Schweizer Volkswille

Kolumne erschienen in der «Basler Zeitung», 27.04.2012

Liebe Leserinnen und Leser in aller Welt, diesmal schreibe ich Ihnen nicht aus Nairobi, sondern bloss vom anderen Ende der deutschen Schweiz, aus meinem Heimatort Arosa in den höheren Lagen Mittelbündens.

Mein freisinniger Vater sagte mir, als meine ersten Barthaare sprossen und der Jahrgang der älteren Schwester zur Jungbürgerfeier geladen war, ein normal gelagerter Bündner schätze es oft nicht, wenn immer wieder von der Regierung von Bern aus bis nach Graubünden hineinregiert werde. Das kommt vor, und am jüngsten beispielhaften Zweifelsfall wird sich wieder einmal zeigen, dass es dafür Gründe geben kann (und übrigens öfter ebenfalls Gründe gäbe, wenn es unterbleibt). Im Bündnerland gibt es Dickschädel, die zum eigenen Glück nur von höherer Stelle gezwungen werden können. Nicht, dass es in der Schweiz dazu der Berner Zentralregierung bedürfte, denn das Schweizer Volk tut es durchaus allein und wenn nicht ganz aus eigenem Antrieb, dann animiert durch die Bauernfängerei einer Partei oder einer anderen dem Gemeinwohl verschriebenen Körperschaft. Unser Volk hat ja, umso mehr, als es nicht immer zufrieden ist, seinen Willen, auch wenn es sich nicht immer im Klaren ist, wie dieser in Gesetzesform exakt zu lauten hätte. In den vergangenen Jahren haben wir das in Fällen wie der Verwahrungs-Initiative oder der Unverjährbarkeits- Initiative gesehen und unlängst wieder bei der Zweitwohnungs-Initiative. Mitunter möchte man sich fragen, ob nicht auch das Volk, obschon der Souverän persönlich, sich selber bereits Gesetzesvorlagen zur Abstimmung zu bringen hätte, statt rechtlich vage gefasste Aufgaben an Gesetzgeber und Exekutive, welche diese nicht anständig und bisweilen nicht einmal menschenrechtskonform zu lösen vermögen.

Doch bekanntlich ist die Schweiz eine Demokratie, eine direkte obendrein. Über diese Tyrannei der Mehrheit, wie vor 2300 Jahren der bisher einflussreichste politische Philosoph Aristoteles unsere Staatsform qualifizierte, hat mich wenige Monate nach meiner eigenen Jungbürgerfeier – 1973 war das – Professor Werner Kägi in seiner Staatsrechtvorlesung an der Universität Zürich aufgeklärt. Nein, die Schweiz sei kein Rechtsstaat, dozierte Kägi, was daran liege, dass dem Souverän in seinen Entscheidungen keine materiellen Schranken auferlegt seien. In der Schweiz, heisst das, kann das Volk an der Urne nicht nur menschenrechtswidrige Entscheide wie das Minarettverbot fällen. Es könnte auch Einrichtungen wie die Gewaltentrennung abschaffen, ja sogar seine eigene Herrschaft.

Das Schweizer Volk kennt weder Verfassungsrecht noch Verfassungsgerichtsbarkeit und also nichts, was es daran hindern könnte. Es darf alles, was es will, und eine Mehrheit könnte in der Schweiz beschliessen, eine Minderheit, die ihr nicht passt, wegzuschliessen, und wären es die Walliser. Keinem, der dieses Volk liebt, kann es deshalb ganz geheuer sein, sobald es sich in Richtung Abstimmungslokal aufgemacht hat. Ein jeder hat um es und für es zu fürchten.

Nun hat also eine Mehrheit unseres Volks entschieden, einigen qualifizierten Minderheiten den Bau von Zweitwohnungen zu verbieten. Sind diese Letzteren deshalb zu bedauern? Das ist zugleich die Frage, in wessen Namen ich hier sprechen will.

In Arosa gibt es schon seit etlichen Jahren mehr Zweitwohnungen als Haushalte von Niedergelassenen, und diese leben, so lange sie sich die Kundschaft nicht aussuchen können, zu einem guten Teil von den Benützern jener.

Ich bin kein Anwalt einer über alle Ufer tretenden Bauwirtschaft, die nicht nur ihre Leistungserbringer samt und sonders, sondern tendenziell die gesamte Stammbevölkerung eines Dorfs von 2700 Seelen in Immobilienspekulanten verwandelt. Doch auf meine Meinung hat niemand gewartet, und wie Figura zeigt, sind die Zementbarone ohne meine Wenigkeit viel zu mächtig, als dass lokale Behörden und die gewählten Politiker das Problem mit den traditionellen Instrumenten der Raumplanung in den Griff bekommen könnten. Diesen Umstand zu missbilligen und zu beklagen, bringt herzlich wenig. An einschlägigen Ermahnungen von Bund und Kanton fehlte es nicht, und tatsächlich blieben diese nicht ganz ohne Wirkung. In Arosa hat ein vom kommunalen Stimmvolk 2010 verabschiedetes Gesetz über Lenkungsabgaben auf neu erbauten Zweitwohnungen viel Geld in die Gemeindekasse gebracht, doch erwartungsgemäss ohne deren Zunahme zu stoppen.

Der Unfähige vergibt das Recht, sich zu beschweren, wenn ihm von höherer Stelle beigesprungen wird. Folgt daraus automatisch, dass die Therapie die geeignete ist?

Worum ging es? Um weniger Beton in der touristisch attraktiven Landschaft? Darum, den Preis der Zweitwohnungen hinaufzutreiben?

Wer soll nun künftig eine solche Zweitwohnung besitzen dürfen und wer nicht? Eine augenfällige Diskriminierung des Nachwuchses wird offenbar in Kauf genommen, nicht nur seitens der Bauwirtschaft, sondern ebenso seitens ihrer Nachfrage.

Schon mein Grossvater sagte, Arosa sei ein Goldgräberdorf. Nun, nachdem die Väter also doch kein Vorbild waren, soll ein guter Teil des edlen Metalls nicht mehr geschürft, ja gar nicht erst gefunden werden dürfen.

Wie wäre es, wenn anstelle der von unserem lieben Volk verpassten Würgebehandlung die zuständigen Bundesbehörden den betroffenen Gemeinden rechtzeitig Hausaufgaben gegeben hätten?

Seit Längerem ist niemandem verborgen geblieben, dass Raumplanung nicht als Eigenleistung einer Bauwirtschaft erwartet werden darf, die in ihrem Heisshunger auch ohne Architekten auskommen will, die den Namen verdienen.