Die Zukunft des Gefängnisses

Von Georg Brunold, Zeitschrift du, 01.12.1999

Die Kriminalität nimmt weltweit zu, noch mehr die Verbrechensbekämpfung, was sich von deren Erfolgen aber leider nicht sagen lässt. Vier Ziele sind es, mit denen gemeinhin die Funktion der Freiheitsstrafe definiert wird: erstens Strafe, Wiedergutmachung, der Ausgleich, nach dem der Gerechtigkeitssinn verlangt, da es nicht angeht, wenn nur die Opfer von Verbrechen leiden, die Täter dagegen nicht; zweitens Resozialisierung, Rückführung in die Gesellschaft, drittens Prävention, die sogenannte «Abschreckung» potenzieller Straftäter, und viertens Schutz der Gesellschaft vor ihren gefährlichen Angehörigen. Vom Strafsystem unserer modernen Welt lässt sich nicht sagen, dass es auch nur eines dieser Ziele erreichen würde. Mit einer traurigen Verlässlichkeit verfehlt es sie alle. Kann das im Sinne der Einrichtung und ihres Erfinders sein?

Die Frage ist nicht rein rhetorisch zu verstehen. Wir halten unsere Gefängnisse für etwas Gegebenes. Offenkundig gehört es zum Menschendasein, dass gewisse Angehörige der Gattung gegen andere gewalttätig sind oder sich anderswie an ihnen vergehen, überall auf der Welt und zu allen Zeiten kam das vor, und die Gesellschaft sucht sich zu schützen, auch wenn sie nicht recht weiss, wie sie dabei am besten verfahren soll, auch wenn sie dabei Fehler macht und das Endergebnis nicht ganz zufriedenstellen kann. Doch der fatalistische Bescheid ignoriert Unterschiede, die aus geringerer Distanz besehen beträchtlicher erscheinen als die Gemeinsamkeiten im historischen und geografischen Vergleich der Straf- und sogenannten Besserungsinstitutionen.

Einige Zahlen aus dem höchst instruktiven Buch von Vivien Stern: A Sin Against the Future. Imprisonment in the World von 1998 lassen daran wenig Zweifel. Von 100000 Einwohnern lebten 1995/96 hinter Gefängnismauern: in Indien 23, in Japan 36, in Finnland 60, in der Türkei 80, in Deutschland und Italien 85, in England und Wales 120, ebenso viele in Ungarn, 190 bzw. 200 in Tschechien und in Rumänien, in den USA 615 - fast zehnmal so viele wie in Dänemark - und in Russland 690. (In der Schweiz 80. Für China, mit Sicherheit der Spitzenreiter, sind Zahlen nicht erhältlich.)

Ein Spiegelbild der Verbrechensraten ist das in keiner Weise, denn kaum weniger als die Zahl der Strafgefangenen variiert von Land zu Land der Umgang mit dem Strafmittel des Freiheitsentzugs. Von allen einer Straftat für schuldig Befundenen kamen 1992 in Strafhaft: in den USA 70 Prozent, in England und Wales 20 Prozent, in der Schweiz 17 Prozent. Entsprechende Unterschiede zeigt das Strafbedürfnis der Öffentlichkeit. Bei wiederholtem Einbruchdiebstahl halten Gefängnis für eine angemessene Strafe: in den USA 56,2 Prozent, in Australien 34 Prozent, in Schweden 22 Prozent, in Frankreich 10,7 Prozent, in der Schweiz 9,4 Prozent (1996). Dass das Publikum im allgemeinen der Freiheitsstrafe zugeneigt ist, kommt darin zum Ausdruck, dass überall in der freien Welt eine Mehrheit die Strafen generell für zu wenig scharf erachtet - in den USA sind 80 Prozent der Bevölkerung dieser Auffassung. Die Leute sind auf diesem Gebiet allerdings schlecht informiert. Bei der Frage, welcher Anteil aller Straftaten mit Gewalt verbunden sei, wurde in einer Erhebung in Kanada nur von 4 Prozent der Befragten zutreffend das Feld 0-9 Prozent angestrichen; nur 15 Prozent weitere lagen mit 10-29 Prozent nicht völlig daneben, während 75Prozent auf Werte über 30 Prozent tippten. Aus zahlreichen Untersuchungen geht hervor, so Vivien Stern, dass die meisten Menschen ihre Meinung ändern, wenn sie genauer informiert werden. Dabei fällt auf, dass Opfer von Verbrechen im allgemeinen nicht für schärfere, sondern für weniger scharfe Strafen sind als die Bevölkerung im Durchschnitt.

Das Gefängnis ist nicht damals mit der Vertreibung aus dem Paradies in die Welt gekommen. Als systematisch angewendetes Instrument des Strafvollzuges und der öffentlichen Sicherheit gehört es zu den zweifelhafteren Errungenschaften unserer Moderne. Im Zug der Kodifizierung des Strafrechts löste es spät im 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts allmählich ein vielfältiges Repertoire von direkt auf Körper und Psyche zugreifenden Strafen ab und ersetzte dieses älteste «Handwerk der unerträglichen Empfindungen», wie in Michel Foucaults klassischem Werk Surveiller et punir detailreich dargestellt, durch eine «Ökonomie suspendierter Rechte» - und Freiheiten. Galgen, Rad und Schafott, Peitsche, eiserne Fuss- ringe und Pranger (in England bis 1837) waren Werkzeuge der Vergeltung in und zu Handen der kommunalen Öffentlichkeit, in deren Diensten Übeltäter in Österreich, der Schweiz und gewissen amerikanischen Staaten ihren Schaden an der Gemeinschaft durch Zwangsarbeit wiedergutzumachen hatten, buntschekkig eingekleidet, dem bitteren und heiteren Gelächter, der Genugtuung und Erleichterung der Allgemeinheit preisgegeben. Wahr, gut und schön ging das bestimmt nicht immer zu und her.

Doch eine düstere Vorgeschichte ist kein Persilschein für die moderne Konzeption der Bestrafung und «Besserung» durch Ausschluss aus der Gesellschaft, die die Verbrecher hervorbringt. Die Frage, so die Erfahrungsbilanz aus zwei Jahrhunderten, lautet nicht, ob unser Strafsystem Defekte hat, sondern ob es nicht mehr Schaden anrichtet als verhütet. Gefängnisse mit ihren in vielen Ländern rapide wachsenden Zahlen von Insassen sind meistenteils, wie eine amtliche britische Studie von 1990 es ausdrückt, «ein teuerer Weg, aus schlechten Menschen schlechtere zu machen» - und wenn nicht schlechtere, so wenigstens asozialere. Laut einem Grundsatz der modernen Strafjustiz wären die Insassen im Gefängnis als Bestrafung, nicht zur Bestrafung. Die Strafe hätte im Freiheitsentzug als solchem zu bestehen, nicht in Misshandlungen und einem menschenunwürdigen Strafvollzug. Doch Strafanstalten sind keine Organe der Justiz, sondern der Administration und in den meisten Staaten, wie auch die Polizei, dem Ressort Inneres unterstellt. Sie zeigen weltweit, wenn auch mit gewiss nicht minder grossen Unterschieden, grosse Schwierigkeiten im Umgang mit der Menschenwürde, sind allzu oft Orte systematischer Menschenrechtsverletzungen.

In weiten Teilen dieser Welt unterbindet allein schon die Ökonomie in dieser Hinsicht jede Abhilfe. Für die Wirtschaft von Entwicklungsländern ist der koloniale Import des europäischen Gefängniswesens bis heute völlig untragbar geblieben, und die Last teilt mit den Gefangenen niemand, auch wenn sie verhungern und, wie etwa in Kasachstan noch Mitte der neunziger Jahre, von Kannibalismus hinter Gefängnismauern berichtet wird.

Die Verantwortung für die Organe des Strafvollzugs liegt im besseren Fall bei gewählten Politikern, und der gesunde Menschenverstand scheint weit herum dafür zu halten, wenn Verbrecher sich unter Verbrechern wiederfinden, hätten sie es wohl nicht anders verdient, auch wenn straflos weitere Verbrechen gegen sie verübt werden. In den USA mit ihren bald zwei Millionen Gefangenen schätzt die Gefangenenhilfsorganisation Stop Prisoner Rape die Zahl der «unwanted sexual acts» in den Gefängnissen auf 60000 pro Tag. 1994 waren in den Gefängnissen von New York State 14 Prozent der Gefangenen HIV-infiziert, und durch Vergewaltigungen im Gefängnis, so die «New York Times», werden Haftstrafen auch für relativ geringfügige Delikte ohne Gewalttätigkeit zur potenziellen Todesstrafe. Zu den Rahmenbedingungen gehört das Drogenproblem, das in den Gefängnissen besonders der reichen Länder endemisch ist - das klarste Beispiel dafür, wie Gefängnismauern die Gebrechen einer Gesellschaft, die sie aus der Welt räumen sollen, auf engem Raum vervielfachen. In Norwegens Gefängnissen zum Beispiel, wo 35 Prozent der Gefangenen für Drogendelikte einsitzen, erhöht sich den Schätzungen zufolge der Anteil der Drogenkonsumenten auf rund die Hälfte. Das Problem des Drogenmissbrauchs im Gefängnis spricht bis heute allen Strategien der Bekämpfung Hohn.

In den «Universitäten des Verbrechens», wie man Gefängnisse oft genannt hat, kommt ein Platz zum Beispiel in den USA im Durchschnitt teurer als ein Studienplatz in Harvard, Kost und Logis inbegriffen. Halbwüchsige Autodiebe erfahren dort für 25000 Dollar im Jahr Zuwendung von Gewaltverbrechern. In England und Wales werden die Kosten pro Gefangenem und Jahr auf 24000 Pfund geschätzt, rund 60000 Schweizer Franken. Keine Schule bleibt völlig folgenlos, und ist ein Gefangener beim Einzug in die Strafanstalt für seine Mitwelt eine Gefahr, was längst nicht immer der Fall ist, so wird er sie in aller Regel als der gefährlichere Mensch verlassen.

Es unterliegt keinem Zweifel, wovon jedes Reformbestreben auszugehen hätte. Das Prinzip hätte zu lauten: Niemand gehört ins Gefängnis, solange dies die Sicherheit der Umwelt nicht zwingend erfordert, und niemand gehört dort länger hin als unbedingt nötig. Sind Straffällige zu isolieren, dann nicht von der Gesellschaft, sondern von ihresgleichen. Es gibt Pflichten und Lasten, Formen von Wiedergutmachung ohne Freiheitsentzug, innerhalb der Gemeinschaft. Auch Krankheiten, wozu Drogensucht zählt, sind, das bleibt anzufügen, weder durch Strafen auszutreiben noch durch Wegschliessen zu eliminieren. Selbst wenn man sie, wie es das nette Wort besagt, bekämpfen will, muss man sie behandeln.

Ist die Welt - wenigstens die sogenannte freie Welt - in dieser Richtung unterwegs? In den USA hat sich die Zahl der Gefangenen von 1980 bis 1996 mehr als verdreifacht und stand vor drei Jahren bei 1,6 Millionen. Aus dem Umstand, dass im selben Zeitraum die Rate der Gewaltverbrechen bei Schwankungen von 15-20 Prozent ungefähr konstant geblieben ist, folgern Politiker mit erprobtem populistischem Aberwitz unter dem Motto «prison works», das Strafsystem funktioniere. Auch in Europa ist der Zuwachs an Gefangenen teils drastisch, für den Zeitraum 1988-1994: Griechenland 60 Prozent, Italien 48 Prozent, Spanien 40 Prozent - erfreuliches Schlusslicht auf dieser Rangliste ist Österreich mit 16 Prozent. England und Wales, transatlantischen Einflüssen am stärksten ausgesetzt, verzeichnet allein für 1993-1997 einen Zuwachs von 50 Prozent. Für das Jahr 2020 ergeben Projektionen eine amerikanische Häftlingsbevölkerung von 3 bis 5 Millionen. Das System der modernen Strafjustiz, eine der Errungenschaften der bürgerlichen Gesellschaft der USA, wird, wenn es soweit ist, ersetzt sein durch ein System der Internierung, ein Modell, mit dem im Zweiten Weltkrieg Erfahrung gesammelt wurde und dem nun eine Zukunft winkt in jenem zeitgemässen Krieg, wie ihn das grosse Amerika gegen die Drogen und - mit wachsender Energie - auch gegen Armut und soziales Elend führt. Die wirtschaftliche Seite dieses Gulags wird bestritten werden von einer privaten Industrie, die wie andere private Industrien am liebsten wächst und wächst und diesem Imperativ ihre anderen Zweckbestimmungen unterordnen wird. «Während die Gesellschaft der Vereinigten Staaten das Exempel der weitestgehenden Freiheit gibt», schrieb Alexis de Tocqueville 1831, «bieten die Gefängnisse des Landes ein Schauspiel des vollendetsten Despotimus.» Wohin geht Europa?