Wüstensohn G.

Kolumne erschienen in der «Basler Zeitung», 16.09.2011

Schon etliche Jahre sah er aus wie eine pharmazeutische Versuchsanordnung, aber die Medien schien das nicht abzuschrecken, sondern im Gegenteil recht eigentlich in Bann zu schlagen. Nun ist die Meinung gemacht: G. (oder Gaddhafi) war ein Psychopath. Man kann nicht sagen, G. habe zu wenig Aufmerksamkeit auf sich gezogen, als dass man es nicht früher hätte wissen können. G. war eben ein Medienwunder: So sehr hat G. das Augenmerk der Welt auf seine Person fokussiert, dass wir nach allem vom Land Libyen weniger wissen als von irgendeinem anderen Land. Dabei liegt es, von Europa aus gesehen, nicht am Ende der Welt, sondern recht zentral am Mittelmeer, mit der längsten Küste von allen Anrainern, sodass man es eigentlich nicht übersehen kann.

An Gelegenheiten, über sein Land mehr zu erfahren, hätte es nicht gefehlt. In der ägyptischen Hafenstadt Mersah Matruh, kurz vor der libyschen Grenze, sprachen die ägyptischen Militärs und Beamten von nichts lieber als von Libyen, zumal es da wenig anderen Gesprächsstoff gab. Wollte man Libyer selber hören, ging man auf einen Sprung nach Malta, wo die Stammgäste aus Tripolis in Valletta für Betrieb am längsten libyschen Tresen sorgen. Doch man tat das nicht die ganze Zeit. Schon ein klein wenig weiter entfernt in anderen Nachbarländern hiess es, bitte was, wovon sprechen Sie? Ach? Die Liiibyer ..., seufzte ein Kollege der Kairoer Presse.

Das war Ende der Achtzigerjahre, bevor ich sie zum erstenmal besuchen ging. Er als Journalist in Kairo, sagte er, hätte dafür keine Zeit. Wie viele sind das? Vier Millionen? So viel haben wir hier hinter dem Bahnhof in Schubra.

Inzwischen sind die Libyer ein Volk von sechs Millionen, aber fett macht das den Braten nicht. Höchstens ihr Öl – und an jenem selben Tag, als sein Anwesen von Ronald Reagan und Margaret Thatcher bombardiert wurde, empfing G. seine Geschäftspartner aus Italien und anderen hoch entwickelten Volkswirtschaften.

Nasser hatte nicht viel Zeit, G. zu feiern, nachdem er 1969 den libyschen König abgesetzt hatte und als erste Amtshandlung nach Kairo ging, dem arabischen Führer sein Land zu Füssen zu legen. Nein, beschied ihm dieser, regieren müsse er jetzt selber. Nasser lebte nur noch etwa ein Jahr und hatte andere Prioritäten. Vielleicht witterte er auch schon etwas davon, dass G. kein Muster von Berechenbarkeit war. Jedenfalls hatte G. früh schon keine andere Autorität mehr neben sich. In der arabischen Welt und in Afrika würden Amtskollegen nicht an Potentatensesseln wie dem seinem rütteln. Er bezahlte ein Viertel des Budgets der Afrikanischen Union, deren Vorsitzender er noch vor zwei Jahren war. Gewisse Länder wie etwa die Zentralafrikanische Union machte er sich mit ihren natürlichen Ressourcen auch noch vertraglich uneingeschränkt gefügig, freilich ohne die Verhältnisse da ordnen zu können (oder zu wollen).

Daheim im «Staat der Volksmassen» kultivierte er im Umgang mit den Ausländern einen Rassismus, der nur noch in saudi-arabischen Gepflogenheiten eine Konkurrenz hatte. Nicht nur dunkelhäutige Afrikaner, welche die Dreckarbeit machten, traf das. Als in einem libyschen Krankenhaus HIV-Fälle ruchbar wurden, sperrte er einige bulgarische Krankenschwestern ein. Das Niveau der libyschen Schulen war das tiefste in ganz Afrika, in dem Land mit dem höchsten Prokopfeinkommen auf dem Kontinent. Aus Todesangst, es könnte etwas davon an die falschen Ohren kommen oder gar missverstanden werden, sprachen Eltern in Gegenwart der Kinder nicht über den Führer.

Auch seinen Charme vergass er nicht zu üben. Einmal sass ich direkt neben ihm, er liess keinen Sitz zwischen uns frei, wir waren die beiden einzigen in dieser Reihe des Kleintheaters in Tripolis. Wir lauschten den Weisen des zwölfköpfigen Volksmusikensembles. Er wollte wissen, wer da spielte, und nach jedem Stück interviewte er einen seiner Musikanten. Woher kommst du? Wer sind oder waren deine Eltern? Was war das für ein Lied, das ihr soeben gespielt habt? Bist du zufrieden mit deinem Instrument? Es gibt nichts, was ich für dich tun kann? Er hatte zum Tag der Revolution drei Stunden lang – nach dem Vorbild Fidel Castros – sein Wort an die patriotischen Massen gewandt: Die Strasse nach Sabha ist in üblem Zustand. Wer von euch will sie instand setzen?

Wer akzeptieren kann, dass es noch Revolutionäre gibt, sagte Bruno Kreisky, muss halt auch den Gaddhafi akzeptieren können. Revolutionäre wollten einst Tyrannen entsorgen, die sie sich dann über Nacht als Vorbild wählten.

Aber jetzt reden wir nur von G., einem Individuum, für die Medien ein und alles. «Blick» und «Bild» kümmern sich um seine Familie. Ein Leben lässt sich erst von seinem Ende her beurteilen, hat Dürrenmatt gesagt. Einer dieser Aussprüche, die einen in langes, tiefes Nachdenken versenken können. Das niederschmetternde Inventar zu G.s Hinterlassenschaft wird einiges länger auf sich warten lassen.

Ein Libyen ohne G. wird es nach ihm und selbst nach seinem Tod noch lange Zeit nicht geben. Sein Ende war nur ein Anfang, und er wird nicht einmal das einzige Problem sein. Aus welchen Gründen sollte Libyen ab heute ein Musterland sein? Sechs Millionen Libyer, Heere gestrandeter Gastarbeiter und anderer hoffnungsvoller Afrikaner mit Reiseziel Lampedusa. Über dem Erdöl Wüste.

Auch Wasser gibt es, schwer zugänglich und teuer. Sehr viel Sonnenschein. Arbeit, so viel und was man sich davon aussinnen mag.