So hat das angefangen...

Editorial zu einer Doppelnummer über Schöpfung

Von Georg Brunold und Marco Meier, Zeitschrift du, 01.07.2001

«So hat das angefangen. Ein Buch für Alle und Keinen. Ich bin jetzt im Zimmer meiner Mutter. Hier möchte ich niemandem gefallen. Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen. Nichts fürchtet der Mensch mehr als die Berührung durch Unbekanntes. Nichts zu machen. Hoch in der Thebaïs, auf einem halbmondförmigen, von großen Felsbrocken eingeschlossenen Bergplateau. Über dem Atlantik befand sich ein barometrisches Minimum; es wanderte ostwärts, einem über Russland lagernden Maximum zu, und verriet noch nicht die Neigung, diesem nördlich auszuweichen. Es war ein schöner kalter Tag im April, und die Uhren schlugen dreizehn. Ein Heulen kommt über den Himmel. Wer da? Lolita, Licht meines Lebens, Feuer meiner Lenden. Ich bin Söldner und stolz darauf, es zu sein. Dummheit ist nicht meine Stärke. – Geld...? Mit einer Stimme, die raschelte. – Papier, ja. Die Proustsche Gleichung ist niemals einfach. Sanft glitten die Schatten über die Treppe hinab in die Diele. Bei dreiunddreißig Grad im Schatten lag der Boulevard Bourdon vollständig verlassen da. Sein, reines Sein, – ohne alle weitere Bestimmung. Es gibt eine Frau. Das Sein wird in mehrfacher Bedeutung ausgesagt. Am Anfang war das Wort. Weiter. Es war spätabends, als K. ankam. Edith liebt ihn. Als er an der schmalen Eisenbahnüberführung angekommen war, blieb er stehen und dachte nach. So, also hierher kommen die Leute, um zu leben, ich würde eher meinen, es stürbe sich hier. Es kann nicht behauptet werden, dass das Everhard-Manuskript ein bedeutendes Schriftstück wäre. Wenn der Kommission diese Schrift zur Fixierung und Aufbewahrung durch den Druck würdig geschienen hat, so liegt dies wohl vor allem am Material, das dadurch einmal – ich wage nicht zu sagen «zugänglich» wird. Ich bin der Arzt, von dem in dieser Erzählung mitunter in wenig schmeichelhaften Worten die Rede ist. Als glückliche Bestimmung gilt es mir heute, dass das Schicksal mir zum Geburtsort gerade Braunau am Inn zuwies. Als ich acht Jahre alt war, heiratete meine Mutter einen Soldaten. Alle glücklichen Familien ähneln einander; jede unglückliche aber ist auf ihre eigene Art unglücklich. Ich weine, weil mein Onkel tot ist. Es zieht mich stets dahin zurück, wo ich einst gelebt habe, zu den Häusern, der Gegend. Eines Nachts wurde an die dünne Bretterwand des Bungalows geklopft, in dem ich wohnte. Tom! Keine Antwort. Was tust du hier, mein Junge? Nichts. Was stehst du dann da? So. Wie viele Aufsätze werde ich in meinen zehn Jahren als Grundschullehrer in einer Neapolitaner Vorstadt gelesen haben? Ich blickte einem Mädchen nach, das unschlüssig am Rande des Gehsteigs entlangging und offenbar die Straße überqueren wollte. Mehr soll ich also nicht erfahren. Ich bin nicht Stiller! Die Welt ist alles, was der Fall ist. Ich musste mich rasch zur Seite drücken, denn etwa tausend Pferde kamen auf mich zu, die lanzenbewehrte Soldaten trugen. Wie waren sie zueinander gekommen? Jählings, nein allmählich, endlich konnte ich nicht mehr, nicht mehr weiter. Dort unten! Ein gedrungenes graues Gebäude von nur vierunddreißig Stockwerken Höhe. Die Kleidung der Sträflinge ist rosa und weiß gestreift. Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Dies ist die traurigste Geschichte, die ich je gehört habe. O dass er mich tränkte mit Küssen seines Mundes!»

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Alles Anfang. Lauter Anfänge, 53 Auftakte berühmter Werke, Einstiege in weltbewegende Texte aller Art, Gedichte, Lieder, Essays, Dramen, erste Sätze großer Romane. Der Anfang ist alles, thematisch, formal, aber auch ethisch und ästhetisch. Ein schöpferischer Prozess hebt damit an und nimmt dann seinen Lauf. Kaum vorstellbar, dass sich ein großer Autor von einem Lektor anregen lässt, die ersten Sätze seines neuen Romans umzuschreiben. Das Leiden am ersten Satz ist von ritueller Bedeutung, dem ersten Bleistiftstrich der Künstlerin auf dem weißen Blatt vergleichbar, der ersten Farbe auf der Leinwand, dem ersten Schlag mit Hammer und Meißel am neuen Stein auch, dem ersten Ton und Takt einer neuen Komposition. «Einer stand im Raum starkstill, schaute bloß herum. Ob er etwas dichtete? In der Tat kam er hierher, um sein erstes Gedicht hervorzubringen. Da er sich dabei beeilt hatte, war er warm geworden. – Nun war er halb in Lust, halb in Angst. In Lust, weil er schaffen wollte, in Furcht, weil er dachte, dass es ihm misslingen könnte.» So hat es Robert Walser in seiner Kleinstgeschichte Das erste Gedicht beschrieben. Und etwas weiter: «Jetzt zog er sein Taschen- und Tagebuch aus der Rocktasche hervor. Ein passender Bleistift war bereits gespitzt, und so konnte er ansetzen und jeden Augenblick mit Tonsetzen beginnen. – Er tat's.» Wir hingegen haben uns entzogen, haben den Anfang dieser «du»-Nummer über die Schöpfung, über den Anfang aller Anfänge, den Mythos aller Mythen anderen überlassen. Lauter erste Sätze großer Dichtung reihen sich zur eklektischen Initiation dieses Doppelheftes. In unserer nächsten Ausgabe werden Sie den Hinweis auf die hier mit ihren Anfangssätzen zitierten Dichter und Denker und die entsprechenden Werke finden. Sie sind herzlich eingeladen, auf einem Stück Papier das Ergebnis Ihrer literarischen Erkundung niederzuschreiben und uns zuzusenden. Von welchen Autoren und aus welchen Werken stammen die Zitate? Unter denen, die am meisten richtige Zuordnungen schaffen, verlosen wir drei Jahresabonnemente unserer Zeitschrift. Heiteres Rätseln und Raten!

Damit waren die Menschen angesichts der Schöpfung seit alters beschäftigt. Was war am Anfang? Niemand weiß, wie es wirklich war. Das ist der gleicherweise wohltuende wie beängstigende Aspekt einer Einsicht, die sich bei Lektüre aller in diesem opulenten Heft versammelten Texte zum Thema «Schöpfung» einstellt. Nur die Frage nach der Existenz Gottes zeitigt unter uns Menschen vergleichbar üppig mythische und spekulative Antworten. Es handelt sich im Kern um dieselbe Frage. Summa summarum ergibt alles fantastische und metaphysische Reden und Schreiben über Anfänge und Ursprünge unserer Welt eine umfassende Erzählung, ein einziges narratives Protokoll unserer behelfsmäßigen Vergewisserung im Ungewissen. All unser Tun und Lassen ist eine Fortschreibung der Schöpfungsgeschichte.

Über sieben Wege versuchen wir in diesem Heft der Schöpfung etwas weiter auf die Spur zu kommen. Wir befragen die Mythologie, erwägen, was uns der Kosmos lehrt, vernehmen die Euphorie der Biowissenschaften und registrieren die Verunsicherung in der Politik. Der Neurobiologe bestätigt uns, wie viel wir schöpferisch unserem Gehirn verdanken. Auch metaphysisch stellen wir uns noch einmal der Frage aller Fragen. Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? Und schließlich wenden wir uns der Musik zu, weil dieses «du» auf das Lucerne Festival, die Internationalen Musikfestwochen, hin erscheint, die nach zwei vorangegangenen Jahren der «Mythen» und «Metamorphosen» in diesem Sommer mit «Schöpfung» eine Trilogie beschließen. Ein musikalisches Dossier versammelt Protokolle von Werkstattbesuchen bei fünf Komponisten, von denen in Luzern neue Werke zur Aufführung gelangen.

Literarisch bedeutet das Sinnieren über die Schöpfung reinste poetische Lust. Die Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Lenk schrieb in einem Essay zur Ethik des Ästhetischen (Benteli Verlag Bern, 1991) von der Welt des Romans als einer «Zwischenwelt zwischen dem paradiesischen (lyrischen) Zustand des Nichthandelns und der Welt der Anwendungen». Wir haben das Paradies verschmäht. Aber in der Welt des Handelns wird unsere Rolle als Geschöpfe prekär. «Die Poesie verlässt das Buch und geht in Gestik über», schrieb Lenk weiter. Von einer «Zweiten Schöpfung» ist heute die Rede, bei der das Geschöpf Mensch seine Zukunft selber an die Hand nimmt. Die Entschlüsselung des Genoms scheint dazu am Anfang des neuen Jahrtausends Tür und Tor zu öffnen. Und wieder einmal hebt vehement der Disput zwischen Kulturoptimisten und Kulturpessimisten an und weht heftig durch die Feuilletons. Gerade erst hat sich im «Spiegel» Hans Magnus Enzensberger auf der skeptischen Seite zu Wort gemeldet. Mit Doktor Faustus lässt sich heute wieder hadern. Ist die Wissenschaft gut, aber meist in den falschen Händen, ohnmächtig gegen ihren Missbrauch? Oder ist sie an sich des Teufels? Der Evolutionsbiologe Stephen J.Gould schreibt in diesem Heft, warum diese Alternative eine falsche ist. Hans-Jürgen Heinrichs und Peter Sloterdijk reden miteinander über neue Schöpfungsfantasien zwischen naiver Heilserwartung und Verteufelung. Der Ethiker Peter Schaber entwarnt. «Von einer Selektion «lebens-unwerten» Lebens kann nicht die Rede sein.» Vermittlung tut not, interdisziplinäre Verständigung. Dazu hoffen wir ein wenig beizutragen.

Marco Meier, Georg Brunold