Casinoblues. Risikotyp: gesellschaftlicher Ruin

"Das Spiel ist das höllische Gegenstück zur Musik der himmlischen Heerscharen." Walter Benjamin

Von Georg Brunold, Zeitschrift du, 01.06.2000

Er scheint zu wissen, was er will. Der Spieler im Kasino will gewinnen – beim Geldspiel Geld gewinnen. Von dieser Hoffnung ist er schwer zu entwöhnen, und darin wird gewöhnlich ein Charakteristikum des Glücksspielers gesehen, ein wesentliches, eine recht enge Verwandtschaft zudem mit dem Börsenspekulanten. Gewiss ist diese Hoffnung, obschon die Unterschiede nicht zu vernachlässigen sind, in beiden Gestalten wirksam. Sie ist ein Gift, wer wüsste es nicht, eine korrupte und korrumpierende Hoffnung, nicht nur weil ihre Befriedigung stets vom Verlangen nach mehr gefolgt ist, sondern weil es sich um die Hoffnung handelt, ohne Schweiß im Angesicht belohnt zu werden, eine Hoffnung auf unverdiente Bevorteilung. Das Empörende ist nicht nur die kranke Gier im Wucher, sondern mehr noch als das Unmäßige das Unrechtmäßige darin. Der Hinweis auf den Einsatz und das Risiko, für das Spekulanten und Spieler angeblich entschädigt zu werden hoffen, ist ein schwacher Trost für eine Mehrheit jener, die nicht gewinnen, insbesondere wenn sie selber mit ihrer Wenigkeit und ihrem ausgeprägten Sinn fürs Verhältnismäßige dem Spiel standhaft entsagen. Der Gambler – wie auch der Spekulant, der nicht immer als der unentbehrliche Investor gewürdigt wird – kann in jedem Fall seinen Verlust nur verdient haben, den Gewinn dagegen niemals.

Doch es geht im Augenblick nicht um die moralische Qualifikation unserer Hoffnung auf Gewinn. Es geht um ihre Rolle im Glücksspiel. Ein Unterschied liegt auf der Hand: Während die Hoffnung des Spekulanten begründet ist, gilt das für die Hoffnung des Spielers nur mit empfindlichen Einschränkungen. Spieler wissen darum. Das Roulette ist so konzipiert, dass sich die Auswahl der Gewinnzahlen durch Kugel und Scheibe mit annäherungsweise mathematischer Zufallsstreuung vollzieht. Anders als an der Börse, wo die Spekulanten auf selbstgemachten Wellen reiten, hat der Gambler auf den Zufallsgenerator des Roulettes keinen Einfluss, und da er bei einer Gewinnchance von 1/37 nur den 36fachen Einsatz gewinnt, wird er bei hinreichend langem Spiel mit Sicherheit verlieren. Dennoch – wenn es 486 von 1000 Spielern gelingt, ihr Kapital wenigstens ein erstes Mal zu verdoppeln, darf selbstverständlich ein jeder auf Gewinn hoffen, ohne dass diese Hoffnung gänzlich unvernünftig wäre. In Potenzen allerdings wachsen kleine Unterschiede, und dem allzu oft wiederholten Versuch werden Sinn und Vernunft früher oder später abgesprochen. Dem Börsenspekulanten und seiner Hoffnung ist bis zum Beweis des Gegenteils nicht dieselbe Unbelehrbarkeit zu unterstellen.

Der Spielende, solange er wieder Geld hat, findet sich am Roulettetisch jedesmal in der gleichen Situation wie am ersten Tag. Verluste, das kommt dazu, können einzig durch fortgesetztes Spiel ausgeglichen werden, denn auf lange Frist verliert der Spieler vom gesamthaft eingesetzten Kapital schließlich nicht mehr als die 2,7 Prozent, nicht wahr, die unfehlbar die Spielbank einstreicht. Unbeirrt findet der Spieler seine Hoffnung wieder, so beflügelnd, wie sie ist. Vor allem aber weil sie auf keinem anderen Weg zu haben ist.

Das muss stutzig machen, zuallererst die Psychologen. Was kann es sein, dass er es haben muss – oder wenn nicht es selbst, so wenigstens die Hoffnung darauf? Und zwar dermaßen unbedingt, dass er, wenn es anders nicht zu haben ist, es zu erzwingen sucht? Oft will man haben, was man nicht schon hat, ja, in gewissem Sinn kann man recht eigentlich nur haben wollen, was man nicht oder noch nicht hat. So hatte es schon Diotima, die alte Priesterin und Hure, dem Weisen Sokrates erklärt. Das ist sie, die unsägliche Schwäche des Eros, diese unheilbare Wunde, dass er begehren nicht nur muss, sondern auch kann und zu allem hin gar will, und zwar das, woran er nur entbrennt, wenn er es bis auf weiteres nicht sein eigen nennen darf.

Der Psychologe als Fachmann für die Kräfte in der Seele weiß um deren Reservoirs und Quellen. Den Menschen ist es ein Bedürfnis, geliebt zu sein. Viele möchten mehr geliebt sein, als sie es sind. Die Hoffnung des Glücksspielers auf Geldgewinn, so sagt der Tiefenpsychologe, kommt daher, aus einem solchen Defizit an Liebe. Hoffnung, müsste man denken, ist am schönsten, wenn sie sich erfüllt. Doch so einfach, sagt der Tiefenpsychologe, verhält es sich mit diesen Dingen nicht. Von der Liebe ist es oft nicht weit zum Hass. Nehmen wir an, ein Mensch hasst im Grunde sich selbst, auch wenn ihm dies oft nicht so klar sein mag. Hass erzeugt Aggression gegen den Gehassten und ein Verlangen nach dessen Bestrafung, und wäre es auch ich selber: Bestrafung meiner selbst zum Beispiel dafür, dass ich nicht so sehr geliebt werde, wie ich es möchte, und dies womöglich obendrein zu Recht, ich, der nichtswürdige Versager. Das Glücksspiel, so Tiefenpsychologen, wie Walter Benjamin im Passagenwerk einen zitiert, ist dafür ein ausgezeichnetes Instrument. Der Lust im Spiel «steht eine Straftrias gegenüber, die aus dem unbewussten Verlustwunsch, dem unbewussten homosexuellen Überwältigungswunsch und der sozialen Diffamierung konstituiert wird... Zutiefst ist jedes Hasardspiel ein Erzwingenwollen der Liebe mit einem unbewussten masochistischen Hintergedanken. Deshalb verliert der Hasardeur à la longue immer.»

Nicht jedermann wird das unbesehen im vollen Wortlaut unterschreiben wollen. Aber daran ist etwas. Der fortgesetzte, untaugliche Versuch, trotz besserem Wissen etwas zu erzwingen, ist, wenn man dadurch überdies noch Schaden erleidet, Masochismus. Der fortgesetzte, untaugliche Versuch bietet ein Bild von Verzweiflung, von leidvoller Gefangenheit in sich selber, Ausweglosigkeit: «durch immer größere Misen, die das Verlorene», so Walter Benjamin, «retten sollen, steuert der Spieler auf den absoluten Ruin zu». Und wenn ihn Verzweiflung zum Amoklauf führt, gleicht auch der Börsenspekulant dem verfallenen Spieler.

Auf etwas direkterem Weg als der Psychologe, ohne die Kellergänge der Begriffe auszuleuchten, kommt der Logiker zum Ziel. Wir erinnern uns, der Spieler wollte gewinnen, dies war eingangs die Prämisse. Im Kasino gewinnen aber, so die zweite leidige Prämisse, kann auf die Dauer niemand. Der Spieler, der gewinnen will, spielt also nicht oder zumindest nicht auf die Dauer. Da der Schluss korrekt ist, die Erfahrung jedoch das Gegenteil beweist, muss an den Prämissen etwas falsch sein. Dass man im Kasino auf die Dauer nicht gewinnen kann, ist richtig. Also kann der Spieler nicht gewinnen wollen. Ja, was will er denn? Offenkundig will der Spieler spielen. Spielen im Kasino heißt verlieren. Der Spieler im Kasino also kann auf die Dauer nur verlieren wollen. Mit dem Resultat steht das im Einklang, bis zum Ruin.

Das alles ist ganz unbefriedigend. Kann ein solcher Stand der Dinge irgendeinen Spieler bei der Stange halten? Zu schweigen von ganzen Kasinos. Noch etwas anderes, scheint es, muss im Spiel sein, eine andere, vielleicht etwas weni-ger tiefe Psychologie? Ersparen wir uns für einen Augenblick das frenetische Geschufte am Roulettetisch und jene nicht besonders spielerische Pedanterie, mit der wir dort ein ums andere Mal in ausgeklügelter Abstufung unseren Einsatz auf mindestens ein Dutzend Zah- len zu verteilen haben. Setzen wir uns. Ins Halbrund zum Black Jack, wo wir über den schwarzroten Karten geduldig unsere innere Spannung zubereiten wie ein Vollbad, um nach einem wohl weni-ger aufregenden als aufgeregten Tag uns in ein Gleichgewicht zu bringen, auszuspannen.

Behutsam suchen wir nach der Mitte, wir temperierten Naturen. «Du sollst nicht unrecht handeln mit dem Hohlmaß!» heißt es in den Leviten, die man uns nicht lesen muss, wir vergehen uns dagegen gewiss nicht nach Belieben. Ein Einsatz muss sein, hoch genug, um uns am Einschlafen zu hindern. Aber Leichtsinn – bitte! – führen wir nur in Prisen bei uns. Wir wollen eine Weile sitzen bleiben. Wir – vier, fünf Spielende dem Banker gegenüber, und gedämpft wie die Beleuchtung kommt das Uhrwerk der existenziellen Gemessenheit in Gang. Umgang für Umgang, pünktlich, bevor wir den inneren Abschied gerade noch nicht genommen haben, ist von uns eine ganz kleine Entscheidung gefordert, ein Steinchen hinzu in der Kette der Zufallsabfolge, eine Silbe mehr in der poésie pure ihrer Streuung, aus der die Illusion von Ordnung nie vollends zu tilgen ist, solange wir die Augen nicht schließen und unser Gedächtnis nicht ausknipsen können. Fortuna, diese bei aller Unsterblichkeit so weltliche Gestalt, nur manchmal schön, doch stets Zeitgenossin und zur Stelle, verscheucht mit ihrer Schrullenhaftigkeit die Langeweile und belebt die kombinatorische Fantasie, bis der Kreislauf uns auch schon schwerelos hinweggetragen hat und wir, jeder ein Rädchen davon, in dieser süßen kleinen Nachtmusikdose aufgegangen sind, befreit von der Welt und von uns selber, im sicheren Schutze eines höheren Gottes, der sich nicht einmischt.

Zeitweilig mag ein Hauch von Überdruss aufkommen, doch wenn, dann höchstens als Ausdünstung einer wohligen Müdigkeit. Es kann nur ein leichtes Gefälle in unserer Aufmerksamkeit gewesen sein, falls unsere Bahn uns, ganz allmählich erst und unbemerkt, auf eine schiefe Ebene gelenkt hat. Wir, was uns angeht, sind eingenickt. Und gleiten aus. Wir spüren den feinen Stich und sind schon wieder aufgewacht. Wieder, nachdem wir unseren Stock an Chips jedesmal und in aller Ruhe aufgestockt haben, gilt es etwas zu unternehmen, ganz ruhig – zur Aufrechterhaltung der Lage nur, aber vorbeugend, versteht sich, denn wir könnten noch eine Spur entspannter sein, und vielleicht haben wir, aus einer der Unachtsamkeiten, wie sie uns trotz allem hie und da noch heute unterlaufen, nicht ausreichend Geld eingesteckt. Statt dessen werden wir wacher, und nach unserem Sieg über die Müdigkeit stellen wir fest, dass wir eigentlich doch nicht sofort nach Hause wollten. Wenn dem so ist und es dabei noch ein Weilchen bleiben soll, dann gilt es, noch nicht in den nächsten zwei Einsätzen zwar, so dringend ist das nicht, aber in mittlerweile absehbar gewordener Zukunft, kommt Zeit, kommt Rat, das Schicksal am fernen Horizont zu stellen. Das Blatt ist gut, hervorragend geradezu, zwei Asse, und jenes des Bankiers, eine Sechs, aschgrau. Wir splitten und doppeln und erhalten, sieh an, zwei Neune. Der Bankier zieht eine Fünf, dann eine Zehn, und auf beiden unseren Blättern stürzen wir lotrecht ab.

Wer hätte es gedacht. Wir spüren es noch, das Blut in unseren Adern! Wenn wir jetzt nicht gewinnen, reicht unser Geld nicht einmal mehr, um unseren vollends in Vergessenheit geratenen Durst zu löschen. Aber wir gewinnen ja, alles geht seinen Gang, den Einsatz lassen wir wie zuvor immer liegen, gewinnen gleich nochmals, strecken uns, drücken die Schultern nach hinten und sehen hin. Mit einem Mal, wir haben angesetzt, alles geht jetzt sehr schnell, und heben ab zu einer tüchtigen Hausse, dehnen uns aus auf die zwei frei gewordenen Felder zu unserer Rechten, und mit breiten Schwingen geht es hinan in Sphären, wo wir nicht als erstes uns selber wiedererkennen, dafür aber unerschrocken die Einsätze steigern, längst nicht mehr unser eigenes Geld, und fühlen, da aus den Kaskaden der wachsenden Ereignisse jede Spur von Schmerz verschwunden ist, gar nichts mehr, auch jetzt nicht, wie es mit Siebenmeilenstiefeln über Hänge steil wie in einem Traum schon wieder talwärts geht und nur der Höhenschwindel nicht verfliegt, sich dafür aber intensiviert, bis wir über zwei Buckel kraftvoll uns überschlagend noch einmal aufwärts schießen, ganz Eigenleben unserer Blätter, ehe für einen Augenblick – nichts ist begeisternder als die Begeisterung – der Atem aussetzt, da reißt – jetzt hat er am längsten gelebt! – am eisernen Zacken der Zipfel – die Turmuhr, sie schlägt ein mächtiges Eins! – und unten zerschellt das Gerippe.

Les jeux sont faits. Gerade noch widerstehen wir der Versuchung, die uns draußen auf den Stiegen des Hauptportals beschlichen hat, doch nahe genug waren wir soeben daran, auf dem kühlen Marmor uns hinzusetzen. Die Hose, der Sinn zwischen den Beinen ertastet es, ist noch trocken. Für den Augenblick ist sie offenbar gefallen, diese stets wieder «unerledigte Entscheidung zwischen genitaler und analer Libido, um die der Spieler in den bekannten Symbolfarben rouge et noir ringt. Die Spielleidenschaft dient so autoerotischer Befriedigung, wobei das Spielen Vorlust, das Gewinnen Orgasmus, das Verlieren Ejakulation, Defäkation und Katastration ist.» Jetzetle – sodele, wie der Schwabe verheißungsvoll und abschließend sich äußert.

Aber uns ging es nicht um diese – von Walter Benjamin zitierte – Tiefenpsychologie. Nur ums Erlebnis ging es uns. Ein wenig mehr Intensität nur! Doch welche Lust denn wäre stark genug, unsere Sehnsucht ganz alleine zu erfüllen? Kommen wir armen, schutzlosen Kreaturen am Ende gar nicht aus ohne die Karambolage und den Schaden, den wir uns nur selber zuzufügen imstande sind? Jetzt haben wir es, mit an Wahrscheinlichkeit grenzender Sicherheit, und es wirkt nach. Beim Spielen ist das intensive Erlebnis das Ende, die Abnabelung vom belebenden Apparat, dieser emotionalen Herz-Lungen-Maschine, die uns jetzt ausgespuckt hat, gnadenlos hinaus aufs nackte Pflaster, wo wir uns aufzurappeln versuchen, während mit jedem Schritt, der unsere Entfernung zum Tatort vergrößert, die seelische Beule wächst. Wie sie anzieht, von Straßenlaterne zu Straßenlaterne, und reißt an unserem Herzen, die Wehmut, die der Schmerz unseres Aufpralls hinterlassen hat! «Weh spricht: vergeh!» Doch Weh spricht immerhin, spricht nächstes Mal womöglich sogar lauter. Die Ewigkeit dagegen, nach der, wie Zarathustra sprach, die Lust verlangt, jene «tiefe, tiefe Ewigkeit» – gleicht sie nicht sehr der Stille über der weiten Ebene oben im Tal? Im tiefen Winter und unter hohem Schnee. Der erstarrte Körper will hören und sehen, solange es ihm nicht ganz vergangen ist, und wenn anders ganz unmöglich, ja, dann um jeden Preis. Walter Benjamin ohne Tiefenpsychologie: «Das Ideal des schockförmigen Erlebnisses ist die Katastrophe.» In ihr flackert das Irrlicht einer Freiheit auf – des Versprechens, es hinter sich zu haben. Rien ne va plus.