Aus Ägypten nichts Neues

Kolumne erschienen in der «Basler Zeitung», 22.06.2012

Eine Protestbewegung, die während mehrerer Wochen in allen grossen Städten Ägyptens Millionen auf die Strasse brachte, hat vor einem Jahr und vier Monaten das Staatsoberhaupt des Nillandes aus dem Amt befördert und anschliessend hinter Schloss und Riegel gebracht. Von 1981 bis 2011 hatte die Herrschaft des Regimes von Muhammad Hosni El Sayed Mubarak gedauert, 30 Jahre des Ausnahmezustandes, ein Regime unter Kriegsrecht.

Der gestürzte, todkranke Präsident, 1973 im letzten Krieg gegen Israel gefeierter Kommandant der Luftwaffe und von seinem Vorgänger Sadat zum Air Chief Marshall befördert, war wie seine Vorgänger Oberbefehlshaber der Streitkräfte. Zwei Tage vor seinem Rücktritt trat unter Hosni Mubaraks Vorsitz Ägyptens Oberster Rat der Streitkräfte zusammen. In dessen Hände legte er am 11. Februar letzten Jahres die Staatsgeschäfte. Im folgenden Monat legte der Militärrat dem ägyptischen Volk ein Verfassungsreferendum vor, dessen Annahme Ägyptens erste Wahl eines Parlaments im freien Parteienwettstreit ermöglichte. Nachdem ein Verfassungsgericht, besetzt noch durch Ernennungen Mubaraks, das Wahlverfahren für nicht verfassungskonform erklärt hatte, wurden die vom 28. November bis zum 10. Januar gewählten 508 Abgeordneten letzte Woche wieder nach Hause geschickt.

Vergangenen Sonntag, am Tag von Ägyptens erster kompetitiver Präsidentschaftswahl, gab sich der Militärrat per Dekret Budgethoheit und erweiterte legislative Befugnisse, die einer Rückkehr zu Mubaraks dreissigjährigem Kriegsrecht gleichkommen. Während die Militärjunta weiterhin eine Übergabe der Macht an den gewählten zivilen Staatschef per Ende dieses Monats verspricht, erklärt ein Jurist ihres beratenden Beirats, dieser werde das Amt ohnehin nur interimistisch besetzen können, bis eine neue Verfassung in Kraft sei.

Für deren Erarbeitung haben die 100 Köpfe der verfassunggebenden Versammlung, die seit Anfang Monat endlich steht, eine Frist von sechs Monaten. Dies soll demnach auch die Amtszeit des neu gewählten Staatsoberhauptes sein. Unerfindlich ist, worin überhaupt die Macht des Wahlsiegers bestehen sollte. Spitze Zungen in Ägypten vergleichen sie mit jener von Queen Elizabeth II.

Das Resultat war nahezu halb und halb: Die Hälfte der Wähler stimmte für Mohammed Morsi und die Muslimbrüder, die andere sicher entschlossen gegen diese und weit weniger für Ahmed Shafik oder das alte Regime, das er repräsentiert. Erklärtermassen wird der Staatschef, anders als seine Vorgänger, nicht Oberbefehlshaber der Streitkräfte sein, die weiterhin nur dem eigenen Kommando unterstehen werden. Die Meinung, zu irgendeinem Zeitpunkt habe irgendein Teil der Macht im ägyptischen Staat woanders als bei ihnen gelegen, wäre sowieso vollständig irrig.

Auf ihrer Seite zu Mubarak führt die englische Wikipedia als dessen Nachfolger an der Staatsspitze sehr zutreffend den Vorsitzenden des Militärrats, Feldmarschall Mohammed Hussein Tantawi, einst Kommandant von Mubaraks Präsidialgarde und seit 1991, also während 20 Jahren, sein Verteidigungsminister.

Hätten Beobachter und Kommentatoren mehr zu wissen brauchen? Anders als eventuell Syrien, ist das Nilland nicht einfach eine postkoloniale Fehlkonstruktion aus Trümmerstücken des Osmanischen Reichs, die keine Nation ergeben, sich zu keinem sinnvollen Staat zusammenfügen lassen und deshalb bei der ersten Lockerung des eisernen obrigkeitlichen Griffs auseinanderstreben.

Im Gegenteil ist Ägypten, wenn es so etwas denn gibt, ein monolithischer Koloss, der unter dem bleiernen Gewicht einer politischen Geschichte mit ungemein eintönigen Zügen seine selbsterzeugten Schwingungen zu dämpfen gewohnt ist. Denn nicht erst seit 1952, in der unabhängigen Republik der letzten 60 Jahre, lebt Ägypten unter einer Militärdiktatur.

Von Heerführern beherrscht wurde Ägypten spätestens seit 332 v. Chr., als Alexander der Grosse das Land erobert hatte, ohne jede Unterbrechung und dies obendrein ausnahmslos unter fremder Herrschaft während über 2300 Jahren bis nach dem Zweiten Weltkrieg.

Auf 1000 Jahre griechischer, römischer und byzantinischer Heere folgte ein halbes Jahrtausend Fremdherrschaft der Araber aus Mekka, Damaskus und Bagdad sowie schliesslich des tunesischen Kairouan, dann siebenhundert Jahre kurdischer, zentralasiatischer, tscherkessischer und türkischer Despoten, zuletzt ein Jahrhundert Vormundschaft britischer Schutzherren.

Immer wieder waren die Herrscher die Sklaven oder Söldner ihrer Vorgänger, ein klassisches Beispiel dafür waren die Mameluken-Sultane. Diese, 54 an der Zahl, folgten 1250 auf die Kurdendynastie Saladins und herrschten in den langen 267 Jahren bis zur türkischen Eroberung im Jahre 1517. Die osmanischen Sultane in Konstantinopel regierten Ägypten mit den Mameluken als ihren Repräsentanten weiter und später mit albanischen und anderen Söldnerführern vom Balkan. Diesem Muster folgen die ägyptischen Militärs, auch seit sie untereinander alleine sind.

Die Macht erben die Söldner der Vorgänger. Wenn diese zum Tod oder wie Mubarak soeben nur zu lebenslänglicher Haft verurteilt worden sind, ändert das daran nichts. «Mubaraks Pudel», war Verteidigungsminister Tantawis Kosename beim mittleren Offizierskorps. In Ägypten offenbar immer noch eine vielversprechende Auszeichnung.

Derweil sendet die ägyptische Revolutionsfarce erlösende Wetterzeichen an andere verunsicherte Potentaten in der arabischen Nachbarschaft, die zwar womöglich um den eigenen Kopf, aber keine Umzingelung durch Demokratie und Freiheit zu fürchten haben.