J. R. F. – ein Perpetuum mobile im hinteren Schanfigg

Vorbilder, aufgespürt in Arosa

Von Georg Brunold, Aroser Zeitung, 13. März 2015

Sowie ich J. erblicke, und dies noch jedes Mal, höre ich im Hinterkopf die väterlich Ermahnung: «Pass auf, sonst bleibt’s dir noch!» Hier steht einer vor mir, dem’s geblieben ist. Da braucht keiner aufzuziehen und auf den Knopf zu drücken, J. bleibt von allein auf Sendung, immerzu, immerfort. Nicht einfach irgendeine fleischgewordene Unrast, nein, hier im hinteren Schanfigg dürfen wir nichts Geringeres bestaunen als ein Perpetuum mobile, die berühmteste aller physikalischen Unmöglichkeiten, nämlich jenen Apparat, der ohne jede Energiezufuhr ewig weitermusiziert. Was tut J. bloss, wenn sein Blickfeld einmal menschenleer und die ganze Welt ganz plötzlich ausser Hörweite entschwunden ist? Bleibt J. dann übungshalber auf Sendung? An seinem Beizli «In da Brünscht», nicht wissend, dass es sich um einen unschuldigen Flurnamen handelt, pflegte ich mich auf leisen Sohlen vorbeizudrücken. Doch dem Aroser Bauern Erhard B. mochte ich als sein Begleiter nicht den Tag verderben, und so sass ich eines Tages doch an einem der Tische mitten drin in diesen Brünscht. Mir gegenüber Anneliese. Für mich noch nicht die Präsidentin von Arosas katholischer Kirchgemeinde, die der Oberstufe den Religionsunterricht erteilt. Nur J.s Ehefrau. Aber auf den ersten Blick hat sie mich, ich darf so sagen, in den Senkel geklöpft. Ein wenig fühlte ich mich wie neu getauft.

Seit jenem Tag grüsse ich J. immer freundlich: «Sali Ruedi», und schalte auf Empfang. – «Nein, Oski», korrigiert J. mich streng, «Jogi heisse ich!» – «Das ist Missbrauch eines Titels, den du nicht verdienst», sage ich, und aus dem Hintergrund Anneliese: «Genau das sage ich schon lange.» Doch J. nächstes Mal, unbeirrt wie zuvor: «Also woher er das bloss hat mit diesem Ruedi!» Jürg Rudolf Frauchiger heisse er, hat er mir höchstpersönlich anvertraut. Kunststück, bei seinen Mengen kann er unmöglich alles, was er in Äther schickt, auch selber mitbekommen.

Was gibt es derweil Schöneres, als über Menschen unverhofft dazu oder sogar umzulernen! Viel schöner noch, wenn’s zu ihren Gunsten ist, als das Gegenteil. Worin J. R. F. ein Vorbild ist und wem allem, ist keine Frage, die mit einem Federstrich erledigt wäre. Er kann aus wenigem viel machen, sagt Anneliese . Und unter Arosas Beizern tut er sich nicht durch Futterneid hervor. Sein Beispiel des Frohsinns bleibt work in progress, J. R. F.s Tagesgeschäft, in den Brünscht untermalt vom Rauschen der Plessur, über die hinweg er sich mit den Hirschen, Hasen und Füchsen unterhält. In dem «Naturpark», den er rühmt und liebt, steht er in täglichem Verkehr mit ungezählten weiteren, nur ihm selbst bekannten Wesen. Und aufgepasst: Ein Löwe wie J. R. F. tankt das Element Feuer nicht bloss aus seinem Sternzeichen.

Ein Vorbild ganz gewiss ist nicht nur das Beizli, sondern ebenso das vereinte Brünscht-Team, zu dem nebst ihm und Anneliese auch Gerti Fischer gehört. Auf diesen Engel, die Nachbarin über dem Bahngleis, können sie zählen, wenn zwischen den oftmals vierzig Gästen drinnen und vierzig draussen das Fondue unter freiem Winterhimmel aufgetragen wird und J. F. R. daneben Klein und Gross ins Bügeleisen-Curling einführt. Vom Andrang bei der berühmten Brünscht-Metzgete zu schweigen.

Wer ist ein echter Gastgeber? Anneliese und J. R. F., die sich aus gegebenem Anlass nicht gemeinsam, sondern nacheinander zu mir setzen, brauchen sich in diesem Punkt nicht abzusprechen: Gastgeber ist einer, für den jeder Gast gleich viel zählt, bei dem auf jeden gleichermassen eingegangen wird. In da Brünscht ist das eine hohe Schule, denn bei ihrem einzigartigen Standort kommt daran keine Menschenseele vorbei, die sich länger als fünf Tage im Dorf aufhält.

Beide hat ein weiter Weg hierher geführt, J. R. F. von Kindsbeinen an durch hundert Beizen, von denen er viele flottgemacht und pünktlich, wenn’s am schönsten war, anderen überlassen hat. Trott ist das Ende, sagt er. Clown hätte er auch werden können, und unter Arosas Entertainern behauptet er seit 25 Jahren seinen speziellen Platz. Anneliese blickte auf dreissig Jahre als Lehrerin an einer Sonderschule in Wallisellen zurück, als sie sich vor drei Jahren im Tal niederliess, um es im Vollamt mit Arosas Gästen aufzunehmen.

In da Brünscht nun wollen sie bleiben. Wer wollte sich nicht mit ihnen vollends glücklich schätzen? Mit Gelassenheit dürfen sie dem König Kunde ins Auge blicken, und der sucht den Wirt aus, nicht umgekehrt. Oder was meinst du dazu, Jogi, als mindestens halbheiliger Mann? «Entweihen ist ein leichtes Geschäft», fällt mir ein feinsinniger Italiener ein, «deshalb sollte es uns abstossen.» Ein gastronomischer Zehnkämpfer wie J. R. F. wurde nicht in unserem Tal ausgesetzt, damit wir ihm täglich seine Künstlermähne trimmen, nur weil er in seiner grossen Hilfsbereitschaft alle Welt hinter den Ohren krault. Für mein Teil erkenne ich zudem ohne Illusionen, dass hier, «In da Brünscht», jeder Dompteur, der nicht Anneliese heisst, auf verlorenem Posten stünde. Vor der Tür erklärte J. einmal einer Gruppe unverzagter Gäste, ich sei ein Psychologe. «Hör mal, sagte ich zu ihm, wäre ich Psychologe, hätte ich spätestens nach meiner zweiten Begegnung mit dir den Beruf gewechselt.» Und hätte J. dafür gedankt!