Die saudische Weltmission

Saudi-Arabien versteht sich als Hüter des wahren muslimischen Glaubens – des Wahabismus. Diese strenge Interpretation des Islam versucht das saudische Königshaus mit allen Mitteln in der ganzen Welt zu verbreiten. Dabei schreckt es auch nicht vor der Finanzierung von Terrorismus zurück.

Von Georg Brunold, Cicero WELTBÜHNE, 01.02.2011

Kandahar, im Frühjahr 1995. — Maulana Fazlur Rehman hat Prinzen aus Saudi-Arabien und den Golfemiraten zur Trappenjagd geladen. In schweren Transportmaschinen fliegt die Jagdgesellschaft ihre Geländefahrzeuge der Luxusklasse zu Dutzenden ein. Nach dem gemeinsamen Weidwerk sollen sie zu anderer Verwendung in Afghanistan bleiben. Rehman ist der Führer der Dschamia Ulema-e-Islam (JUI), einer pakistanischen Radikalenpartei. Sie genießt den Ruf, die wichtigste Geburtshelferin der Taliban zu sein. Diese sind zum damaligen Zeitpunkt die stärkste Kraft im afghanischen Bürgerkrieg und rüsten zur Eroberung Kabuls im darauffolgenden Jahr. Die Jagdgäste laden ihrerseits eine Delegation nach Riad ein, wo König Fahd wohlbemessene Unterstützung zusichert.

Die Party-Gruppe von Kandahar teilt aber nicht nur die Leidenschaft für die Vogeljagd, den Teilnehmern gemein ist auch ihr Glaube: Sie sind Muslime – so wie 99 Prozent der Saudi- Araber. Diese sind zudem, abgesehen von sehr kleinen Minderheiten, Anhänger eines rigiden fundamentalistischen Bekenntnisses, des wahabitischen. Der Wahabismus ist nicht nur Staatsreligion, sondern Raison d’être dieses Staates und Legitimationsgrundlage seiner Monarchie. Vor 50 Jahren deutlich weniger als 1 Prozent aller Muslime weltweit, sind die Wahabi bis heute, zumindest ihrer Zahl nach, eine Randerscheinung geblieben. Dennoch ist es ihnen gelungen, in rund 90 Ländern und auf allen Kontinenten Außenposten aufzubauen. Seither hat das Engagement Königs Fahd in Afghanistan weite Kreise gezogen: Von den Philippinen bis nach Mauretanien ist seit mindestens 20 Jahren keine radikalislamische Kraft von staatlicher wie auch privater Großzügigkeit der Golfstaaten – besonders seitens Saudi-Arabiens – unabhängig.

Erste Konturen erhält Saudi-Arabiens Außenpolitik in den fünfziger und sechziger Jahren durch den sogenannten arabischen kalten Krieg. Der beginnt 1952 mit der ägyptischen Revolution und dem Aufstieg Gamal Abdel Nassers zur arabischen Führergestalt infolge der Suezkrise 1956. Noch im Jahr seiner Machtergreifung 1954 wird Nasser Ziel eines missglückten Attentats. Das ist der Auftakt zur blutigen Unterdrückung der ägyptischen Muslimbruderschaft, der 1928 in Kairo gegründeten Front- und Untergrundorganisation des radikalen politischen Islam. Die Feinde Nassers müssen ins saudische Exil ausweichen, wo 1957 und 1961 die ersten Universitäten gegründet werden. In rapide wachsender Zahl folgen alsbald ägyptische Lehrer, Ärzte, Verwaltungspersonal. Die saudischen Gastgeber und Wahabi werden unter Anleitung des islamistischen Zuzugs alphabetisiert. Ab 1962 stehen sich der Sozialist Nasser und das Haus Saud in einem Stellvertreterkrieg im Nordjemen gegenüber. In Riad hat 1964 mit Feisal unterdessen der Mann den Thron bestiegen, der das noch kaum konsolidierte, in den heutigen Grenzen erst seit 1932 bestehende Königreich mit eiserner Hand zum Einmannbetrieb zusammenschweißt. Sein Rezept gegen die sozialen Erschütterungen der technischen Modernisierungsschübe lautet: forcierte Islamisierung seiner Innenwie Außenpolitik.

Als Vehikel internationaler saudischer Präsenz ist in Mekka 1962 die „Islamische Weltliga“ gegründet worden. Nominell eine Nichtregierungsorganisation, hat diese in Zukunft als eines der zwei wichtigsten Werkzeuge saudischer Außenpolitik ein weitverzweigtes globales Netz religiöser Stiftungen zu koordinieren. Den saudischen Vorsitzenden im Gründungsrat flankieren Said Ramadan, Schwiegersohn des Gründers der ägyptischen Muslimbruderschaft, und Abul Ala Maududi. Dieser hat 1941 in Lahore die Dschamaat- e-Islami gegründet, die zur größten Islamistenpartei Pakistans wird und dies bis heute geblieben ist. Sie steht der Muslimbruderschaft nahe. Hinzu kommt 1969, als Gegengewicht zu der in Kairo niedergelassenen Arabischen Liga, die „Islamische Konferenzorganisation“, der heute 56 Staaten sowie – und dies von Anfang an – Palästina angehören.

Das politische Gravitationszentrum der muslimischen Welt hat sich übers Rote Meer auf die Arabische Halbinsel verschoben, um in der Folge aus der arabischen Welt, wo heute weniger als ein Viertel der 1,5 Milliarden Muslime leben, weiter nach Osten zu wandern. Noch wird in den achtziger Jahren östlich von Suez der von Religion unbefleckte Saddam Hussein die arabische Tagesordnung diktieren. Inzwischen arbeiten die Saudi aber bereits im Bann eines weiter gespannten Projekts: Nassers Vision einer geeinten arabischen Welt als eines weltpolitischen Blocks ersetzen sie durch ihre Vision der Umma, einer religiös und politisch geeinten islamischen Weltgemeinschaft. Fortan bildet sie den Rahmen der saudischen Zuständigkeiten. Die von den wahabitischen Saudis finanzierte und angeführte fundamentalistische Mission gewinnt schnell an Elan und greift weit über die muslimische Welt hinaus auf alle Kontinente aus.

Der unermessliche Ölreichtum bietet schon Mitte der siebziger Jahre alle Aussichten auf eine Führungsrolle auch in der arabischen Welt. Aber sechs bis sieben Millionen Saudi können diese nicht alleine ausfüllen, bleiben auf vielfältiges Personal aus der arabischen Welt und auf nichtarabische Verbündete in Asien angewiesen, beispielhaft ist das bevölkerungsstarke Pakistan.

Nicht von ungefähr tritt der saudische König zugleich als der „Hüter der zwei Heiligen Stätten“ auf: Mekka und Medina sind die beiden wichtigsten Pilgerzentren aller Muslime. Die religiöse Führung teilt sich das Haus Saud mit dem ihm mannigfach verschwägerten Klerus, an dessen Spitze das Haus der Sheikh steht, die Nachkommen des Gründerpredigers Muhammad Ibn Abdul Wahab (1703 bis 1792). Dessen Verkündigung rückt der so vielstimmigen Tradition des Islam mit einer puritanischen Lehre zu Leibe, die zwei Stoßrichtungen hat. Eine bilderstürmerische, modern anmutende zielt gegen den Aberglauben beziehungsweise den Polytheismus: „Es gibt keine Götter außer Gott.“ Mit ihm, dessen Einheit im Zentrum der wahabitischen Doktrin steht, ist der Prophet seinerzeit gegen die Priesterschaft von Mekka und ihre Götzenbilder angetreten. Als Idolatrie und Aberglauben gilt seitdem für die Wahabi jeder Glaube an irdische Manifestationen des Göttlichen, insbesondere jede Form von Reliquienkult und Heiligenverehrung. Unter Zeitgenossen Ibn Abdul Wahabs, die für die breite Mitte des sunnitischen Islam sprechen, stößt seine Lehre auf vehemente Ablehnung – ihr Verkünder wird als Spinner abgetan. Ägyptische Heere des Sultans von Istanbul haben die Vandalen in ihr innerarabisches Stammland zurückzutreiben.

Die reaktionäre Stoßrichtung der Wahabi-Botschaft lautet: Kampf jeder Art von „illegitimer Neuerung“. Darunter fällt alles, was sich nicht auf den Koran und den Hadith, die Überlieferung der Äußerungen Mohammeds, zurückführen lässt. Zur Opfermasse gehören dabei nicht nur die Einflüsse der antiken Griechen sowie die großen persischen und arabischen Philosophen des Mittelalters, sondern ebenso die Jurisprudenz der islamischen Rechtsschulen und ihre mittelalterlichen Begründer. Hinzu kommt ein giftiger Ingrimm gegen jegliche Künste, Theater, Musik, Tanz und andere unschuldigere Vergnügungen bis hin zum Drachensteigenlassen. Was sie alle, die Wahabi und ihre Verbündeten, aus dem Mainstream des sunnitischen Islam heraushebt, ist die Selbstermächtigung zum Urteil, wer ein rechtgläubiger Muslim sei und wer nicht. Ibn Abdul Wahab scheut auch in seinen Schriften nicht davor zurück, alle, auch Muslime, in denen er keine Anhänger seiner Doktrin erblickt, zu Ungläubigen und daher Feinden Gottes zu erklären. Die Exkommunikation geht einher mit einer militanten Intoleranz den Ausgeschlossenen gegenüber, zu denen auch die große Mehrheit der Muslime zählt.

Das Bündnis des Hauses Saud mit dem wahabitischen Klerus unter dem Haus Sheikh ist ein Erbe aus zweieinhalb Jahrhunderten der fortgesetzten, durch kontinuierliche Heiratsdiplomatie abgefederten Machtkämpfe in den zentralarabischen Wüsten.

Die große Herausforderung für die saudische Führung kommt mit der iranischen Revolution und Ayatollah Khomeinis Heimkehr nach Teheran im Februar 1979. Aus Teheran erschallt die unmissverständliche Antwort auf die Frage, wem die Führung über die Weltgemeinschaft der Gläubigen zusteht: denjenigen nämlich, die es mit dem Islam politisch ernst meinen. Und der da die Führungsrolle für sich einfordert, ist ein Schiit, ein Häretiker für jeden Wahabi. Khomeini fordert eine Internationalisierung der beiden Heiligen Stätten von Mekka und Medina und lässt Taten folgen. Eine Gruppe von 400 bis 500 Schwerbewaffneten unter Dschuhaiman al Utaibi erstürmt die Große Moschee in Mekka und nimmt mehr als 50 000 Gläubige als Geiseln. Al Utaibi, Angehöriger einer prominenten saudischen Familie, ruft zum Sturz der korrupten und ketzerischen Monarchie auf. Bei der Geiselnahme sterben 400 Menschen. Der Handlungsbedarf in Riad wächst. Seine religiöse Legitimation wird dem Hause Saud auswärts abgesprochen und zu Hause infrage gestellt. Wer ist Herr im Haus und wer Herr über die Umma?

Nichts hätte da gelegener kommen können als der sowjetische Einmarsch in Afghanistan im November 1979. In den folgenden zehn Jahren des Befreiungskampfs schlägt die saudische Führung zwei Fliegen mit einer Klappe: Die „Hüter der zwei Heiligen Stätten“ schwingen sich auf zum wichtigsten Schutzpatron – oder zumindest wichtigsten Geldgeber – der Gotteskrieger in Afghanistan, zugleich können von nun an hauseigene Dissidenten in großer Zahl exportiert werden.

Bis zum Abzug der sowjetischen Besatzer 1988/89 werden mit Geld aus den Golfstaaten 40 000 bis 50 000 Freiwillige aus mehr als zwei Dutzend Ländern rekrutiert, Pakistan nicht mitgerechnet. Während der afghanische Krieg in den neunziger Jahren auf niedriger Flamme fortdauert, wandert sein überschüssiges internationales Personal weiter zu anderen Konfliktherden in Kaschmir, Tschetschenien, Zentralasien, Bosnien oder heim nach Algerien. Um die Jahrhundertwende finanzieren saudische staatliche und private Geber radikale oder extremistische Rebellenbewegungen mit paramilitärischen Ausbildungslagern in rund 20 Ländern von Westafrika bis nach Fernost. Tausende von Heimkehrern machen die Arabische Halbinsel unsicher, vor allem deren Armenhaus Jemen. 5000 bis 7000 von ihnen werden ab 2003 im sunnitischen Widerstand gegen die westlichen Besatzer im Irak wieder zum Einsatz kommen, rund die Hälfte davon sind Saudi. In Pakistan hat derweil der afghanische Widerstand ein Heer von 100 000 Gotteskriegern hinterlassen, sie alle sind, wie die Dschihadisten in Afghanistan, an der mehr oder weniger langen Leine der pakistanischen Geheimdienste.

Schätzungen der gesamten staatlichen Aufwendungen für die weltweite saudische Missionstätigkeit von 1970 bis 2005 reichen von 100 bis zu 150 Milliarden Dollar. Laut der Website von König Fahd weist die offizielle saudische Auslandshilfe 1973 bis 1993 einen Mittelwert von 5,5 Prozent des Bruttosozialprodukts aus, das Zehnfache des entsprechenden Haushaltsanteils westlicher Industrienationen. Fahds eigene Beiträge unter der Rubrik „Unterstützung des Islam“ werden als „astronomisch“ bezeichnet und umfassen unter anderem 210 größere islamische Studienzentren, mehr als 1500 Moscheen, 202 höhere Schulen und rund 2000 Grundschulen. Überall wird das wahabitische Bekenntnis gelehrt. Bis 2000 hat der 1984 in Medina eröffnete „King Fahd Complex for Printing the Holy Quran“ 138 Millionen Exemplare des Korans in mehr als 20 Sprachen gedruckt und weltweit verteilt. Der wahabitische Islam wird unterdessen nicht nur in alle Welt hinausgetragen, sondern zugleich den Stipendiaten eingepaukt, die jährlich zu Tausenden aus aller Welt an Saudi-Arabiens Universitäten eingeladen werden.

Das Auge des islamistischen Taifuns befindet sich derweil längst nicht mehr auf arabischem Boden, sondern in Pakistan. Ausgangspunkt der Bewegung ist die Kleinstadt Deoband 150 Kilometer nördlich von Delhi, und darin eine berühmte Lehrstätte, gegründet 1866, neun Jahre nach dem blutig niedergeschlagenen Großen Indischen Aufstand. Die Gründer, zwei Überlebende des Dschihad gegen die Briten, stehen damals schon im Bund mit den sogenannten „Hindustani Fanatics“, die im Jahrzehnt davor im Hindustal, in Swat, Buner und Pakistans heutigen westlichen Grenzgebieten zum Heiligen Krieg gegen die Briten aufgerufen haben und dies während des folgenden halben Jahrhunderts periodisch wieder tun. Die frühen Geistesgelehrten von Deoband stehen in einer Tradition der Verbindungen mit arabischen Wahabi, die bis ins 18. Jahrhundert zurückreicht und die – wiederum dank des saudischen Reichtums – eine unabsehbare Zukunft haben wird. Heute, eineinhalb Jahrhunderte nach ihrer Gründung, gilt die Hochschule Dar ul Ulum Deoband nach der Al-Azhar-Universität in Kairo als das zweitgrößte theologische islamische Zentrum der Welt.

Deoband beherbergt die Schaltzentrale von mehr als 30 000 Koranschulen in der ganzen Welt. Zur Zahl der Madrassen im Nachbarland Pakistan gibt es Schätzungen zwischen 10 000 und 40 000. Die International Crisis Group (ICG), ein aus Brüssel geleiteter Thinktank, geht von 20 000 aus. Etwa drei Viertel davon folgen den Lehren aus Deoband – in Karachi sind es 1500 von 1800. Der politische Arm der Deobandi in Pakistan ist die Dschamia Ulema-e-Islam (JUI) des Trappenjägers Fazlur Rehman. Das Netzwerk der JUI allein kontrolliert laut ICG über zwei Drittel aller Madrassen in Pakistan. An der Haqqania, einer religiösen Hochschule der JUI an der Straße von Peschawar nach Islamabad, hat ein großer Teil der Talibanführung seine Lehrjahre absolviert. Das Programm ist ganz das der saudischen Wahabi: „antipolytheistisch“ und „antiinnovativ“, das bedeutet je nach Kontext und Zielscheibe antijüdisch-christlich, antihindu, antischia – gegen alles gerichtet, was nicht dem eigenen Bekenntnis anhängt. Davon betroffen ist auch die große Sunnitenmehrheit innerhalb der Umma. Das heißt nicht weniger, als dass auf solchermaßen definierter islamischer Erde friedliche Koexistenz mit Ungläubigen oder auch nur mit Anhängern anderer muslimischer Glaubensrichtungen ausgeschlossen ist. In Afghanistan hat das Emirat der Taliban dies 1996 bis 2001 drastisch vor Augen geführt.

Auch in Europa und in den USA ist dieselbe islamistische Internationale zugange, wobei oftmals die Muslimbruderschaft die Leute stellt, denen die Muslimische Weltliga und andere saudische Quellen den Geldbeutel füllen. Hierzulande gehören dazu die „Islamische Gemeinschaft in Deutschland“, das „Islamische Zentrum München“ und das „Islamische Zentrum Aachen“, in Frankreich die „Union des Organisations Islamiques de France“. Der Dachverband der nationalen Branchen ist die „Federation of Islamic Organisations in Europe“ mit Sitz in London. Weltweit tätig ist die „Islamic Federation of Student Organizations“ und die „World Assembly of Muslim Youth“ mit Hauptsitz in Riad. Wie andere revolutionäre Eliten sprechen ihre Verantwortungsträger nicht nur für sich selber, sondern für die Umma als Ganzes. Einzelne von ihnen haben mitunter zur Gewalt aufgerufen und deshalb oder wegen allzu auffälliger Kontakte zu Terroristen rechtzeitig das Weite suchen müssen. Im Westen bildet dieses radikale Milieu bisher eine winzige Minderheit, unter den demnächst 20 Millionen in Europa lebenden Muslimen gehören ihm kaum mehr als ein Prozent an.

Dennoch: Auch den Saudis scheint das Ausmaß der Radikalisierung nicht mehr geheuer. Mit großer Verspätung haben der 11. September 2001 und mehr noch die verheerenden Selbstmordattentate gegen Wohnsiedlungen in Riad vom Mai 2003 die saudischen Behörden zu etwas mehr Kooperation im internationalen Kampf gegen den Terrorismus genötigt. Inzwischen sind Teile des von der Muslimischen Weltliga koordinierten globalen Stiftungsnetzwerks stillgelegt, auch wenn der Nebel darüber keineswegs abgezogen ist. Seit 2003 zählt das saudische Innenministerium 9000 Verhaftungen mit politischem Hintergrund, etwa 3000 der Betroffenen sollen derzeit noch einsitzen.

Entscheidend bleibt die Frage nach der Ernsthaftigkeit und den Aussichten der staatlichen saudi-arabischen, pakistanischen und jemenitischen Bemühungen, den extremistischen Geist in die Flasche zurückzubefördern. Allerdings ist schwer zu sehen, was ein Bekenntnis wie das wahabitische an ideologischen Rezepten zur Terrorbekämpfung bereithalten könnte. Es gibt theologische Konzeptionen, die für religiösen und politischen Pluralismus keinen Raum vorsehen: Meinungsverschiedenheit in Glaubensfragen bedeutet für Wahabi Feindschaft, was zwar noch nicht per se Gewalt rechtfertigt, aber durchaus politische Implikationen hat. So heißt es heute noch in saudischen Schulbüchern: „Es ist unzulässig, ein loyaler Freund von jemandem zu sein, der sich Gott und dem Propheten widersetzt.“ Oder: „Wer Gott ablehnt, und wäre es auch dein leiblicher Bruder, ist dein Feind in der Religion.“ In der Haltung Andersdenkenden gegenüber markieren solche Maximen das eine Ende des wahabitischen Spektrums. Das andere Ende verdeutlicht ein Zitat von Yusuf al Uyairi, Sprecher, Webmaster und wichtiger Ideologe von Al Qaida, bis er 2004 von der saudischen Polizei erschossen wird: „Unsere Religion ist die Religion des Abschlachtens der Ungläubigen, des Ausmerzens jener, die sich nicht unterwerfen.“

Zugleich zählt die Da’wa, die Verbreitung des wahren Glaubens, für alle Rechtgläubigen zu den vorrangigen Obliegenheiten. Erklärtes Ziel der Da’wa ist die Heimführung der gesamten Menschheit in die Umma. Mit welchen Mitteln und unter welchen Umständen dem redenden Überzeugen in der Verbreitung von Gottes Wort nachgeholfen werden darf und muss, ist die zentrale Frage. Gegen wen und unter welchen Umständen ist die Mission der Da’wa durch den Dschihad, den legitimen oder sogar jeden Gläubigen verpflichtenden Heiligen Krieg zu ergänzen? Handelt es sich dabei um eine individuelle oder um eine kollektive religiöse Pflicht? Im ersten Fall hat der Gläubige von sich aus aktiv zu werden, im zweiten Fall nur auf Anweisung des Führers seiner Gemeinschaft zu handeln. Wer hätte in diesen Fragen zu bestimmen? König Abdallah als der weltliche Herrscher oder der Großmufti Abdul-Aziz Ibn Abdullah al Sheikh als das religiöse Oberhaupt der saudischen Wahabi? Oder aber, wie in Saudi-Arabien, Jemen, Pakistan bis heute viele meinen, Osama Bin Laden, der „Emir“ von Al Qaida? Beobachter des islamischen Extremismus verweisen stets auf eine vom staatlichen Sicherheitsdienst in Saudi-Arabien durchgeführte Umfrage von 2002, laut der auch nach dem Anschlag auf das World Trade Center 95 Prozent der saudischen Männer zwischen 25 und 41 Jahren die Sache Bin Ladens unterstützen. In Pakistan, darüber sollte man sich im Klaren sein, ist der aus Jemen stammnde Saudi bis heute die bei weitem populärste politische Figur.