San Giovanni in Fiore. Kalabriens Hauptstadt der Emigration
Nur Rückkehrer trifft man in San Giovanni in Fiore. Alle waren sie in der Schweiz. Was jedoch nicht den Umkehrschluss erlaubt, es kehrten alle Emigranten zurück.
Mit bloßem Auge ist von Schweiz nichts zu erkennen, nicht auf Anhieb jedenfalls, es sei denn, man stünde gerade dem Kursaal gegenüber, wie wir es damals vor dem Haus Lorez in der Dorfmitte von Arosa regelmäßig taten. Hier in San Giovanni in Fiore ist «Kursaal» der Name eines der Hotels, gleich eingangs der Stadt, von Crotone kommend, fährt man auf der Via Panoramica daran vorbei. Ansonsten sieht alles unvermischt kalabresisch aus, nach wie vor, besonders die zwanzig Jahre alten Rohbauten mit den zugemauerten Fensteröffnungen, um den Regen abzuwehren. Weit und breit keine Spur von Ausland. «Ich bin in die Schweiz gegangen, um etwas Geld zu sparen und mir mein Haus zu bauen.» Schon gestern hat Antonio dieselbe Antwort gegeben, und dabei bleibt es auch heute. Ich werde ihn noch einige Male fragen.
In seinem Haus habe ich bisher weder ein Erinnerungsstück noch einen einfachen Gebrauchsgegenstand als schweizerisch identifizieren können. Kein Indiz verrät den Saisonnier, der sich zehn Jahre lang jeden Frühling auf der Baustelle im Schweizer Bergtal einfand, weder in der Küche, wo wir seit drei Tagen während der drei Mahlzeiten sitzen, noch im Wohnzimmer, wo wir uns später am Abend unterhalten, wenn wir nicht unten im Erdgeschoß bei Antonios Eltern sitzen. Der Vater, Giovanni Battista, ist 81, Filomena, die Mutter, 76, und das einzige, will mir fast scheinen, was sich nicht verändert hat, seit ich vor exakt zwanzig Jahren letztes Mal hier war, sind Antonios Eltern.
Auch Antonios Ehefrau Rosamaria, die damals 25 war, hätte ich mühelos auf der Straße wiedererkannt, trotz der angegrauten Haare. Die Töchter Filomena und Teresa, die beide noch zu Hause wohnen, waren sieben und fünf. Tags fährt mich Antonio einige Stunden in der Stadt und Umgebung herum, von Verwandten, Freunden und Bekannten zu Verwandten, Freunden und Bekannten. Die übrige Zeit ruht er sich aus. Vor sechs Jahren wurde Antonio ein faustgroßes Geschwür aus dem Hals entfernt, auf der linken Seite, wo einst die linke Mandel war. Mitten durch die Unterlippe und das Kinn haben sie ihm den Kopf aufgeschnitten, dann weiter zwischen Kehle und Unterkiefer bis hinters Ohr und, von oben hinunter bis in die Achselhöhle dringend, den Krebsherd ausgeräumt. Anschließend wurde er bestrahlt und einer Chemotherapie unterzogen, zweimal drei Monate lang. Die Krankheit konnte, ein Wunder, sagt Antonio, gestoppt werden, aber er geht keiner geregelten Arbeit mehr nach. Er macht Kommissionen und chauffiert die Familie durch die Stadt, seinen 15jährigen Sohn Giovanni Battista zur Schule und die Tochter Filomena zur Arbeit. Doch anders als bei meinen Besuchen in den siebziger und frühen achtziger Jahren bin ich nicht mehr ständig in Begleitung, sondern alleine unterwegs, oft zu Fuß, und das in Italien, wo man bekanntlich mit dem Auto aufs Klo geht. In meinem Zimmer oben, unter dem Dach von Antonios Haus, habe ich Zeit, meine Notizen zu ordnen und einen Blick zu werfen in ein paar neuere Bücher über die Geschichte der Sila, der Hochebene, die sich zwischen Cosenza und Crotone, im Herzen Kalabriens, auf einer Höhe von 1000 bis 1300 Meter über Meer gegen vierzig Kilometer dahinzieht, durchsetzt von Bergzügen mit Gipfeln von bis zu 1900 Meter Höhe.
Ich hatte Antonio 1971 kennen gelernt, zu Hause in Arosa, wo ich, achtzehnjährig, in den Sommerferien auf der Baustelle das Geld für die Fahrschule und meine ersten Reisen verdienen ging. In der ersten Stunde hieß Antonio mich willkommen – mit ein paar Brocken Hochdeutsch, die er aus dem großen Kanton mitgebracht hatte. Fünf Jahre zuvor hatte er, damals noch in seiner Qualifikation des diplomierten Drehers, eineinhalb Jahre in Deutschland gearbeitet. Schon in der ersten Woche, es gab kein Entkommen, aß ich abends kalabresische Pastasciutta in der Wohnung, die Antonio mit drei Landsmännern teilte. Ich staunte, mich zwischen diesen veränderten und doch immer noch vertrauten Wänden im Haus Lorez wiederzufinden, wo ich mich drei Jahre zuvor regelmäßig zu Besuch bei meinem Freund Lászlo aufgehalten hatte. Die ungarische Flüchtlingsfamilie führte zwar noch den Lebensmittelladen unten im Haus, war aber inzwischen aus dem Abbruchobjekt weggezogen, so dass sie nun den süditalienischen Gastarbeitern nicht mehr nur die Spaghetti und den Wein verkaufte, sondern zudem ihre ehemalige Wohnung zimmerweise untervermietete. Die Tischrunde erweiterten zwei weitere Arbeitskollegen, die nicht im Haus wohnten, doch alle sechs waren sie entweder, wie Antonio, aus San Giovanni in Fiore oder aus dem Nachbardorf Castelsilano. Ich hatte noch nie zuvor von San Giovanni in Fiore gehört, der berühmten Stadt. Questo più grosso centro silano wird sie von ihren einheimischen Journalisten gerne geheißen und als paese-metaforo della Calabria, als ein Inbegriff Kalabriens, herausgehoben. 1972, im Jahr vor meiner ersten Reise in die Sila, erklärte Außenminister Aldo Moro bei einem Besuch, noch nirgends, wo immer er sich im Ausland aufgehalten habe, hätten unter den Emigranten, die ihn stets begrüßen kämen, die San Giovannesi gefehlt. Ein Wunder konnte es demnach nicht gewesen sein, wenn es sich ausgerechnet um Abgesandte dieser Hauptstadt der kalabresischen Emigration handelte, als ich zum ersten Mal mit italienischen Gastarbeitern näher bekannt wurde – vom Großonkel Stefano abgesehen, der vor fünfzig Jahren bereits in unser Bündner Bergtal gekommen war, zu einer Zeit, als man noch aus Italiens hohem Norden, aus Bergamo und aus Chiavenna, in die Schweiz auswanderte.
Viel Zeit verbrachte ich nicht auf der Baustelle, wo man mich, den Gymnasiasten und Sohn eines der beiden Architekten im Dorf, als Arbeitskraft nicht ganz für voll nahm, statt dessen auch tagsüber mit kalabresischen Leckerbissen verwöhnte. Bei kaltem Wetter ließ man mich vielleicht nach dem Feuer schauen, wo alle sich die Hände wärmen kamen. Dreimal drei oder vier Wochen waren es, und schon im zweiten Sommer war Antonio befördert worden und hoch oben im Kranhäuschen verschwunden, so dass ich unten auf der Erde mit der Gesellschaft Rosarios vorliebnehmen musste, der ständig mit gespitzten Ohren herumging, dem Vogelgezwitscher in den Tannen lauschend, wo er auf Hörweite die Nester alle genau zu lokalisieren wusste, und dreimal am Vormittag und dreimal am Nachmittag mit dem Grinsen eines Schuljungen, der hinterm Haus zur Demonstration seiner Mannbarkeit die Hosen herunterlässt, mich einlud: «Vieni! Andiamo a prendercili, gli üccellini» – komm! gehen wir sie uns holen, die Vögelchen –, «sono molto buoni!» I parienti su li rienti, sagt das Sprichwort in der Sila, die nächsten Verwandten sind Zähne.
Die Freundschaft mit Antonio hielt, obwohl ich bald mein Taschengeld im Winter, als Hilfsskilehrer, verdienen ging. Ich aß im Haus Lorez, auch wenn ich aus Chur, wo ich zur Schule ging, am Wochenende nach Arosa kam, und eineinhalb Jahre später war es so weit, dass ich meine erste von bisher vier Reisen nach San Giovanni in Fiore antrat.
Die ersten zwanzig Stunden Bahnfahrt entsprachen den Erwartungen. Ich war abends in Bellinzona, eine Stunde vor der Schweizer Grenze, zugestiegen, und mein reservierter Platz im Waggon Stuttgart-Reggio war bereits besetzt; also saßen wir zu neunt im Achterabteil. Dann, nach dem Umsteigen in Marina di Páola, fing Kalabrien an, meine Vorstellungen von Süditalien zu korrigieren. Antonio, der mich aus Arosa, einer von Europas höchstgelegenen Gemeinden, kannte, wird es nicht für nötig gehalten haben, mir auseinanderzusetzen, was eine Bergwelt ist und dass es das auch anderswo gab. Kaum hatte sie sich von der Küste abgewandt, ging die Diesellok auf Zahnradbetrieb, mittels dessen sie auf kürzester Distanz die gut 400 Höhenmeter hinauf zum Tunnel überwand, durch den sie unter dem 979 Meter hohen Passo Crocetta hindurch die kurze Schmalspurkombination glücklich nach der Provinzhauptstadt Cosenza brachte. Fahrzeit für die nicht ganz 40 Kilometer: rund eineinhalb Stunden. An anderen Tagen, wenn die Antriebskraft nicht reichte, gingen die Passagiere zu Fuß neben der Bahn her. 'E fare 'u passu pè quantu tieni 'a gamba, sagt in der Sila das Sprichwort, mach keine längeren Schritte, als du Beine hast. Erst 1987 sollte Italiens Staatsbahn FS (fiducia e sicurezza, wie der Volksmund sagt) auf Normalspur ins Innere Kalabriens vordringen, durch die neue Galleria Páola-Cosenza, die mit 16 Kilometern den Schweizer Gotthardbahntunnel um einen Kilometer Länge übertrifft.
Viele der Heimreisenden wurden jetzt doch ungeduldig, es war später Nachmittag, vier Uhr, fünf Uhr, und der Zug nach San Giovanni, hieß es, fahre erst um sieben Uhr. Außerdem wussten sie mehr über dieses Verkehrsmittel als ich. Meinerseits ließ ich mich nicht erweichen, für eine letzte gute Stunde Autofahrt mit wenig Geld ein Taxi mitzufinanzieren. Nicht umsonst hatte ich ein Bahnbillett bis nach San Giovanni in Fiore gekauft, und bis heute bin ich stolz, questo più grosso centro silano noch im Zug erreicht zu haben. Die Bahn, die den Verkehr 1997 ganz einstellte, war schon damals, 1973, in der Krise. Die Società italiana strade ferrate del Mediterraneo, kürzer auch als Società ferroviaria mediterranea aktenkundig, hatte das visionäre Projekt dieser Schmalspurbahn Cosenza-Crotone 1911 in Auftrag gegeben – exakt zur Zeit, als im Schanfigg energisch an der Chur-Arosa-Bahn gebaut wurde. 1922 konnte ein erstes kurzes Stück in Betrieb genommen werden, ehe neun Jahre später die Bahn auf 1272 Meter über Meer in Camigliatello Silano ihren Kulminationspunkt erreichte. Erst 1949 wurde weitergebaut, und 1956 erreichte der Zug bei der Jungfernfahrt den Kilometerstein 67: San Giovanni in Fiore Stazione.
Es war kurz nach zehn Uhr an diesem Märzabend und bitter kalt, als ich nach gut drei Stunden Fahrt ab Cosenza und Aufenthalten in circa zwei Dutzend Bahnhöfen das Ziel erreichte. Bei Camigliatello hatten, wenn das Schmalspurgleis den Nadelwald, der die Sila zu großen Teilen bedeckt, für einen kurzen Abschnitt verließ, die Felder noch unter einer robusten Schneedecke gelegen. Auch hier in der Stadt lag da und dort ein harter schmutziger Schneerest am Straßenrand. In gewisser Hinsicht fühlte ich mich hier Graubünden stets näher als etwa in Mailand, und dabei würde es bleiben, noch jetzt bei diesem Besuch im Frühsommer, wenn der Ginster blüht und in den Hügeln rund um San Giovanni die entwaldeten Partien leuchtend heraustreten, kompromisslos gelb wie sonst in der Landschaft nur Rapsfelder. Einige Ausläufer dieser Pracht sind in die Steilhänge der Stadt vorgedrungen, wo die Häuser aufeinander zu stehen scheinen und nur die gelben Ginstertupfer zwischen vereinzelten Gruppen hoher Tannen in den felsdurchsetzten Abbrüchen das Labyrinth der Häuser etwas auflockern.
Wenn es auch keine Stadt des Fußballs ist, noch des konventionellen Fahrrads, so ist San Giovanni nichtsdestoweniger eine italienische Stadt. Auf den verwinkelten Stiegen, die auf einem knappen Kilometer Höhendifferenzen von 200 Meter überwinden, wird man unfehlbar innehalten, über die Ziegeldächer hinunter zu Tal blicken und sich in einem Augenblick konzentrierter Ruhe – wie hieß es in dem dünnen Fremdenführer, der im kleinen Souvenirladen der Abtei auflag – der «tiefen Spiritualität des Ortes» versichern. Im späten 12. Jahrhundert war der Zisterzienser-Abt Joachim von Fiore aus dem Kloster Corazzo bei Cosenza in die Sila hinaufgestiegen. Nachdem er einen Rückruf des zisterziensischen Generalkapitels missachtet hatte, gründete der entlaufene Mönch 1189 die Abtei von San Giovanni, benannt nach Johannes dem Täufer, Giovanni Battista, und verkündete die Heraufkunft des dritten Zeitalters, nach den Zeitaltern des Vaters und des Sohnes nunmehr jenes des Heiligen Geistes. Joachim und seine Mönchsgefährten, künftig bekannt als die Florenser, machten sich bald über die Region hinaus einen Namen, und 1989, zum achthundertsten Geburtstag der Abtei, fand sich Papst Johannes Paul II. in San Giovanni in Fiore ein. Die vita contemplativa, der sich die Gründer der Stadt verschrieben, musste eine nachhaltige Wirkung hinterlassen. Die Bars machen alle kurz nach zehn Uhr zu, und zwar spätestens. Aber nicht nur die Nacht ist lang in San Giovanni. Wenige San Giovannesi haben eine Arbeit, um zu diesem Punkt zunächst nur so viel anzumerken, und über der Stadt mit ihrem gedämpften Ton, als stünde sie zur Hälfte leer, liegt kompakt und solide etwas von der Getragenheit eines katholischen Feiertags.
Mag sein, dass es auch daher kommt, wenn der Gedanke oft in der Ferne weilt. Nicht erst Antonio, schon sein Großvater war weggegangen, um, wie Antonio es von sich sagte, etwas Geld zu sparen und ein Haus zu bauen. «Si nasce con l'idea di andare in America», zitiert eine Studie von 1910 Domenico Lopez, den Consigliere provinciale aus San Giovanni in Fiore, man kommt zur Welt mit der Idee, nach Amerika zu gehen. «Das ist ein Infekt, dem keiner widersteht», und «ohne Emigration jedenfalls», ergänzt das Bild drastisch Bürgermeister Giovanni Foglia in einem Zeitungsinterview von 1907, «hätten wir hier längst den offenen Aufstand.» Zwischen 1890 und 1914 fuhren – nach offiziellen Zahlen, die als entschieden zu tief angesehen werden – 5059 San Giovannesi über den Atlantik. Einige blieben in den USA, viele kehrten nach drei, vier Jahren zurück mit 4000 bis 6000 Lire, was heute vielleicht 25 bis 35 Millionen oder 20 000 bis 30 000 Schweizer Franken entspricht. In den unteren Lagen der Stadt, nicht weit von Joachims Abtei, führen noch einige Gassen – das Kopfsteinpflaster weist den Weg – zwischen Reihenhäusern hindurch, wie sie um die vorletzte Jahrhundertwende mit Geld aus Amerika gebaut wurden.
Der amerikanische Kern von Antonios Haus war bescheiden, ein Geschoß mit zwei Räumen. Noch 1960 wohnte er da mit seinen Eltern, vier Geschwistern und Großeltern, neun Personen auf insgesamt 35 bis 40 Quadratmeter. Der Vater war Landarbeiter, erst im Taglohn, dann eingestellt bei einem größeren Landwirtschaftsbetrieb; die Mutter wusch unten am Fluss. Auch ihre Geschwister waren in Scharen ausgewandert: Mutter Filomena hat drei Brüder in Frankreich mit insgesamt sechzehn Nachkommen, unter ihnen ein Arzt und ein Professor, zwei weitere Brüder in der Schweiz mit acht Nachkommen, alle entweder in Luzern oder in Frick zu Hause. Vater Giambattista hat einen Bruder mit drei Nachkommen in Frankreich. Natürlich sind auch ein Bruder von Antonios Ehefrau Rosamaria und zwei ihrer Cousins in der Schweiz, eine Tante in den Vereinigten Staaten.
Antonios sechs Onkel waren nach dem Krieg ausgezogen, als die Hoffnungen auf einen Aufschwung sich in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren zerschlugen. Vielleicht sind von den Arbeitsemigranten jener ersten Nachkriegsgeneration weniger zurückgekehrt als von den Bauarbeiterscharen der sechziger und siebziger Jahre. Doch wie viele sind von diesen zurückgekehrt?
Man darf sich nicht täuschen lassen durch die wiederholte Beobachtung, dass es in Kalabrien offenbar ausschließlich Rückkehrer gibt. Dessen vergewissert man sich am ersten Tag, im Albergo Aerhotel Phelipe gleich außerhalb des Flughafens von Lamezia Terme fängt es an. Zwar ist hier von Schweiz fast noch weniger festzustellen als oben in der Sila. In Lamezia Terme hat man das Alpenland weit hinter sich gelassen, in einer tief versunkenen Zeit, scheint es. Die Glühbirne zum Beispiel ist hier überwunden, falls sie nicht gleich übersprungen wurde, diese Blume des 20. Jahrhunderts, wie Mies van der Rohe sie vor langer Zeit einst euphorisch bezeichnet hatte. Aus seinem Inneren heraus und um sich herum aus einem ganzen Kranz von Kandelabern erstrahlt das Aerhotel Phelipe in unvermischtem Halogen, von weitem anzusehen wie die nachglühende Ruine einer ausgebrannten Chemiefabrik. Oder vielleicht ist es nur ein Supermarkt. Seit fünfzehn Jahren war ich nicht richtig in Italien gewesen, außer ein paar Kilometer von der Schweizer Grenze am Lago Maggiore, und ich weiß nicht so genau, worauf ich gefasst war, obschon ich in der Zwischenzeit irgendwo gelesen oder gehört hatte, Italien – das sei die Avantgarde des Schlimmsten. Aber ganz anders steht es um die Menschen. Gewiss doch war der Concierge, mit dem ich im Minibus des Hotels in der Stadt unterwegs bin, erst vorletztes Jahr zum letzten Mal in der Schweiz. Er ist aus S. Pietro a Máida, einem kleinen Ort zwanzig Kilometer südlich von Lamezia, und von dort, sagt er, gingen alle immer nach Dietikon bei Zürich, wo fast jede Familie heute noch Verwandte habe. «Die hier ist 1974 im Kanton Luzern geboren», hat schon am Abend zuvor am Tresen der Bar gleich nebenan der Inhaber gesagt, «und die da drüben 1976. In Hergiswil waren wir», am Vierwaldstättersee.
Diese Art von Schweizer Präsenz in Kalabrien kann sich weiterhin nur verdichten, nicht nur in Castelsilano, wo ich zwei Tage später mit Antonio die Familie Domenicos besuche, seines besten Freundes aus den Aroser Jahren. Nicht nur Domenicos Vater Peppino und Domenicos Bruder Peppino, nicht nur Gabriele, Salvatore, Franco und Francos Vater Domenico, die wir in dem Dorf neun Kilometer von San Giovanni besuchen, haben in Arosa gearbeitet, manche von ihnen zehn Jahre und länger. Nein, auch die älteren Männer, die gegenüber den Putz ausbessern, als wir aus dem Haus von Domenicos Eltern treten – ja, alle drei, und falls in Castelsilano ein Mann nicht in Arosa auf dem Bau gewesen sein sollte, dann in Wettingen oder in Baden.
Doch dass offenbar so gut wie alle Silani und überhaupt die meisten Calabresi irgendwann ihre Jahre in der Schweiz abverdient haben, bedeutet bis heute nicht, dass alle, die auszogen, zurückkehrten. Gleich am Ortseingang hat uns eine Frau angehalten, sie habe gehört, in der Gegend seien Inglesi gesehen worden, ausgerechnet Engländer, die ein Haus kaufen wollten. Wir waren leider nicht die Interessenten, noch hatten wir von ihnen gehört, und in der Tat, wer außer Engländern, diesem Volk von Exzentrikern, hätte ihr in dieser Frage weiterhelfen können. In Castelsilano steht nicht nur Domenicos Haus leer, sondern das daneben und die drei gegenüber genauso, auch wenn nicht alle Besitzer in Arosa, Wettingen oder in Baden sind. Oder, wie ausnahmsweise Domenico, im Kanton St. Gallen, so habe ich gehört. Einer von ihnen ist in Rom, einer in Turin, und es mag sein, dass einer gerne von seiner baldigen Rückkehr spricht.
Es ist eine lange Geschichte. Was auch immer jeweils zu seiner Zeit an Fortschritt, an Visionen und Projekten von Entwicklung und Aufstieg das kalabresische Hochland der Sila erreichte: Statt die wirtschaftlichen Voraussetzungen für den Anschluss an eine westeuropäische Gegenwart zu schaffen, brachte die Region nicht die erforderlichen Arbeitsplätze, sondern nur wieder einen neuen Schub von Arbeitskräften hervor, die aufgrund ihrer Qualifikation fortan wenn überhaupt, dann mehr oder weniger fern von der Heimat gefragt waren. Carbone bianco hieß nach dem Ersten Weltkrieg das Wort der leuchtenden Zukunft – die weiße Kohle oder das hydroelektrische Potenzial der Sila, einer der niederschlagsreichsten Gegenden Italiens. An das ehrgeizige, fünf künstliche Seen mit einem Gesamtvolumen von 170 Millionen Kubikmeter umfassende Großprojekt knüpften sich hochfliegende Hoffnungen einer lokalen Industrialisierung. Doch das Vorhaben stieß zugleich auf heftigen Widerstand von Politikern, die im Namen der Bauernschaft auftraten und die Gemeinden der Sila schon von den auswärtigen Elektrizitätsgesellschaften um fabelhafte Gewinne betrogen sahen. In den zwanziger Jahren wurden immerhin die beiden Dämme des Lago Arvo und des Lago Ampollino an den gleichnamigen Zuflüssen des Neto realisiert, und über fast ein Jahrzehnt beschäftigten die Baustellen, obwohl einige frühzeitig wieder geschlossen wurden, im Mittel etwa 2000, zu Spitzenzeiten gegen 4000 Arbeitskräfte, darunter gut über 1000 aus San Giovanni in Fiore. Nur wenige von ihnen sollten in die Landwirtschaft zurückkehren, die große Mehrheit zog aus nach Norden und in die Großstädte.
Der Weg aus den historischen Tiefen der Bourbonen-Herrschaft über Neapel und Sizilien war weit für die Sila und ihre città-paese San Giovanni. Hundert Meter am Hang über Antonios amerikanisch-schweizerischem Haus ducken die Häuser sich um jenen mächtigen Bruchsteinkubus, den offenbar niemand als Monument zu erhalten gedenkt, dessen Sturz aber noch heute bevorsteht: den Palast des Barons. An das spanisch-französische Vorleben erinnert auch San Giovannis Telefonbuch, wo Familiennamen wie Lopez oder Oliverio zu den Spitzenreitern gehören. Trotz Eisenbahn, hydroelektrischen Kraftwerken und trotz einer städtischen Wasserversorgung, die auf ein erstes Netz von 1908 zurückgeht, dauerte das 19. Jahrhundert mit seinem feudalen Grundbesitz bis über den Zweiten Weltkrieg hinaus. Erst dessen Ende brachte die überfällige umfassende Landreform. Doch staatlich geförderte Infrastrukturprogramme zogen, statt den Agrarsektor nachhaltig zu revitalisieren, nur wiederum Arbeitskräfte ab und schulten sie um. Die Landwirtschaft dieser Bergwelt, das weltliche Vermächtnis Joachims und der Florenser Spiritualität und Enthaltsamkeit, blieb ein kommerziell hoffnungsloser Fall. Während die Produktion auf ein Niveau familiären Eigenkonsums sank, behielt sie wie manchenorts in Europa eine Bedeutung nur mehr für die Landschaftspflege. Ein nennenswertes wirtschaftliches Potenzial boten allein die umfangreichen Waldbestände der Sila, und das einzige Geschäft, das in der Nachkriegszeit leidlich florierte, war Holz.
Ogni spicchju è spacchju, sagt das Sprichwort der Sila, jede kleine Hilfe ist gut, und die Lösung, die anderswo winkt, entfernt sich immerhin vom Problem, das sie hier zurücklässt; und wenn sie es nicht aus der Welt schafft, so verändert sie es immerhin. 1911 hatte San Giovanni etwas über 16 000 Einwohner; vierzig Jahre später waren es gut 18 000. Nachdem die Wohnbevölkerung schon seit 1951 leicht rückläufig gewesen war, beschleunigte sich die Emigration in den frühen sechziger Jahren und erreichte in den Jahren 1967 und 1972 Höhepunkte von jeweils gegen 50 auf 1000 Einwohner, zur großen Mehrheit angehende Familienväter. Während die Stadt von 1961 bis 1971 sieben Prozent ihrer Bevölkerung einbüßte, zeichnete sich bereits eine damit zusammenhängende Entwicklung ab: Im selben Zeitraum wuchs in San Giovanni der Wohnraum um 22 Prozent.
Mit dem Geld, das zu sparen sie alle ausgezogen waren, baute nun daheim in der Sila ein jeder sein Haus. Das Schweizer Saisonnierstatut war dieser Betätigung besonders förderlich, da die allermeisten kalabresischen Gastarbeiter Jahr für Jahr zwangsweise für drei, vier Monate nach Hause zurückkehrten, wo jeder seine eigene Baustelle eröffnete. Fünf, zehn, fünfzehn, zwanzig Jahre lang bauten sie an ihrem Haus, eines größer als das andere, ein Stockwerk für jeden Sohn, dazu einige Stockwerke zum Vermieten. Und wenn sie nicht weiterbauen, so sind allzu viele damit jedenfalls bis heute nicht fertig geworden und werden damit vielleicht niemals fertig werden. Schon in den fünfziger und sechziger Jahren hatte als einziger Wirtschaftszweig der Bausektor einen rasanten Zuwachs zu verzeichnen: 1951-1961 um 127 Prozent und 1961-1971 nochmals um 40 Prozent. Die Zahl der Wohnungen wuchs unentwegt weiter: 1971-1981 um 45 Prozent, 1981-1991 um weitere 13 Prozent, nach offiziellen Angaben wiederum, die allgemein für zu tief erachtet werden. Im selben Zeitraum stieg die Wohnbevölkerung Ende der Siebziger noch einmal, erreichte 1981 einen Höhepunkt von rund 20 000, ehe sie wieder zu sinken begann. Heute beziffert sie der Anagrafe, das italienische Einwohnermeldeamt, mit 18 700, und unterdessen bietet die Stadt, so versichert Stadtrat Franco Laratta, Mitglied zugleich der Regierung der Provinz Cosenza, Wohnraum für mindestens 50 000 bis 60 000 Personen. In gewissen Vierteln, Antonio hat mich gestern durch Ferrantiellu geführt, sucht man ganze Straßenzüge vergeblich nach einem Zeichen von Leben ab, und hätte ich nicht nur Augen für das Hotel Kursaal gehabt, wäre es mir schon bei der Ankunft aufgefallen, dass auch unter den Mehrfamilienhäusern oben an der Via Panoramica etliche leer stehen. «Gänzlich außerhalb des Marktes», schreibt Giuseppe De Luca, Urbanist aus San Giovanni, eine «enorme überflüssige Betonanmassung», die sich den Berg hochschiebt, über den Stadtrand hinauswuchert und in der Umgebung Metastasen bildet. «Erbaut ohne jede Vorstellung von Raumplanung» und, so De Luca gestützt auf eine amtliche Bestandesaufnahme von 1991, 43 Prozent aller Einheiten ohne Bewilligung.
Im Sommer 2001 sind beim Anagrafe degli italiani residenti al estero 6157 San Giovannesi gemeldet, 2012 wohnhaft in der Schweiz, 1422 in Kanada, 1170 in Frankreich, 480 in Deutschland, 363 in den USA und so weiter. 1961 waren es 7350, 1971 9950. Nicht durch Rückkehr sind es weniger geworden, wie die sinkende Einwohnerzahl der Stadt zeigt, sondern durch Assimilation im Ausland. Laut Franco Laratta leben in Wahrheit mindestens ebenso viele San Giovannesi im Ausland wie in der Sila, und die Frau, die mir im Municipio die soeben angeführten Zahlen gegeben hat, tat es nicht, ohne mir dabei die Adressen wenigstens einiger ihrer Verwandten in der Schweiz aufzuschreiben.
Im Ufficio del collocamento, dem Arbeitsamt von San Giovanni, sind 5513 Arbeitslose gemeldet, 2380 männlich, 3133 weiblich. Man rechne: Nach den Angaben des offiziellen statistischen Amts Istat von 1991 beträgt der aktive Anteil an Kalabriens Gesamtbevölkerung 39 Prozent, für San Giovanni sogar nur 38 Prozent. Daraus ergibt sich für die Stadt eine Zahl von 7106 Einwohner im arbeitsfähigen Alter. Davon 5513 arbeitslos: das wären 77,6 Prozent. Laratta rät zu etwas Zurückhaltung, manche sind als arbeitslos gemeldet, die arbeiten, mindestens teilweise, oder studieren. Vielleicht sind es nur 50 Prozent? Die Löhne in San Giovanni sprechen eine eigene Sprache: Antonios 27jährige Tochter Filomena arbeitet ganztags als Buchhalterin und bezieht – in der Europäischen Union notabene – ein Monatsgehalt von 500 000 Lire, das sind knapp 400 Schweizer Franken oder 500 Deutsche Mark, gleich viel wie Luigis Tochter in ihrer Vollzeitstelle an der Kasse des Supermarkts an der Straße nach Castelsilano verdient. Auch Luigi war in Arosa, bevor er weiter nach Norden zog. Die Familie lebt in Castelsilano, er mittlerweile seit 25 Jahren in Deutschland.
San Giovanni, questo più grosso centro silano, ist, vom Ginster abgesehen, zwar keine Augenweide, aber die Situation in diesem luogo-laboratorio der regionalen Ökonomie, nimmt sich für Rückkehrer vielleicht ein klein wenig freundlicher aus als in den meisten der umliegenden Dörfer. In den zehn Jahren von 1961 bis 1971 erhöhte sich dort die Zahl der Mittelschulen und Berufsschulen von null auf acht, und seitdem entwickelte sich die Bildungshauptstadt der Sila immerhin auch zu deren administrativem Zen-trum. Zur agrarischen Naturalienwirtschaft kommen außerdem die Erfordernisse der italienischen Mobilität hinzu, das Auto!! 'U riavulu un tena piecure e binna lana, sagt in der Sila das Sprichwort, der Teufel hat keine Schafe und verkauft doch Wolle. Beinahe in jeder Familie, hat man den Eindruck, gibt es wenigstens einen Automechaniker mit eigener Werkstadt, und natürlich gehört dazu Antonios jüngerer Bruder Costantino. In diesem einen Punkt fällt die Sila nicht aus dem Rahmen der westeuropäischen Volkswirtschaften, auch in Deutschland, las ich kürzlich, lebt einer von sechs oder sieben Beschäftigten vom Auto. Eine entsprechend prominente Stelle nehmen unter den Geschäften diejenigen ein, über denen Autoricambi steht – Ersatzteile. Antonio behauptet zwar, in San Giovanni gebe es davon nur vier, aber schon in der folgenden halben Stunde zähle ich mehr, und noch immer würde ich davon ausgehen, dass sich überall binnen fünf Gehminuten eines findet. Vergessen wir nicht die virtuelle Mobilität, zumindest die passive der Television, und Antonio selber installierte nach seiner Rückkehr aus der Schweiz zwanzig Jahre lang Fernsehgeräte.
Was jedoch einer in seiner Freizeit tut, ist mir bis heute rätselhaft geblieben, es sei denn, er repariert gerade sein Auto – oder er baut womöglich an seinem Haus! In den Monaten Juli und August, gemeinsam mit seinem 15jährigen Sohn Battista, der es lernen muss, baut auch Antonio weiter an seinem Sommerhaus an der Küste unten, bei Isola Capo Rizzuto, auf dem Land seiner Ehefrau Rosamaria, das ihr Großvater einst als Entschädigung für sein durch den Damm am Arvo überflutete Land erhalten hatte. Drei Kinder, vier Stockwerke. Ist das Haus aber doch einmal fertig gebaut, und das in einem Dorf wie Castelsilano mit seinen 1500 Einwohnern, und, wenn es hoch kommt, noch 100 Schulkindern? Die mittlere Größe der kalabresischen Familie liegt heute nicht mehr wesentlich über dem italienischen Durchschnitt, wohl aber der Anteil der Betagten.
Ein ausgeprägtes Gefühl für Heimat oder wenigstens für die Herkunft entsteht, wie man oft hört, nicht unbedingt im ungestörten Dasein nahe den Wurzeln, sondern im Gegenteil im Exil, in der Ferne, die in vielen Fällen die Fremde genannt wird. Antonios Freund Domenico war zwölf, als er 1962 mit seinem Vater nach Mailand zog und sogleich auf dem Bau als Handlanger zu arbeiten anfing. Drei Jahre später war er nochmals für ein Jahr zu Hause, bevor er 1967 zum ersten Mal in der Chur-Arosa-Bahn die 1200 Höhenmeter überwand und, aus dem Zug steigend, auf den Obersee hinausblickte. Zehn Jahre lang – unterbrochen nur durch seinen Militärdienst 1971/72 – kehrte er jedes Jahr als Saisonnier nach Arosa zurück, sparte Geld, um sich in Castelsilano ein Haus zu bauen, bis er 1977 die permanente Aufenthaltsbewilligung erhielt und im Jahr darauf Brigitta heiratete. Sie war sechzehn gewesen, als er sie drei Jahre zuvor kennen gelernt hatte, und da sie noch immer nicht volljährig war, hatten die Eltern von Amts wegen ihr Einverständnis zu geben. Vorerst blieben sie in Arosa, und zwei Jahre lang fuhr Domenico jeden Samstag morgens um vier Uhr los, nach Gordola in die Südschweiz, wo er die Polierschule absolvierte. Abends um zehn war er zurück. 1980 zog die Familie um nach Sirnach, wo Brigitta aufgewachsen und zur Schule gegangen war.
Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute da. Tatsächlich, eine Nachforschung kann es nur bestätigen. Domenico holt mich in Sirnach am Bahnhof ab. Zuerst fahren wir ins Centro del Comitato scuola e famiglia, trinken zuerst den caffè und dann einen Campari Soda. Kein Zweifel, Calabria ist da, und Domenico selber war im elf Mitglieder zählenden Comitato, der staatlichen Emigrantenorganisation, die jährlich ihre assemblea, die Vollversammlung, abhält und dabei auf die Präsenz von fünfzig bis hundert Landsleuten rechnen darf. Das Comitato bietet die Befana auf, die alte Hexe, die immer am Dreikönigstag Italiens Kindern die Geschenke bringt, organisiert außerdem jährlich einen Schülerausflug und, nicht zu vergessen, das Festival degli stonati, der Verstimmten oder Falschsingenden, wo den Preis gewinnt, wer von allen am falschesten singt. Da gibt es nicht nur die squadra «Stella d'Italia», die in der Ostschweiz in der dritten Liga spielt, am lokalen Grümpelturnier beteiligen sich jedes Jahr 14 bis 16 Mannschaften, aus Sirnach und Umgebung, aus der übrigen Schweiz hergereiste und regelmäßig auch eine oder zwei, die den Weg aus Italien unter die Räder genommen haben.
Wäre die Dauer des Lebens im Exil ein Gradmesser für die Stärke des erwähnten Gefühls für die ferne Heimat und der Sehnsucht nach dem verlorenen Zuhause, dann ist Domenico lange genug weg gewesen, um sich nach der Sila zurückzusehnen. Letztes Jahr hat er seinen Fünfzigsten gefeiert. Seit 38 Jahren arbeitet er, und bei der Arbeit, «das kannst du mir glauben», sagt er, «und du wirst es selber wissen, ist heute nichts mehr wie noch vor 15 Jahren. Heute hast du drei Männer, wofür du damals fünf hattest. Und zwar bei jedem Wetter!» Domenico ist einer von denen, die von der baldigen Rückkehr sprechen – in ein paar Jahren, nicht wahr. Seine Töchter Caterina und Isabella sind 23 und 19. Bald wird auch Isabella ausfliegen, und der Tag ist nicht mehr fern, da Domenicos Optionen nicht in erster Linie eine Frage des Geldes mehr sein werden. Bloß eben – trotz seiner vielen Berufe und obwohl er bereits im Garten seines Hauses in Sirnach Salat und Gemüse zieht: Was täte Domenico in Castelsilano, solange der Tag 24 Stunden hat? Wird er im Wald unterwegs sein mit seinem Bruder Peppino, der letztes Jahr achtzig Kilo Steinpilze sammelte? Oder einem Freund oder Verwandten ein Haus bauen helfen? Einen richtigen Maurer hat er in Castelsilano noch keinen gesehen – oder höchstens einen oder zwei. Er fände dies und das zu tun, da zweifelt er nicht. Trotzdem wetten Peppino und dessen Frau Gina, dass es Domenico – anders als die Engländer, die sein Haus kaufen wollen, falls es sie gibt – am östlichen Abhang der Sila mit Weitblick aufs Ionische Meer längstens drei, vier Monate aushielte.
Auch seiner Schweizer Ehefrau Brigitta ist die Frage nicht unbekannt, davon abgesehen, was sie selber in Castelsilano täte, nachdem sie zu Hause in Sirnach nicht nur gekocht und geputzt, sondern seit sechzehn Jahren wieder wie zuvor als kaufmännische Angestellte gearbeitet hat. Zudem weiß sie, wovon sie spricht. Sie hat schon einmal zwei Jahre in Castelsilano gelebt, 1982 bis 1984, 23jährig war sie, als sie ankamen, Caterina drei Jahre, Isabella drei Monate alt. So hielt sich dieLangeweile in Grenzen, obwohl Domenico, der in Libyen und Saudi-Arabien auf dem Bau arbeitete, sie bei seiner Familie zurückgelassen hatte. Caterina und Isabella werden schwerlich nach Castelsilano umziehen, obwohl sie jedes Jahr in den Ferien nach Kalabrien fahren und sich da sehr wohl fühlen, und heute würde Brigitta selbst nach Großmutterpflichten vergeblich Umschau halten. Die einheimische Jugend zieht aus, auch Peppinos älterer Sohn Pietro wird bald soweit sein, und Domenicos Schwester Filomena lebt mit ihrer Familie seit zwölf oder dreizehn Jahren in Deutschland.
Bei Antonio bin ich auf der Suche nach handfesten Indizien einer Schweizer Vergangenheit ohne Hilfe nicht fündig geworden. Die Kuckucksuhr entzog sich hinter der stets offen stehenden Küchentür meinem Blick, wogegen das Besteck und der Aschenbecher bei Antonios Eltern oder in der Garage das Werkzeug kaum als schweizerischer Herkunft zu identifizieren waren. Schon eher Frau Rosamarias Bügeleisen, Marke Jura. Was Antonio sonst aus der Schweiz mitgebracht hat? Die Pünktlichkeit und die Zuverlässigkeit, sagt die Tochter Teresa, aber schließlich hat sie ihn vor seiner Schweizer Zeit nicht gekannt, fügt sie lachend hinzu. In Domenicos leer stehendem Haus aber, durch das mich Peppino führt, ist – ja, doch – die Schweiz in Kalabrien endlich mit Händen zu greifen. Domenico, der schon einmal mit seiner Schweizer Familie nach Kalabrien zurückgekehrt ist, hat einen guten Teil der beweglichen Habe aus der Schweiz mitgebracht. Wird er also Sirnach, wo er ebenfalls im Eigenheim wohnt, weniger vermissen? Weniger als in Sirnach Castelsilano?
In seinem Haus an der Fischingerstraße kann ich keinen Einrichtungsgegenstand aus Kalabrien ausfindig machen, nur gerade eine kunststoffrustikale Flasche Lacrime Cristi. Aber Calabria liegt auf dem Teller, nicht nur in Gestalt der Pastasciutta mit dem pikanten Sugo, dessen Zubereitung mir einst im Haus Lorez in Arosa beigebracht wurde. Vergeblich habe ich nach dem Pergament gesucht, worauf Antonio und Domenico meine einschlägige Kompetenz bescheinigt haben. Die eingemachten Steinpilze liegen da, der capicollo und der vujiulu, die geliebten Speckstücke vom Nacken und Hals, und wenn er oder ein Zugewandter sie nicht aus Kalabrien mitgebracht haben, kauft Domenico sie in der Schweiz und behandelt sie selber. 'U russu vena do mussu, bestätigt es in der Sila das Sprichwort: Eine gute Gesundheit kommt vom guten Essen. Den Wein kauft er nicht zu Hause, aber doch jenseits der Grenze im Piemont.
Das ist allerdings bei weitem noch nicht alles! Hinter ihrem Teller sitzt Isabella und sagt, in hellem St. Galler Deutsch und blond fast wie die Mutter Brigitta, sie sei – jawohl! – eine Ausländerin, als wollte sie sich mit etwas Geringerem auf gar keinen Fall zufrieden geben. Aber ganz sicher sagt sie es lachend und hübsch wie fast nur eine Italienerin, und Brigitta bestätigt, im Gemüt sei Isabella wahrhaftig eine Italienerin, und Isabella selbst sagt, sie sei schließlich lange genug eine Spaghettifresserin geschimpft worden. Leider habe sie das sogar davon abgehalten, am Mittwochnachmittag in die Schule des Comitato zu gehen, den wöchentlichen italienischen Ergänzungsunterricht zu besuchen, den Emigrantenkinder mit der Terza media abschließen können, was einem Schweizer Sekundarschulabschluss entspricht. Erst während der Lehre, in der Berufsschule des Kaufmännischen Vereins, habe sie Italienisch schreiben gelernt, zuvor habe sie es kaum lesen können.
Wir Schweizer erinnern uns noch an die Italiener, allzu viel spüren wir nicht mehr von ihnen, und in der Pizzeria verstehen viele Kellner kein Italienisch mehr. Doch es muss sein, wie Isabella sagt, dass sie in der Schweiz noch immer anwesend sind, denn überall, wo sie sich aufhalte, spreche sie unter anderem Italienisch, tagtäglich, von klein auf bis heute, auch zu Hause natürlich, wenigstens wenn auch der Vater daheim ist, und vielleicht, flechte ich ein, ist ja in gewisser Weise bereits Brigitta eine Italienerin, und so abwegig erscheint mir das plötzlich nicht mehr bei ihrer so unkomplizierten, ganz offenen Art – ein Beweis immerhin, dass sie gründlich, ja fast mit Schweizer Gewissenhaftigkeit über die Schweiz hinausgesehen hat.
«Ich weiß wirklich nicht, wer ich bin», sagt Isabella, und das scheint sie nicht im mindesten zu stören, «wahrscheinlich eben eine Doppelbürgerin», fügt sie schulterzuckend an. «Aber die Italiener sind ja auch Leute, die sich anpassen», sagt sie, «nicht wie andere, die ständig an allem herumstänkern und an nichts in der Schweiz ein gutes Haar lassen können.» Sie habe kein solches Bedürfnis, und manchmal gehe ihr das auf die Nerven. Nicht dass sie an der Schweiz zu sehr hängt, bis jetzt jedenfalls, und wenn auch vielleicht nicht gerade in Castelsilano, so doch in einer der italienischen Städte würde sie jederzeit gerne arbeiten und leben, wenn sich dazu eine Gelegenheit ergibt.
Anders als Isabella erinnert sich Domenico noch an die Rechtsradikalen Schwarzenbach und Oehen, an ihre Überfremdungsinitiativen der siebziger Jahre und an die mühseligen Prozeduren am Schweizer Zoll von Chiasso, wo die Italiener aus dem Zug geholt wurden, die Reisedokumente abzugeben, sich auszuziehen und einer medizinischen Untersuchung zu unterziehen hatten, bevor man sie eventuell weiterreisen ließ. Doch nicht Schweizer Fremdenfeindlichkeit ist es, was seinen Traum von der Sila wachhält. Warum könnte dabei nicht, im Gegenteil, sogar die eine oder andere Schweizer Inspiration eine Rolle spielen? Auch Antonio hat mich schon am ersten Tag zur höchsten Erhebung von San Giovanni in Fiore hinaufgefahren, vorbei an der Ruine eines städtischen Hallenbads, in dessen Fünfzigmeterbecken niemals Wasser eingelassen wurde. Zuoberst steht die Scuola Florens, eine gastronomische Fachschule – zur lokalen Nachwuchsförderung einstweilen für das Hotel Edelweiß zwischen den Chalets von Camigliatello, der zeitlosen Alpenarchitektur auf dem Dach Kalabriens. Man braucht nicht immer von den Skilifts dort zu reden, winkt Domenico ab. Früher seien im Sommer die Leute aus Crotone nach Castelsilano heraufgekommen, sich für ein, zwei Monate ein Haus zu mieten und die Frische zu genießen. Vielleicht täten sie das heute noch, meint Domenico, wenn jemand nicht Preise machen wollte wie auf Capri und etwas zu bieten hätte. Gäbe es eine schönere Landschaft als die Sila – für Ausflüge etwa auf dem Pferderücken?
Silani – nicht nur Schweizer – glauben an ihre Berge und daran, dass diese gegenüber der Küste unwägbare Vorzüge zu bieten haben, für die Gesundheit und Frische von Leib und Seele. Sogar die Mafia ist weiter weg als in den großen Städten unten, obwohl man auch in San Giovanni hie und da etwas davon zu spüren bekommt. Rosarios Schwiegervater, den schon bei meinem letzten Besuch vor zwanzig Jahren alle nur u mafiusu nannten, ist letztes Jahr umgebracht worden. 'U pisciu puzza da capu, sagt das Sprichwort in der Sila, die Fäulnis kommt von oben, vom Capo der Familie – und bei der Mafia in besonderem Maß. Noch in San Giovanni, der Stadt der Florenser, ist das Thema Mafia gut genug, dem kalabresischen Nationalismus auf den Zahn zu fühlen. Kalabresen, zumal vom Hochland, reden nicht gewohnheitsmäßig schlecht von sich selber; aber auch nicht gut. Von sich viel Aufhebens machen passt nicht zu ihrer Art. Doch äußert man den Eindruck, dass sie nicht Leute sind, die ihre beträchtlichen Probleme jederzeit tatkräftig zu vermehren suchen, dann stimmen sie nickend zu. Die Mafia aber, die in Kalabrien N'Drangheta heißt – Calabresi sono bravi tutti quanti, hat in Lamezia Terme ein Barmann des Aerhotel Phelipe versichert, und die Mafia sei nicht halb so schlimm wie in Sizilien drüben. Antonio ist nicht dieser Meinung, so mögen einige an der Küste unten reden, «beim Flughafen, wie du sagtest». Die Berge aber – geht von den Bergen, wie sie einen umgeben und einschließen, nicht ein Gefühl von Heimat aus? Zudem weiß man hier, was in der Sila das Sprichwort sagt: Cusciènzia e dinari 'un sai chine n'ari – ein Gewissen und Geld, wer hat das schon beides?