Arzt und Gott in Afrika
Gewiss, auch hier in Nairobi nicht alle Tage zwar, aber zuverlässig immer einmal wieder, auch nach 15 Jahren noch, passieren einem Dinge zum ersten Mal im Leben. Das hält geistig wach. Zum ersten Mal bin ich unlängst einem hier niedergelassenen Psychologen begegnet. Eine Rarität – im Telefonbuch dieser Viermillionenmetropole finde ich acht Psychiater und vier Psychologen oder Beratungsstellen.
So wollte ich geradewegs von ihm berichten, wobei sich allerdings herausstellte, dass ich Sie, liebe Leserinnen und Leser in aller Welt, damit auf ein nächstes Mal vertrösten muss. Da der Teufel in den Umständen steckt, muss ich doch zuerst versuchen, Ihnen davon eine eingestandenermassen vage Vorstellung zu vermitteln. Für Genaueres wäre vielleicht dem Schweizerischen Nationalfonds eine Studie darüber vorzuschlagen, wie und mit welchem Erfolg die Seelenheilkunde in anderen Ländern mit weniger schulgerecht ausgebildetem Personal auszukommen sucht.
Afrika südlich der Sahara mit rund einem Achtel der Weltbevölkerung hat am gesamten qualifizierten medizinischen Personal auf dem Planeten einen Anteil im Bereich von 1,3 Prozent. Nach der aktuellsten Angabe in ihrem African Regional Health Report von 2010 hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) 2002 im Nachbarland Tansania 822 Ärzte gezählt. Bei einer Bevölkerung von zu diesem Zeitpunkt rund 35 Millionen ist das einer auf etwas über 40 000 Einwohner. Man halte sich vor Augen: vier Ärzte in Graubünden, zehn in der Stadt Zürich. (Die Zahl der tansanischen Zahnärzte wird mit 267 angegeben, was einem auf 130 000 Einwohner entspricht.)
Es liegt auf der Hand, dass unter solchen Umständen den ungezählten Kirchen grössere Bedeutung zukommt als in den hoch entwickelten Ländern. Man ahnt bereits auch, dass es da, wenn Gott der Herr die Hilferufe nicht erhört, an einer weiten Palette von Selbsthilfeversuchen nicht fehlen kann. Schätzungen der Zahl traditioneller Heiler in Tansania reichen von 75 000 bis 100 000 – auf 100 davon kommt ein Schulmediziner.
Es geht nicht darum, die Naturheilkunde geringzuschätzen. Aber leider zeichnet sich die Natur dieser Sache eben dadurch aus, dass in ihrem Unterholz mehr als nur zweifelhafte Praktiken grassieren. So sind in den letzten Jahren ebenfalls in Tansania zu Dutzenden Albinos umgebracht worden. Ihre Knochen werden zu Puder gemahlen, das den Geschäftsleuten und den Politikern die glückliche Hand lenken, den Fischern auf dem Victoria-See reichere Beute ins Netz locken und den Bergleuten in den Minen den Weg zur Goldader weisen soll.
Europäer lehrt die eigene Geschichte, zu welchen Scheusslichkeiten der Aberglaube Menschen verleiten kann, nicht zuletzt im Namen des kirchlichen Hochamtes. Völkerkundler haben im vergangenen Jahrhundert viel Zeit in Afrika verbracht und waren auf demselben Terrain unterwegs wie Religionswissenschaftler und Religionsphilosophen überall: auf dem Terrain der Ungewissheiten und Zufälligkeiten menschlicher Existenz und deren Bewältigung.
«Hexerei, Orakel und Magie bei den Zande» ist der Titel der 1937 erstmals erschienenen, berühmtesten einschlägigen Studie von Edward E. Evans-Pritchard (1902–1973). Ein von Termiten in Mitleidenschaft gezogener Getreidespeicher stürzt ein, und dabei kommen Bauern zu Schaden, die in seinem Schatten vor der Mittagshitze Schutz gesucht haben.
Weder der Kollaps des Bauwerks noch die Präsenz der Feldarbeiter verlangen nach einer Erklärung, die auf das Wirken übernatürlicher Kräfte zurückzugreifen hätte. Erst mit dem verflixten Zusammentreffen der beiden an sich eigentlich wenig wunderträchtigen Kausalketten exakt an diesem Ort – exakt zu diesem Zeitpunkt – kommt die Hexerei ins Spiel.
Mit den Modernisierungsschüben der letzten 100 Jahre ist das Leben auch in Afrika nicht berechenbarer geworden. Seit Evans-Pritchard haben Generationen von Afrikanisten mit der Vorstellung aufgeräumt, wonach es sich bei Zauber und Hexerei in Afrika einfach um festgetretenes Traditionsgut stagnierender Gesellschaften handeln würde. Vielmehr fügen sie sich in einen dynamischen Prozess, der auf sich ständig wandelnde Umstände reagiert und in einer zusehends unübersichtlichen Lage das Ringen um Kontrolle widerspiegelt. Die übernatürlichen Rezeptsammlungen lassen sich nicht trotz, sondern vielmehr gerade als Ausdruck von offenkundiger Ohnmacht als Katalog moderner Unzufriedenheiten und Unzulänglichkeiten entziffern, als Verzeichnisse der sich mehrenden Punkte, wo der Schuh drückt.
Wenig anders, mögen wir denken, als das wachsende Ratgeber- und Esoterikprogramm unseres europäischen Buchhandels. Zumal in einem Wachstumsmarkt wie dem afrikanischen die Anbieter von bösen Wundern und vom Schutz dagegen alles Interesse an einer robusten Nachfrage haben.
In Afrika habe ich nur wenige Menschen getroffen, die mir wie der marokkanische Romancier Mohamed Choukri versichert hätten: «Non, Georges, il n’y a pas de magie, il n’y a que de poison.» Magie gibt es nicht, nur Gift.
Aber es gibt die Angst, warf ich damals ein, die in manchen Lebenslagen wahrhaft Wunder wirken kann. Angst ist der Rohstoff der Hexerei, nirgendwo knapp, und zu ihrer eigenen Überwindung ist Angstmacherei zu oft wiederum das einzige Gegenmittel.
Und wer mag sich schon ohne Not mit seinem Unglauben zu weit auf die Äste hinauslassen! Ein offenkundig zu allem entschlossener Feind kann uns allein mit seiner unzweideutig teuflischen Intention genügend Gänsehaut auf den Leib zaubern, bevor wir uns restlos vergewissert haben, ob er tatsächlich über die Macht verfügt, seine Drohung wahrzumachen.