Dein Bild ist dir nicht ähnlich

Ein realistisches Ammenmärchen

Von Georg Brunold, Zeitschrift du, 01.07.2000

Sieh dir das an! Der Mann auf meinem Passbild ist mir ähnlich, denn dieser Mann bin ich, und jedes Ding ist sich selber ähnlich. Doch sehen wir ab von ihm und halten uns ans Foto. Ein Passbild genügt für die Zwecke dieser Betrachtung. Ist das Bild mir ähnlich? Jeder Kleiderschrank, jedes Fass, jedes Rindvieh, vielleicht jeder dreidimensionale Gegenstand ist mir ungleich ähnlicher als mein Passbild, und mein Passbild ist allen anderen Passbildern oder anderen Fotografien ziemlich ähnlich, aber keinesfalls mir. Was hat es, 3,85 x 5,5 cm und zweidimensional, mit mir gemein? Was stellt die Beziehung her zwischen uns zweien?

Auch Skulpturen, denken wir an Lenin, sind dem nachgebildeten Original nur mit Einschränkungen ähnlich, oft immer noch weit weniger als der besagte Kleiderschrank und weit weniger als alle anderen Menschen inklusive Brigitte Bardot oder die BaBenzélé-Pygmäen im zentralafrikanischen Dzanga-Sangha-Urwaldreservat. Doch stellen wir trotzdem von mir eine Büste her, nur zu diesem Zweck, Kopf, Schultern und Brust bis unter den Krawattenknopf, nehmen die Gipsform von mir selber ab, der Vorlage, und schneiden sie in rechtem Winkel zu meinem steifen Blick in äußerst dünne Scheiben, kleben die mittlerste auf ein festes Blatt Papier vom Format der Zeitschrift «du» und malen meine schönen Augen und das übrige fotorealistisch, und zwar strikt, darauf, mit oder ohne Hintergrund. Das können wir nun vergrößern oder verkleinern, ich bin es schließlich nicht, doch es ist mein Bild, ja mein Abbild.

So verfahren können wir nur bei Gegenständen, die tatsächlich existieren, bei einem Einhorn nicht, obwohl wir ohne weiteres ein solches realistisch, einem Foto zum Verwechseln ähnlich, porträtieren können. Das Ergebnis wird zwar, wie das Passbild eine Repräsentation oder Darstellung von mir, die Repräsentation oder Darstellung eines Einhorns sein, aber nicht das Abbild eines Einhorns. Hätte andererseits Picasso mich gemalt, kubistisch eventuell, wäre dieses Bild von mir ein Abbild, da ich im Unterschied zu Don Quijote wirklich existiere oder dies mindestens tat. Darstellen können wir auch, was es nicht gibt, abbilden jedoch nicht.

Sie erkennen mich am Bild? Das haben Sie gut gemacht. Sie sind nicht alleine, die Polizei erkennt mich am Fingerabdruck, mit etwas Übung, der Briefträger am Namen, ohne mich je vor sich gehabt zu haben. Mein Name kennzeichnet mich, egal, wie man Gestalt und Größe der Buchstaben – sogar im Verhältnis zueinander – variiert. Beim Foto ist das anders, wie wir sehen werden, selbst wenn man mich, mit einem Fischauge vielleicht, zu karikieren versucht. Noch etwas ist anders. Mein Name stellt mich nicht dar, auch wenn er in gewissen Fällen dies und das verraten kann. Im Unterschied zum einzigen Tamilen am Klingelbrett des Wohnblocks bin ich aufgrund meines Namens, anders als aufgrund meines Passbilds, beim Verlassen des Hauses nicht identifizierbar.

Ein Bild, sagt Nelson Goodman in seinem Standardwerk Languages of Art. Towards a General Theory of Symbols, hat Eigenschaften, die es zu einem Bild machen. «Kurz, eine bildliche Charakterisierung sagt mehr oder weniger vollständig und mehr oder weniger genau, welche Farben» – respektive Helligkeits- oder Tonwerte – «das Bild an welchen Stellen hat. Und die einem Bild von einer bildlichen Charakterisierung zugeschriebenen Eigenschaften sind seine bildlichen Eigenschaften.» Goodman nennt diese Eigenschaften auch piktorale Eigenschaften. Solche Eigenschaften, man sieht es leicht, hat jedes Blatt Papier, ja jeder Gegenstand. Jedes Ding lässt sich als Bild betrachten und beschreiben. (In der spätmodernen Kunst ist dieser Umstand mit Händen zu greifen.) Alles ist zwar nicht nur, aber unter anderem auch ein Bild, obschon gewiss kein Abbild, da das Bild nichts zu repräsentieren, darzustellen hat und sich auf nichts zu beziehen braucht. Bei Rembrandts Landschaft mit Jäger ist die Frage nach dem wirklichen Mann, der im Bild möglicherweise, wahrscheinlich aber nicht dargestellt ist, so irrelevant wie die Blutgruppe des Künstlers.

«Um zu repräsentieren, muss ein Bild als ein bildliches Symbol fungieren, das heißt in einem System» – von Symbolen – «seine Funktion so erfüllen, dass das Denotierte» – das Objekt, worauf das Bild sich bezieht – «einzig und allein von den bildlichen Eigenschaften des Symbols abhängig ist.» Nicht nur dass ein Bild, sondern ebenso wovon ein Bild ein Bild ist, hängt demnach voll und ganz von seinen bildlichen Eigenschaften ab. Ein musikalisches Werk dagegen hängt nicht von den bildlichen Qualitäten der Abschrift seiner Partitur ab. Sollte sich ein Bild auf nichts beziehen, aber dennoch etwas repräsentieren oder darstellen, dann hängt auch in diesem Fall einzig und allein von seinen bildlichen Eigenschaften ab, zu welcher Klasse von Repräsentationen oder Darstellungen es gehört, zum Beispiel zur Klasse aller Repräsentationen, Darstellungen, Bilder – aber nicht Abbilder – von Minotaurus.

Wovon hängt ab, ob ein Bild, wie Goodman sagt, «seine Funktion so erfüllen» kann? Von einigen Eigenschaften des Symbol- oder Zeichensystems. Der Leser ist bekannt für seine große Geduld und Unerschrockenheit. Für beides sei ihm an dieser Stelle einmal ausdrücklich gedankt. Leser sind liebe Menschen. Die folgenden zwei Absätze sind verhältnismässig kurz, fassen ein dickes Buch mehr schlecht als recht zusammen. Wem nicht mit einem Schlag alles sonnenklar wird wie auf einer wolkenlosen Farbfotografie, 100 ASA und blau, dem geben sie eine vage Vorstellung, wovon in einer allgemeinen Symboltheorie des ausgehenden Jahrhunderts die Rede ist. Sogleich werden wir das Bild wieder vor Augen haben, und nichts als es.

Eine Fotografie ist aus Punkten auf einem Träger zusammengesetzt, nicht aus unendlich vielen wie ein zweidimensionaler Raum der klassischen Geometrie, aber aus so vielen mindestens, dass wir gewöhnlich nicht in erster Linie die Punkte sehen, sondern das Bild, und natürlich nicht aus geometrisch idealen, ausdehnungslosen, sondern aus realen Punkten, gröberem oder feinerem Korn, aus plattgedrückten kleinen Knödeln: Solche Punkte beziehungsweise Gruppen von Punkten sind die Zeichen dessen, was mit dem griechischen Namen «Fotografie» Lichtschrift genannt wird. Was aus diesen Punkten nicht nur ein Bild, sondern eine Repräsentation oder Darstellung macht, ist der Charakter der Punkte beziehungsweise Zeichen. (Wir halten uns hier nicht dabei auf, dass eine digitale Fotografie streng genommen kein Bild ist, sondern ein Diagramm.)

Es geht um den fließenden Übergang zwischen einem Zeichen und dem auf der Tonwert- beziehungsweise Farbwertskala benachbarten Zeichen. Ihre Eigenschaft, der Tonwert beziehungsweise Farbwert, unterscheidet die Zeichen so, dass es von ihnen – in idealer Betrachtung – nicht nur unendlich viele gibt, wie etwa bei Zeichen für Werte auf einer nach oben oder unten offenen Skala (entsprechend der Menge der natürlichen Zahlen), sondern zwischen jeden zwei Zeichen nochmals eines oder, was dasselbe heißt, nochmals unendlich viele (entsprechend der Menge der rationalen Zahlen). Bildliche oder piktorale Zeichen – bei der Fotografie die Punkte oder Gruppen von Punkten – sind demnach, so Goodmans Terminologie, «nicht endlich differenziert», das Symbolschema der piktoralen Repräsentation oder Darstellung ist durchgehend «dicht» oder «nicht artikuliert». Ein weiteres Spezifikum dieser Zeichen ist, dass sie relativ «voll» sind. «Voll» heißt, dass alles am Symbol – am Punkt, an der Gruppe von Punkten, am Bild als ganzem wie an jedem Ausschnitt – Teil des Zeichens ist, anders als der Schnörkel der handgeschriebenen Majuskel oder die Füßchen gedruckter Lettern. Der Leerraum zwischen den Buchstaben oder der Zeilenabstand hat keinen Anteil am Verhältnis meines niedergeschriebenen Lebenslaufes zu mir selber, wogegen der weiße, unbefleckte Raum auf der Bleistiftskizze Teil des Bildes ist.

In solchen piktoralen Zeichen steht auf dem Passbild mein Gesicht geschrieben – «das Objekt», so Goodman, «wie wir es betrachten oder es uns vorstellen». Doch wenn «wir ein Objekt repräsentieren, dann bilden wir nicht ein solches Konstrukt oder ein solches Interpretament ab – wir stellen es her. Und das», so Goodman weiter, «gilt nicht weniger, wenn wir anstelle eines Stifts oder eines Pinsels eine Kamera benutzen. Die Wahl des Instruments und seine Handhabung haben ihren Anteil am Konstrukt. Die Arbeit des Fotografen kann ebenso wie die eines Malers einen persönlichen Stil aufweisen.»

Die Fotografie ist dokumentarisch, stellt nicht nur dar, sondern bildet zudem ab, selbst wenn das Mannequin namenlos bleibt. Wenn nicht das Objekt geradewegs selber, so ist doch eine physikalische Gegebenheit, die von ihm ausgeht, im Spiel: das Licht, weshalb das Objekt für die Kamera unentbehrlich ist. Damit ist keinerlei Vorentscheidung für Realismus gefallen. «Wie man so sagt», sagt Goodman: «nichts funktioniert so gut wie eine Kamera, wenn es darum geht, aus einem Berg einen Maulwurfshügel zu machen.» Kameras mit entsprechender Optik können jedes Sujet beinahe beliebig in die Tiefe, Breite oder Höhe ziehen, biegen und krümmen, noch bevor Farbe ins Spiel kommt. In Spiegelbildern verhalten sich die Dinge analog, manchmal sogar am Himmel, in der Fata Morgana, wie man sie bei Hortobágy in der Puszta von der eigens dazu aufgebauten Tribüne aus betrachten kann. Ein Bild mit Streckungen oder mit konsequent komplementär eingesetzten Farben etwa ist eine um kein Jota weniger präzise oder, wie es landläufig heißt, weniger «getreue» Wiedergabe als die Ansichtskarte am Bahnhofkiosk. Es kann unsere Wahrnehmung mit höheren oder weniger gewohnten Anforderungen konfrontieren, doch es ist exakt dasselbe darauf, der Informationsgehalt – und ebenso die Wahrheit – der Wiedergabe bleibt unberührt, das Wiedergegebene mit sich identisch, nur dass wir es mit größerer Mühe entziffern.

Wie der Blinde in seiner unsichtbaren finden wir uns in der sichtbaren Welt nach unseren pragmatischen Erfordernissen zurecht, seit einigen Generationen sogar mit 150 km/h auf der Autobahn. Das heißt nicht, dass wir im angewandten Alltag wüssten, was wir sehen. «Rien n'est plus difficile que de savoir au juste, ce que nous voyons», steht in Maurice Merleau-Pontys Phénoménologie de la perception. Auf offener Straße sehen wir, anders als eine Kamera, nicht zentralperspektivisch, nicht wie wir von Kindsbeinen auf Ansichtskarten lesen und Häuser mit Kaminen zeichnen lernten, nicht einmal im Führerstand einer Lokomotive in einer Wüste, topfeben und bei schnurgerader Linienführung unter leerstem Himmel. «Die Regeln der bildlichen Perspektive folgen ebensowenig aus den Gesetzen der Optik, wie es Regeln täten, die verlangten, dass man Bahnschienen parallel und Telegrafenmasten konvergierend zeichnen muss», und die Kamera muss wie der Künstler, der «eine räumliche Darstellung hervorbringen will, die», so Goodman, «das zeitgenössische ‹westliche› Auge als naturgetreu akzeptiert, den ‹Gesetzen der Geometrie› die Stirne bieten.»

Auf offener Straße sehen wir die Welt selber, wenigstens Ausschnitte, nicht von Rand zu Rand gefüllte Farbaufnahmen. Es gibt weitere Welten mit visuellem Zugang, etwa den Traum, und was wir da sehen oder bei der Lektüre einer Romanpassage, ist bis heute eine äußerst dunkle Frage geblieben. Fast so dunkel bleibt die Frage, ob wir draußen bei hellem Tageslicht farbig sehen: «eine Familie in einer Piroge», sieht Graham Greene auf dem Kongo, «das leuchtend gelbe Kleid der Mutter, und das Mädchen, ein Baby auf dem Schoß, lächelt wie ein offenes Klavier».

In der «lichtgeschriebenen» zweidimensionalen Welt auf dem Papier ist nichts selbstverständlich, noch weniger als in der wirklichen Welt, die kaum realistische Züge aufweist. Als Lawrence of Arabia seinen Beduinenfreunden ihre Porträts zeigte, die ersten Fotografien, die sie zu Gesicht bekamen, zeigte einer auf seine Nase im Bild und meinte, es handle sich dabei um ein Kamel. Der ethnografische Nachweis wurde hundertfach erbracht, dass ohne die erforderliche Schulung Menschen auf Fotografien nichts erkennen.

Unsere Gewohnheiten sind älter als die Kamera, ihre Genese reicht Jahrhunderte zurück. Zwar schreibt das Licht, aber in der Fotografie schreibt es gehorsamst, was und wie wir wollen, in der perspektivischen Behandlung der räumlichen Verhältnisse wie in Ton- und Farbwert. Wie wir in Ernst Gombrichs Art and Illusion erfahren, orientierte sich die Entwicklung der frühen Fotooptik an den Verhältnissen von Holzschnitt und Stich, so dass sich die Kathedrale auf einem Foto von 1860 kaum von der ehedem gedruckten unterscheidet. Giotto technisch verfeinert, und bis heute ist es im wesentlichen dabei geblieben. Freilich ist die Zahl möglicher fotografischer Darstellungen eines jeden Objekts unendlich. Nebst denen, die wir meistens sehen, wären zahllose andere denkbar. Nach «einiger Übung», sagt Goodman, «kann man sich mühelos auf Brillen einstellen, die die Sicht verzerren, oder auf Bilder, die in schiefer oder sogar in umgekehrter Perspektive gemalt sind». Doch obschon wir die Fotografie insgesamt für ein relativ realistisches Medium halten, sind wir geneigt, in manchen Fotografien mehr, in anderen weniger realistische Darstellungen eines Objekts zu sehen. Dem liegen Konventionen zugrunde, die sich in uns als Sehgewohnheiten festgesetzt haben. Urheber dessen, was in der zeitgenössischen Bilderwelt Realismus heißt, sind Industrienormen wie DIN und ISO/ASA, sodann Agfa, Kodak und «National Geographic», der Code ebenso der Ansichtskarte vom Bahnhofkiosk wie des Familienalbums oder meines Passbilds.