«Korrupt» – ein böses, korruptes Wort

Kolumne erschienen in der «Basler Zeitung», 03.02.2012

Letzte Woche hatte ich diese ewigliche, immerwährende Diskussion wieder einmal, und zwar mit zwei Schweizer Besuchern in Nairobi, einer der Metropolen Afrikas. «Korrupt» – was soll das heissen? Nimmermüde kann ich wie stets nur das Gleiche sagen.

Vom Sein hat der Grieche Aristoteles gelehrt, es werde in mehrfacher Bedeutung ausgesagt. Aber noch mehr Begriffe gibt es, wenn man sie denn so nennen kann – der Geist nach Hegel, die Nächstenliebe im Neuen Testament, das Sexuelle nach Freud – welche, so viel ist ihnen allen gemeinsam, die Schwerkraft von schwarzen Löchern entfalten und alles, was uns in diesem Universum je begegnen kann, spurlos zum Verschwinden bringen. Versuchen wir, für einen Augenblick unser Gesichtsfeld einzuschränken auf eine Vokabel wie «korrupt», und alsbald spüren wir, wie uns das schwerfällt. «Korrupt» kurzerhand mit «bestechlich» gleichzusetzen, wäre eine unzulässige Einengung des Begriffs, der durchaus ohne direkten Bezug auf Geld auskommt. Mit der weniger handgreiflichen Macht von Beziehungen breitet sich ein weites Feld aus, nicht nur überall, wo sich etwa das Wort Geschäft mit dem Wort Freundschaft verbindet, sondern auch genauso im Schacher um Positionen und um Ämter.

In manchen Ländern gewährt das Gesetz engsten Verwandten Straferlass – wenn auch nicht für Beihilfe zu einem Verbrechen, so doch für stumme Mitwisserschaft. So kann sich die Familie, dieses tragende Element der Gesellschaft, als Keimzelle der Korruption erweisen. Als Inbegriff der staatsbürgerlichen Tugenden verliert die Integrität – wohl der Gegenbegriff zu «Korruption»? – sich in Grauzonen, wo Loyalitäten persönlicher Art unsere unbedingte Gesetzestreue aufweichen und höheren Prioritäten unterwerfen.

Für Korruption jedoch ist Gesetzesbeugung nicht einmal eine notwendige Bedingung, denn der Begriff muss grundsätzlich jede Form institutionalisierter Begünstigung oder Benachteiligung einschliessen.

«Korrupt» nun ist in allererster Linie ein Wort, nicht wahr, das die Verhältnisse in der «Dritten Welt» beschreiben soll. Als deren grosses Zentrum gilt Afrika mit seinen 52 Staaten und einem Siebentel der Weltbevölkerung. In China leben einige Menschen mehr, ebenso im superkorrupten Indien, und an deren gemeinsamen Nachbarn Pakistan, in wenigen Jahrzehnten das drittbevölkerungsreichste Land der Welt, reicht an Korruption niemand heran.

Sicher, längst nicht alles, was Korruption heisst in der «Dritten Welt», kommt vom Staat. Nicht bloss Schalterbeamte von Behörden, auch Postboten sind gezwungen, «tips» und «bribes», Trink- und Schmiergelder, zu nehmen, ohne die keiner seine Kinder zur Schule schicken könnte. Aber alles, was dort Staat ist oder einmal war, heisst «Korruption». Angesichts der Verhältnisse in Ländern, wo die gefährlichste und destruktivste kriminelle Energie sich rund um die Staatsspitze konzentriert, käme es darauf an, die Verbrechen einzeln bei ihren korrekten und wohlbekannten Namen zu nennen: Bestechung, Erpressung und Nötigung, Veruntreuung und Unterschlagung, Diebstahl, Plünderung und Freiheitsberaubung, Folter und Mord. Stattdessen gibt es für das alles dieses eine Wort, im Singular: «die Korruption».

Heillose Verwirrung stiftet obendrein die Frage, wer denn der eigentliche Übeltäter (und wer der Profiteur) ist, derjenige, welcher Bestechungsgeld nimmt, oder der, der es bezahlt. Was die Dinge zusätzlich kompliziert: Hat der Erstere es gefordert oder kam vom Letzteren eine Geschenksofferte? Lässt sich das immer schlüssig klären? Offeriert in einem EU-Land ein Unternehmer einem Beamten Geld für einen Staatsauftrag, riskiert er ein Strafverfahren, aus dem er nicht schöner hervorkommt als der Beamte, falls der sich bestechen lässt.

Das verhält sich in Afrika meistenteils anders. Andersherum freilich ist es hierzulande für den Empfänger öffentlicher Dienstleistungen eine Überlebensfrage, dabei mitzuwirken, die unbezahlte öffentliche Hand samt ihrer Familien über die Runden zu bringen. Um wie viel schlimmer nämlich hätte man sich die Lebenslage – und nicht nur den Strassenverkehr – vorzustellen, wenn es statt dieser durch und durch korrupten Polizei gar keine gäbe?!

Korruption gibt es auf der ganzen Welt. Aber in von oben bis unten befallenen Staaten und Gesellschaften, die wir pauschal als «korrupt» identifizieren, betreibt der Begriff «Korruption» auf der einen Seite eine grobfahrlässige bis vorsätzliche Verharmlosung, welche schwerste Verbrechen gegen das Gemeinwohl in den Rang einer administrativen Inkompetenz herabstuft.

Der Unbegriff, der vielleicht häufiger noch als ein Verbrechen einen Akt purer Notwehr bezeichnet, kriminalisiert auf der anderen Seite ganze Gesellschaften, die im Überlebenskampf gegen kriminelle Regierungen tagtäglich ihr bewundernswertes Standvermögen beweisen. In der «Dritten Welt» ist «Korruption» ein Fremdwort von exakt derselben distinktiven Kraft wie das Wort «Schweinerei». Während es Recht und Gerechtigkeit fordern will, betreibt es das Gegenteil, zieht vor den Verbrechen und Gebrechen, die es charakterisieren soll, einen grossen Vorhang, deponiert alles auf ein und demselben Müllhaufen, dessen Anblick es erspart.

Man muss fragen, ob denn das Wort nicht schon selber etwas durchaus Korruptes, ja beinahe etwas Kriminelles hat. Anders als beim Sein und seinem Begriff, der doch für den Philosophen Aristoteles und manche Denker nach ihm unentbehrlich blieb, wäre eine Welt nicht erst ohne alle Korruption, sondern nur schon ohne dieses Wort eine – wenn auch um eine Spur bloss – bessere Welt.