Die Welt auf Ratsuche bei Kennedy
Nicht nur wegen des 50. Jahrestags, der in drei Monaten ansteht, ist derzeit viel vom einstigen US-Präsidenten John F. Kennedy und der Kuba-Krise die Rede, obwohl es hier in der Tat etwas zu feiern gibt: freilich weniger die Raketenkrise vom Oktober 1962 als deren friedliche Beilegung. Vermutlich waren das die bisher gefährlichsten Tage in der Geschichte unserer Spezies. Der Balanceakt am Abgrund eines nuklearen Schlagabtauschs zwischen den damaligen Supermächten findet so viel Aufmerksamkeit als Meisterstück und Leitfaden für jede bedeutende Herausforderung der Krisendiplomatie seither und dieser Tage vor allem im Hinblick auf den Griff des iranischen Regimes nach der Atombombe.
Obschon sich eine Lösung nicht abzeichnet, nimmt sich das diplomatische Ringen um einen iranischen Verzicht auf die Bombe in vielen Punkten wie eine Zeitlupenrepetition des karibischen Musters aus. Vom 14. bis 17. Oktober 1962 erbringt eine Reihe amerikanischer Aufklärungsflüge über Kuba fotografische Belege der Stationierung sowjetischer Mittel- und Langstreckenraketen, 150 Kilometer vor der Küste der USA. Diese Erkenntnisse werden bis zum 22. Oktober geheim gehalten, auch während eines schon länger geplanten Besuchs des sowjetischen Aussenministers Gromyko im Weissen Haus am 18. des Monats. Der sofort berufene Beraterstab des Nationalen Sicherheitsrates, genannt ExComm (Executive Committee), erörtert unterdessen die Optionen.
Am Abend des 22., einem Montag, unterrichtet Kennedy in einer Fernsehansprache die Welt, fordert den sowjetischen Parteichef Chruschtschow zum unverzüglichen Abzug der Raketen auf, verkündet eine Seeblockade der Insel mit Wirkung auf den 24. Oktober und droht für den Fall eines Angriffs mit einem nuklearen Gegenschlag. Im Kreml lässt er wissen, dass die sowjetische Führung für jeden Angriff aus Kuba verantwortlich gemacht würde, gleichgültig, welchen Anfang er nähme. Chruschtschow zeigt zunächst keine Bereitschaft zum Einlenken. Über Kuba wird ein amerikanisches Aufklärungsflugzeug abgeschossen, ohne sowjetische Autorisierung, wie sich herausstellt. Fidel Castro fordert für den Fall einer US-Invasion einen atomaren Erstschlag gegen amerikanisches Territorium. Die Berater des ExComm unterbreiten Kennedy die Alternative: entweder Angriff und Invasion oder Hinnehmen der Raketenstationierung.
US-Präsident John F. Kennedy findet einen Weg, der unerspriesslichen Alternative zu entkommen. Von den drei Elementen seiner Botschaft an den Kreml bleiben zwei hochgeheim, im letzten Punkt wird nicht einmal das ExComm ins Vertrauen gezogen: erstens ein öffentliches Versprechen, bei einem Abzug der Raketen von einer Invasion abzusehen, zweitens ein geheimes Ultimatum, im gegenteiligen Fall binnen 24 Stunden anzugreifen, und drittens, als ein ebenfalls geheim gehaltenes Zückerchen, die Zusicherung des von Chruschtschow gewünschten Abzugs der in der Türkei stationierten amerikanischen Jupiter-Raketen binnen sechs Monaten. In geheimer Mission überbringt Kennedys Bruder Robert dieses Angebot dem sowjetischen Botschafter Dobrynin persönlich. Tags darauf, am Sonntag, dem 28., gibt Chruschtschow über Radio Moskau den Rückzug der Raketen und anderer nuklearer Waffen aus Kuba bekannt.
Zwei Tage später rügt Nikita Sergejewitsch Chruschtschow in einem Brief Fidel Castro: «Sie haben uns vorgeschlagen, als Erste einen nuklearen Schlag gegen das Territorium des Feindes auszuführen. Sie wissen sicherlich, was das für uns zur Folge gehabt hätte. Dies wäre nicht ein einfacher Schlag, sondern der Beginn des thermonuklearen Krieges. Lieber Genosse Castro, ich halte Ihren Vorschlag für inkorrekt.» Vielleicht war bei der Entscheidung Chruschtschows auch Angst im Spiel, die Kontrolle über die Ereignisse in Kuba zu verlieren.
Seit einer Historikerkonferenz im Jahr 2002 weiss man von damaligen Befehlshabern der Sowjetstreitkräfte, dass 40 000 Rotarmisten sowie 42 Raketen mit etwa 80 Atomsprengköpfen auf der Insel Kuba stationiert waren, und ausserdem taktische Atombomben, deren Einsatz bereits autorisiert war. Die Bevölkerung der Vereinigten Staaten verbrachte mehrere Tage unter der Defense Condition 2, der höchsten Alarmbereitschaft der Streitkräfte unterhalb des Kriegsfalles, und ein New Yorker Bekannter, der uns gestern besuchen kam, erzählte, wie seine Highschool in Queens Luftschutzübungen absolvierte.
In beiden Fällen, Kuba und Iran, kommen nicht vollends berechenbare Stellvertreter dazu, wenn auch bei anders verteilten Rollen: Kubas Revolutionsführer Fidel Castro als Marionette Moskaus im Hinterhof der USA damals, Israels Premier Benjamin Netanyahu als quasi-amerikanische Speerspitze im Nahen Osten heute.
In den letzten Wochen war eine massive Verstärkung der amerikanischen Militärpräsenz am Golf zu beobachten. Das Ringen mit Iran, in dem sämtliche Araber ausser dem Syrer Assad auf der Seite der USA – und Israels! – stehen, ruft vor allem zwei besondere Lektionen aus der Kuba-Krise von 1962 ins Gedächtnis:
Erstens ist diplomatische Konfliktbewältigung in aller Regel auf geheime Elemente angewiesen, die der Öffentlichkeit aus Rücksicht aufs eigene oder gegnerische Prestige nicht preisgegeben werden dürfen.
Und zweitens schränkt das Fehlen einer glaubwürdigen Gewaltandrohung diplomatischen Druck in seiner Wirksamkeit empfindlich ein. Diese letztere Einsicht lehren uns die deprimierenden Endlosschlaufen der Korea-Diplomatie. Der Fall Iran lässt uns bis auf Weiteres im Unklaren über die Natur und Aussichten dieses Pokers.
Zieht man eine militärische Option ernsthaft in Erwägung? Wir wissen es nicht. Aber solange verhandelt werden soll, darf der Feind nicht vom Gegenteil überzeugt sein.