Frohbotschaften haben es schwer

Kolumne erschienen in der «Basler Zeitung», 06.01.2012

Im Sommer des vergangenen Jahres, als uns die Auf-, Aus- und Zusammenbrüche rund ums Mittelmeer und südöstlich davon in Atem hielten, besorgte ich das neue Buch meines Redaktors Eugen Sorg: «Die Lust am Bösen. Warum Gewalt nicht heilbar ist». Darum, las ich darin, weil die Neigung dazu nicht aus der Kinderstube oder deren gesellschaftlichem Umfeld kommt, wie es Sozialpädagogen gerne sähen. Weil sie kein erworbener Defekt, sondern angeboren ist, und jede andere Sicht eine gefährliche Illusion, ein verharmlosender Tagtraum von Therapeuten.

In Sorgs Essay ist viel, aber keineswegs nur von Krieg die Rede, sondern ebenso von Gewaltgräueln in unserer schöneren, jedoch mit schwarzen Löchern gespickten hochzivilisierten Alltagswelt. Seine «unbequeme Antwort auf die Frage, warum ganz normale Menschen zu mitleidlosen Tätern werden», wie der Verlag Nagel & Kimche schreibt, wurde kürzlich mit dem Deutschen Reporterpreis für den besten Essay preisgekrönt.

Eine schlüssige Antwort auf die Frage, was und mit welchem Erfolg gegen dieses traurige evolutionäre Erbe unserer Spezies allenfalls aufgeboten werden kann und bis heute bereits in die Wege geleitet wurde, ist damit allerdings noch nicht gegeben. Offen bleibt zudem, woher Udo Jürgens seine Zuversicht nimmt, wenn er singt: «Die Menschen sind alle verschieden, die Menschen sind hart oder weich.»

Daraufhin quälte ich mich durch ein Opus im Umfang von Tolstois «Krieg und Frieden»: nämlich durch Philip Zimbardos «Der Luzifer-Effekt. Die Macht der Umstände und die Psychologie des Bösen». Endlos repetitive Seiten, von Zimbardos weltbekanntem Gefängnisexperiment mit Studenten in Kellerräumen der kalifornischen Stanford University 1973, so berühmt wohl, weil so verheerend verlaufen, bis in den irakischen Gulag von Abu Ghraib, wo nach dem Sturz von Saddams Massenmörderregime das Personal der US-Besatzungsmacht, statt die Anlage zu schliessen, selber folterte, teilweise mit tödlichem Ausgang. «Abu Ghraib ist überall», ging durch die Medien der stumpfsinnige Slogan. Nie versäumen die, nebenbei klarzumachen, dass wir nicht auf Psychologen warten müssen, um herauszufinden, dass wir depressive Neigungen in uns fördern, wenn wir uns zu viel mit deprimierenden Dingen befassen.

Aber Zimbardo geht es weniger um soziale Zustände, die über Lebensläufe Charaktere formen, sondern mehr um Umstände und gruppendynamische Konstellationen am Tatort, welche eine grosse Mehrheit von uns in Monster verwandeln können. Zimbardo untersucht den «normalen» Charakter, der einer extremen Situation ausgesetzt ist. Gemäss Zimbardos Begriffspaar hat unser Verhalten situative Ursachen und dispositionelle, in den individuellen Gegebenheiten unserer Persönlichkeit liegende, Ursachen.

Und in vierzig Jahren Forschung hat sich für ihn erhärtet, dass vor allem bei aussergewöhnlichen Umständen die situativen Ursachen das bei Weitem grössere Gewicht haben, als sich dies voraussehen lässt. Eine Konklusion nicht ohne Hoffnungsschimmer, denn tatsächlich konnte der Spektrum-Verlag letztes Jahr Zimbardos Riesenwerk von 2007 ein kleineres folgen lassen, das aufzuzeigen versucht, wie wir auf unser Verhalten positiv Einfluss nehmen können: gewiss nicht durch «positives Denken» allein, aber durch gezielte Eingriffe in unsere Lebensweise. Titel: «Die neue Psychologie der Zeit und wie sie Ihr Leben verändern wird».

Zum Eklat führten nicht die schwarzen Nachrichten, dass es noch niemals in der Menschheitsgeschichte besser geworden ist, sondern – pünktlich zu Weihnachten – die Frohbotschaft eines anderen Monumentalwerks: Steven Pinkers «Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit» (Verlag S. Fischer). Dass sich die mittlere Lebenserwartung in den letzten 500 Jahren global mehr als verdreifacht hat, ist uns nicht neu, wir haben vom wissenschaftlich-technischen Fortschritt der Neuzeit gehört. Aber dass im selben Zeitraum in Europa die Mordraten um 90 Prozent und mehr zurückgingen? Auf 1210 Seiten führt der Psychologieprofessor aus Harvard nun aus, dass seit der Altsteinzeit auch die Gewalt von Menschenhand gegen den Nächsten im Weltmassstab kontinuierlich und ganz beträchtlich abgenommen hat. Einschliesslich der globalen Bilanz der Kriegsopfer, die sogar im 20. Jahrhundert mit seinen zwei Weltkriegen gemessen am Umfang der Weltbevölkerung geringer ausfiel als in jedem früheren Jahrhundert. Die Wahrscheinlichkeit, von Menschenhand ins Grab befördert zu werden, sank von 15 Prozent in frühestmöglichen Schätzungen auf drei Prozent zwischen 1914 und 1945 und liegt heute in der Gegend von einem Prozent.

Pinker schätzt menschliche Anlagen wie Selbstbeherrschung, Empathie, Moralgefühl, Vernunft, die alle dank Erfindungen wie dem verbrieften Recht oder dank Bewegungen wie der Aufklärung und der Ermächtigung der Frauen an Boden gewonnen haben. Wir leben in der friedfertigsten aller Zeiten bisher, schliesst Pinker aus seinen Myriaden von Zahlen. Was fangen die Medien mit einer solchen Botschaft an?

In den Medien nimmt der Raum für Gewalt nicht ab. In deutschen Blättern rümpfen Akademiker die Nase über wissenschaftliche Mängel seines Werks. Für Pinker gebe es zu wenig Hass, Verrücktheit und Grausamkeit in der Welt, giftete eine Rezensentin im «New Yorker». Keine redliche Kritikerin würde suggerieren wollen, dass dies die Botschaft seines Buches sei, setzte sich Pinker in seinem Blog zur Wehr.

An Pinkers Neujahrsbotschaft mag Diverses fraglich bleiben. Aber sie gibt uns ein Beispiel einer Betrachtungsweise, die Aufmerksamkeit verdient, nicht Schimpf und Hohn.