Joseph der Siebenmilliardste
Am 1. des Monats ist Joseph, der Nachtwächter unseres Anwesens in Nairobi, Grossvater geworden. Schon wieder steht ein Individuum am Eingang dieser Carte blanche, wie es mein Redaktor wünscht: nämlich Josephs Enkel Joseph. Zwar zeigen Hochrechnungen der Weltbevölkerung Abweichungen: der Population Fund der Vereinten Nationen an der Spitze sah die siebte Milliarde schon am letzten Samstag im Oktober vollzählig, wogegen das US-amerikanische Census Bureau damit bis März 2012 zuwarten kann.
Für mich ist Klein Joseph der siebenmilliardste Weltbewohner unserer Gegenwart; selbst wenn es davon mehrere geben sollte, den Gegenbeweis kann niemand antreten. Vorläufig kann ich nur versuchen, mit Klein Josephs Augen in seine Welt zu schauen. In unserer geheimen Zeichensprache hat er mich bereits ermächtigt, an den runden Zahlen herumzufabulieren, die mir sein Geburtstag eingibt.
1959, exakt das Geburtsjahr von Klein Josephs Grossvater Joseph, zÄhlten wir drei Milliarden, weniger als die Hälfte von heute. 1987 bereits fünf Milliarden. 1998 sechs Milliarden. Auf früheren Etappen war der Weg zu den wachsenden Zahlen noch länger gewesen: Unser Geschlecht des Homo sapiens brauchte einige 100 000 Jahre, um kurz nach 1800 die simultane Versammlung von einer Milliarde Exemplaren hervorzubringen. Und rund 120 Jahre später waren es dann zwei Milliarden. Inzwischen hat die mittlere Lebenserwartung global beinahe 70 erreicht. Mitte des 17. Jahrhunderts, als John Graunt, über den Zahlenkolonnen des eben eingeführten Sterberegisters brütend, die Bevölkerungsstatistik begründete, kamen von 100 Einwohnern Londons 75 über das 26. Altersjahr nicht hinaus.
2025 werden es gemäss den Projektionen acht Milliarden, 2043 neun, 2083 zehn Milliarden sein. Man bemerkt: Im neuen Jahrhundert ist das Zuwachstempo wieder am Abnehmen. Aber langsam. Und nicht überall. Die Versiebenfachungen der Weltbevölkerung binnen 200 Jahren hat nebenbei eine Verzehnfachung der Bevölkerung Afrikas allein in der zweiten Hälfte dieses Zeitraums eingeschlossen, von etwa 100 Millionen um 1900 auf eine runde Milliarde heute, von einem Zwanzigstel der Weltbevölkerung auf ein Siebtel, und da ist mit längeren Bremswegen zu rechnen.
Auch wenn bereits Grossvater Joseph nur noch zwei Söhne und eine Tochter hat, so gibt es doch in Afrika noch Länder wie zum Beispiel Niger, wo Männer sich im Mittel 12,6 Kinder wünschen, Frauen auch nicht weniger als 8,8 und es durchschnittlich auf 7,1 bringen.
Die enormen Ungleichheiten in der Bevölkerungsentwicklung auf dem Planeten Erde werden die Massenbewegungen der letzten Jahrzehnte verstärken und akzentuieren. Die reichen Volkswirtschaften des Nordens sind mit ihren Geburtendefiziten bekanntlich auf einen markant positiven Wanderungssaldo angewiesen, da ihre Bevölkerung andernfalls im weiteren Verlauf des Jahrhunderts rapide abnähme. Ohne Zuwanderungsüberschuss ginge zum Beispiel Deutschlands Bevölkerung bei gleich bleibender Geburtenrate, derzeit 1,4 Kinder pro Frau, von heute 82 Millionen bis 2070 auf 48 Millionen zurück.
Klein Joseph dagegen gehört zu einer kommenden Macht: Im Jahr 2050 werden 650 Millionen Europäern 1,8 Milliarden Afrikaner gegenüberstehen, und bis Ende des Jahrhunderts – Klein Joseph kann das noch erleben – werden auf jeden Europäer mehr als fünf Afrikaner kommen.
Wie stehen dann die Integrationsaussichten in den wirtschaftlich führenden Ländern? Oswald Spengler schrieb bereits im Jahre 1918 (im Buch «Der Untergang des Abendlandes»), Europa sei vergreist und übe sich ins baldige Ableben ein. Derzeit machen die an den Drähten der Finanzmärkte zappelnden Politiker diesen Eindruck.
Die Menschheit wird sichtlich älter, dies allerdings weltweit. 1950 kamen auf eine Person von 65 Jahren oder älter sechs Kinder unter 15. Im Jahre 2070 – Klein Joseph ist dann 59 – wird die Zahl der Ersteren die der Letzteren übertreffen, und auf zwei Personen über 64 Jahren oder unter 15 Jahren werden nur drei dazwischen kommen.
Werden dann auch unsere Altersgenossen von Klein Joseph ein klein wenig länger auf ihre Pension warten müssen?
Ob unsere wachsende Zahl zu unseren Stärken oder Schwächen gehört, uns mehr Reichtum oder mehr Armut bringt, ist eine alte Streitfrage. Vorläufig herrscht an beidem kein Mangel. Laut einer Schätzung von Joel E. Cohen vom Laboratory of Population der Rockefeller University hat sich von 1820 bis 2008 der wirtschaftliche Ausstoss pro Kopf der Weltbevölkerung verelffacht. Aber fast die Hälfte davon lebt heute mit zwei Dollar oder weniger pro Tag – in China 36 Prozent, in Indien 76 Prozent.
Bei 800 Millionen Menschen steht die Zahl der Mangelernährten, und über eine Milliarde leben ohne Zugang zu einwandfreiem Trinkwasser. Etwa zwei Drittel aller Frischwasserressourcen gehen in die Landwirtschaft, und in den Entwicklungsländern wird die Nachfrage nach Lebensmitteln aus wasserintensiver Produktion steigen. Ebenso, und dies massiv, der Wasserbedarf der industriellen Produktion. Verlangsamter Bevölkerungszuwachs bedeutet keine entsprechende Verlangsamung im Anstieg der Anzahl Haushalte und ebenso wenig in der Steigerung des Versorgungsbedarfs. Ein Auto für jeden Haushalt? Der Schluss liegt nahe, dass die wachsende Zahl fortan wie bisher eine Stärke der Starken und eine Schwäche der Schwachen ist. Dass es nicht nur mehr Reiche und mehr Arme, sondern mehr immer Reichere und mehr immer Ärmere geben wird. Wird die Einsicht, dass Sicherheit – auch bei uns – Entwicklung – auch anderswo – voraussetzt, an Boden gewinnen?