche Opfer, in die Lage der Peiniger versetzt, sich entschlossener als diese ans Werk machen konnten. Unter ihnen war nicht nur der frustrierte Typ stärker vertreten, bei ihnen kam der gezieltere reaktive Hass dazu und machte das Mass voll. So unterlief es Ernst O. manchmal, sich mit Entschiedenheit von Tätern zu distanzieren, ohne sich automatisch für die Opfer zu erwärmen. Und er hätte sich seinerseits, Ernst O. seufzte, unter den Zeitgenossen öfter ein bisschen mehr Indifferenz gewünscht. Es kam ja auch vor, dass ein Kreis von Tätern und Opfern unter sich blieb und von sich aus sich gar nicht als Gegenstand der Gefühle Dritter aufdrängte, nicht wahr.